Call for Papers

2017-04-22
HannahArendt.net

Bd. 9, Nr. 1 (2018)


(German / English)

 

Pluralität / Plurality

Call for Papers

Hannah Arendt schrieb ihr erstes großes Buch unter dem Eindruck, dass mit dem Totalitarismus und dem Zweiten Weltkrieg eine geschichtliche Tradition an ihr Ende gekommen war. Die Kontinuität der abendländischen Geschichte, so befand sie, sei „wirklich durchbrochen“, der Traditionsbruch „eine vollendete Tatsache“. 1975 in ihrer Rede zur Zweihundert-Jahr-Feier der amerikanischen Revolution sprach sie mit Blick auf den Vietnamkrieg und die Watergate-Affäre von der Gefahr, dass „wir an einem jener entscheidenden Wendepunkte der Geschichte stehen, welcher ganze Epochen voneinander trennt“.

Angesichts der sich überschlagenden Ereignisse der letzten Jahre – den Kriegen im Nahen Osten, der Bedrohung der Menschenrechte, dem Anstieg populistischer und nationalistischer Bewegungen und der drohenden Auflösung der Europäische Union – zieht sich durch viele aktuelle Diskussionen und Kommentare die Befürchtung, dass wiederum etwas an ein Ende gekommen ist: die Nachkriegsordnung,  wie sie insbesondere in den Verträgen zur europäischen Union und der Verankerung der Menschenrechte in den internationalen Beziehungen zum Ausdruck kommt.

In ihrer politischen Theorie hat Arendt eine spezifische Antwort auf die selbst erfahrenen Brüche versucht. Sie gelangte zu der Einsicht, dass in der Tradition abendländischen politischen Denkens seit Plato die Tatsache der Pluralität des Menschseins „nebenher“ behandelt worden sei. Pluralität wurde für sie zum Schlüsselbegriff – in den Worten Margaret Canovans (Hannah Arendt: A Reinterpretation, 1992, S. 281): „In the course of her own response to the experiences of her time, Arendt augmented the world by one word: the word plurality.“ Oder, Arendt selbst aus dem nachgelassenen The Life of the Mind zitierend, „Plurality is the law of the earth“.

Mit unserer nächsten Nummer wollen wir an diese theoretische Leistung Arendts erinnern und sie in die aktuellen Diskussionen einbringen und in ihren vielfältigen Dimensionen neu befragen, indem wir Beiträge zu folgenden Themenbereichen anregen:

̶         Totalitarismus - Populismus.

Die gegenwärtigen populistischen Bewegungen führen vor, wie schwierig es ist, eine durch Ängste und Ressentiments eingeschworene Gemeinschaft für eine Diskussion alternativer Meinungen zu öffnen. Hannah Arendt hat in ihrem Totalitarismusbuch am Beispiel totalitärer Bewegungen eindrücklich gezeigt, wie der Mechanismus von Vereinheitlichung nach innen und Abschottung nach außen funktioniert. In den gegenwärtigen Diskussionen materialisiert sich diese Erkenntnis, wobei die Meinungen zu der Frage, ob die populistischen Bewegungen im Arendtschen Sinne als totalitär einzustufen sind, durchaus kontrovers sind. Ähnlich vielfältig sind die Auffassungen, ob die Demokratie als Institution der Gleichheit der Verschiedenen als kritischer Gegenpol zur fundamentalistischen Homogenisierung gelten kann. Hier ist mit Arendt zu betonen, dass die „westlichen“ Gesellschaften nicht in einer reinen Demokratie leben, sondern in einer Republik mit starken demokratischen Elementen, den demokratischen Wahlen und der Möglichkeit zu Volksentscheiden. Erst in dieser politischen Konstellation von Republik-Demokratie kann nach Arendt Pluralität garantiert werden.

Ohne Pluralität bildet sich kein politischer Raum und keine gemeinsame Welt zwischen den Menschen, aber Pluralität lässt sich nicht eins zu eins in politisches Recht umsetzen. Wie HA in ihren Schriften bereits analysiert hat, bleibt Pluralität auch in Demokratien bedroht durch gesellschaftliche Ungleichheit, Bürokratismus, durch die Lüge im öffentlichen Raum und  - wie der französische Soziologe Didier Eribon in seinem 2016 erschienenen Buch „Rückkehr nach Reims“ beschrieb -, durch die Vertreibung unterer Schichten aus dem politischen Diskurs.   Die soziale Frage ist auch bei Arendt ein strittiger Punkt. Eine genauere Aufarbeitung der genannten Themenbereiche sowie der von Arendt häufig kritisch reflektieren Situation der „Randständigen“ und Flüchtlinge wäre daher wünschenswert. 

-        Weltbürger, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit

Der Kosmopolitismus der Menschenrechte schien nach dem Ende des Kalten Krieges und nach der Einrichtung eines internationalen Gerichtshofs in Den Haag eine reale Chance zu sein,  die Basis für die internationale Anerkennung der Menschenrechte zu erweitern und zu sichern. Arendts Forderung nach einem international abgesicherten Recht, Rechte zu haben, wurde weltweit als inspirierende politische Anregung aufgenommen.  Doch wie kommt es, dass in der Frage der Menschenrechte die große Politik zunehmend als machtlos erscheint und nur die Zivilgesellschaft sich als handlungsfähig erweist? Ist das politische Prinzip der „checks and balances“ in seinen heutigen Formen nicht differenziert genug, um Handlungsfähigkeit der verschiedenen Ebenen der großen Politik zu garantieren? Kann der Begriff Pluralität helfen, dieses Prinzip kritisch zu hinterfragen und  zu „reformieren“?

-       Mythos Geschichte

In den Essays, die Arendt 1953-54 schrieb und die als grundlegende Selbstverständigung über zentrale Begriffe des politischen Denkens zu verstehen sind, hat sie sich auch mit dem neuzeitlichen Geschichtsbegriff auseinandergesetzt: „Der gemeinsame Nenner des modernen Natur- und Geschichtsbegriffs ist der Prozess“, dessen Allgemeingültigkeit jedes Ereignis und Handeln unterworfen ist und diese zu bloßen Funktionen degradiert. Dieses Prozessdenken, das  „alles und alle zu Exponenten erniedrigt“ und das sich „ein Monopol“ auf  Sinn, Bedeutung und Wahrheit aneignet, spielt in allen nationalistischen, populistischen und totalitären Massenbewegungen, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen, eine maßgebende Rolle. Es tritt an die Stelle des gemeinsamen politischen Handelns der Vielen. Individuelles Verantwortungs- und Urteilsvermögen wird ersetzt durch Administration, durch die Unterwerfung  unter die Stimmigkeit des Geschichtsprozesses, der vollstreckt werden soll. So abstrus und willkürlich die Geschichtskonstruktionen auch sind, ihre Wirkung bleibt davon unberührt. Ein aktuelles Beispiel sind die von Stephen Bannon aufgestellten Geschichtskonstruktionen, auf die Norbert Frei in einem Artikel in der SZ vom 4./5. März 2017 hingewiesen hat.

Arendts Darstellung und Kritik bezieht sich insbesondere auf die zerstörerischen Auswirkungen derartiger Geschichtsmythen auf alles, was die Konstituierung politischen Handelns ermöglichen kann: die subjektive Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und zu handeln, und die Nähe und Distanz im Anderen zu erkennen und anzuerkennen. Die Zerstörung von Wirklichkeit durch Lügen und „fake news“ könnte in diesem Zusammenhang ebenso thematisiert werden wie die Bedrohung des öffentlichen Diskurses und des für Arendt so entscheidenden Zusammenspiels von Meinungen und Tatsachenwahrheit.

Hierher gehört auch die grundlegende Bedrohung durch die Erosion von Wirklichkeits- und Wahrheitsauffassungen im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung. Angesichts dieser in den letzten Jahrzehnten immer manifester werdenden Gefahren, halten wir es für sinnvoll, die politischen Schriften von HA. über Lüge, Macht und Gewalt erneut zu diskutieren und  nach ihrer Bedeutung für die Gegenwart zu befragen.

Darüber hinaus sind Beiträge willkommen, die Arendts Vorstellungen zur Pluralität im einzelnen herausarbeiten und kritisch untersuchen:

̶           Zum Beispiel das, was sie unter „repräsentativem Denken“ versteht. Das repräsentative Denken oder die erweiterte Denkungsart ist ein Konzept, zu dem sich Arendt in ihren veröffentlichten Werken nur vereinzelt geäußert hat. Erst im Denktagebuch und in den Kant-Texten des Nachlasses wird die Frage des re-präsentativen Denkens ausführlicher erörtert. Obwohl Arendt schon sehr früh, d.h. in dem Text „Understanding and Politics“ (1953), am Beispiel von Kants Einbildungskraft das erweiterte Denken anspricht, hat sie ein ganzes Leben gebraucht, bis sie sich wieder diesem Thema zuwandte. Es sollte Gegenstand des dritten Bandes von The Life of the Mind sein.

̶         Oder ihre Gedanken zu Sokrates als dem Vertreter einer verlorengegangenen (verborgenen?) Tradition. Seit der frühen Vorlesung über „Philosophy and Politics“ (Notre Dame, 1954) bis zum späten Werk The Life of the Mind hat sich Arendt mit Sokrates befasst und sein Denken und Leben als Ursprung einer Traditionslinie politischen Denkens bestimmt, bei der die Pluralität im Vordergrund steht.

Die Nummer soll im Frühjahr 2018 erscheinen, die Manuskripte sind bis spätestens 1.10.2017 einzureichen. Einzelheiten zur Beitragseinreichung bitten wir, unserer Webssite (-> „Über uns“) zu entnehmen.

 

Pluralität / Plurality

Call for Papers

When Hannah Arendt wrote her first great book, she was under the impression that totalitarian rule and World War II had brought a historical tradition to an end. She claimed that the continuity of occidental history was “broken” and that this “break in our tradition is now an accomplished fact.” With reference to the Vietnam War and the Watergate affair in her Bicentennial Address in 1975, she declared: “We may very well stand at one of those decisive turning points of history which separate whole eras from each other.”

   In view of the escalating events of recent years—the wars in the Middle East, the threat to human rights, the advance of populist and nationalist movements, and the menacing collapse of the European Union—fears and misgivings are pronounced in current discussions and commentaries suspecting that yet again something may have come to an end: post-war order, as evidenced in the treaties of the European Union and the embodiment of human rights in international relations.

   Arendt attempted in her political theory to find a specific answer to the discontinuities she experienced in her lifetime. She realized that the tradition of Western political thought since Plato had merely treated the notion of human plurality in passing. For her, on the other hand, plurality became the key concept. As Margaret Canovan wrote: “In the course of her own response to the experiences of her time, Arendt augmented the world by one word: the word plurality.” (Hannah Arendt: A Reinterpretation, 1992, p. 281) Or, quoting Arendt from her posthumously published The Life of the Mind: “Plurality is the law of the earth.”

   With our coming issue, we intend to call to mind Arendt’s theoretical achievement, to introduce it to current debates and to turn anew to its many dimensions by suggesting contributions on the following realms:

Totalitarianism—Populism

            Current populist movements indicate the difficulty of opening a committed community of people, harassed by fear and resentment, to discussions on alternative opinions. Taking totalitarian movements as an example in her book on totalitarianism, Arendt demonstrates convincingly how mechanisms of adapting to the inside and dissociating from the outside world work. Current comments confirm this insight, notwithstanding the diverse if not contentious responses to the question of whether populist movements are totalitarian or not. Argumentative diversity is also a characteristic feature of debates on whether democracy as an institution for the equality of different people can be seen as a critical pole against tendencies of fundamental homogenization. In this context it should be emphasized with Arendt that “Western” societies do not live in pure democracies but rather in republics with strong democratic features, i.e., democratic elections and the possibility of popular referenda. Only in the constellation of republic-democracies can, according to Arendt, plurality be guaranteed. Without plurality, a political space cannot develop, nor can a common world between men emerge. Plurality, however, can never be fully transformed into political law. As Arendt analysed in her writings, plurality remains threatened in democracies by social inequality, by bureaucratization, by public lying and—as French sociologist Didier Eribon in his Returning to Reims from 2013 points out—by the expulsion of lower social strata from political discourse. In Arendt, too, the social question is a point at issue. It seems desirable therefore to take a closer look at the subject areas just mentioned and the situation both of the marginalized and of refugees—situations on which Arendt often reflected.

Cosmopolitans, human rights, social justice

            After the end of the Cold War and the erection of the International Criminal Court in Den Haag, the cosmopolitan nature of human rights seemed promising in terms of extending and ensuring the basis of their international recognition. Arendt’s demand for the internationally guaranteed right to have rights was acknowledged globally as an inspiring political suggestion. But how is it possible that big politics appears to be increasingly powerless when human rights are at stake and civil society alone shows itself capable of acting? Can it be that the political principle of checks and balances is not sufficiently refined in its present state to guarantee the capacity for action of big politics and its various levels? Does the concept of plurality provide an appropriate tool to scrutinize and “reform” this political principle?

The myth of history

            In the essays she wrote in 1953 and 1954, which reveal her self-understanding of the basic tenets of political thought, Arendt also tackled the modern concept of history: “The main denominator of the modern concept of nature and history is process” as a universal principle to which all events and actions are subjected, lowering them to mere functions. Such process-based thinking, which degrades everything and everyone to “exponents” and acquires the “monopoly” of meaning and truth, plays a decisive role in nationalist, populist and totalitarian mass movements, albeit of different shades. It replaces the common political acting of the many. The individual faculty of responsibility and judgment is replaced by administration, by submission to the consistency with which the process of history is to be executed. Abstruse and arbitrary as these constructs of history are, their effect remains untouched. The constructs set up by Steve Bannon, to which Norbert Frei refers in a commentary in the Süddeutsche Zeitung (March 4-5, 2017), are a current example.

               Arendt’s criticism is primarily directed at the destructive consequences of the myths of history about everything that could constitute acting in politics: the personal willingness to take responsibility and to act as well as to perceive and recognize closeness and distance in the other. In this context, possible topicc could be the destruction of reality through lies and “fake news” or indeed the threat to public discourse and the interplay of opinions and factual truths. The general erosion of reality and truth as it appears in the age of digitalization (sorry, it’s digitization, which I learned at the Library of Congress) and globalization is likewise a topic of interest. Considering these dangers, which have gradually become more manifest in recent decades, we think it makes sense to revive the discussion of Hannah Arendt’s work on lies, power and violence, and to consult them for their implications for current discourse.

In addition, we welcome contributions that concentrate on Arendt’s views of plurality by discussing and critically acknowledging them in detail.

For example, what was Arendt’s understanding of “representative thinking”? Representative thinking–or enlarged thinking–is a concept Arendt dealt with only occasionally in her published work. In her Denktagebuch and the posthumously published Kant Lectures the question of representative thinking is addressed more extensively. Although in an early text (“Understanding and Politics,” 1954) that takes Kant’s “Einbildungskraft” as an example, Arendt mentions representative thinking, she needed her lifetime to tackle this concept. It was meant to inform the third volume of The Life of the Mind.

Or Arendt’s thoughts on Socrates as the representative of the lost (hidden?) tradition. Beginning with her lecture on “Philosophy and Politics” (Notre Dame, 1954) and up to her late work The Life of the Mind, Arendt concerned herself with Socrates. She defined his thinking and his way of life as the origin of the line of political thought that focuses on the concept of plurality.

The coming issue is scheduled to appear in spring 2018. Papers should be submitted by October 1, 2017. Please check our website (à “Über uns”) for details of “Beitragseinreichung (paper submission).”