Call for Papers, HannahArendt.net 15/2025
In der für unsere Zeit kennzeichnenden gesellschaftlichen Spaltungen ist es mit Hannah Arendt gesprochen entscheidend, sich mit individueller Urteilsfähigkeit einzubringen, Spielräume für geteilte Perspektiven in politische Aushandlungsprozesse auszuloten. Nach Arendt besteht die Herausforderung des politischen Denkens darin, „seine Einbildungskraft im Wandern zu üben“, nämlich in der intersubjektiven Verknüpfung von verschiedenen Ansichten, die gemeinsam (mit-)geteilte Perspektiven auf menschliches Handeln und politische Ereignisse verbindlich machen können, ohne die Möglichkeit der individuellen Beurteilung dadurch zu untergraben. Eine von menschlicher Partikularität ausgehende politische Theorie kann nach Arendt die allgemeine Geltung von Normen nur auf der Grundlage von kritischer Auseinandersetzung begründen, die disparate Standpunkte integrieren muss. Das Integrationsprinzip kann demnach nicht von einem neutralen, der Welt ausgelagerten Punkt aus bestimmt werden und Autorität beanspruchen.
Die Möglichkeit einer solchen individuell begründeten und dennoch universell gültigen Freiheit entwickelt Arendt von Kants Konzept des sensus communis bzw. Gemeinsinns als leitende Idee der ästhetisch-reflektierenden Urteilskraft. Während nach Kant die bestimmende Urteilskraft auf ein Allgemeines (den Begriff) zurückgreift, um Gegebenheiten zu kategorisieren, sucht die reflektierende Urteilskraft umgekehrt allgemeine Hinsichten innerhalb der Gegebenheiten. Dadurch konzipiert Kant eine Allgemeinheit ohne Begriff und er appelliert an einen Konsens durch „Einstimmung“, „Beistimmung“ oder „Ansinnen“. Hannah Arendt sieht damit in der reflektierenden Urteilskraft eine Instanz zwangloser Übereinkunft und individueller Freiheit, die nicht moralisch oder institutionell voreingenommen ist, sondern aus dem Akt der Urteilsbildung selbst resultiert. In diesem Sinne begründet Arendt über den Gemeinsinn und die Beistimmung den für ihr politisches Denken grundlegenden Intersubjektivismus. Da Freiheit bei Arendt wesentlich darauf beruht, dass Menschen in Freiheit sind, d.h. dass sie nicht allein als Zuschauende, sondern zugleich als frei Handelnde an der Welt teilhaben, muss geklärt werden, wie eine Übereinstimmung beider Standpunkte möglich ist und begründet werden kann.
Welche erkenntnis- und handlungsanleitende Funktion hat der Gemeinsinn? Ist seine Geltungsproblematik durch die exemplarische Gültigkeit gelöst? Wie genau muss man sich die Aushandlungsprozesse bei einem intersubjektiven, konsensorientierten „Ansinnen“ vorstellen und welche Beispiele lassen sich darunter fassen? Inwiefern könnte der Gemeinsinn nach Kant und Arendt helfen, Gräben und Spaltungen in den Blick zu nehmen und zu überwinden? Wie lassen sich die ästhetisch-reflektierende Urteilskraft und der Gemeinsinn für die heutige politische Theoriebildung fruchtbar machen?
Bitte senden Sie einen Abstract mit max. 500 Wörtern bis zum 15. Dezember 2024 an martin.baesler@philosophie.uni-freiburg.de. Für den Fall einer Zusage senden Sie Ihren Beitrag im Umfang von 15 bis maximal 20 Seiten (1,5 Zeilenabstand, Schriftgröße 12, Times New Roman, Blocksatz) bitte für das Peer-Review-Verfahren bis zum 01. Juli 2025.
Arendt and Kant: Sensus communis, Reflective Judgment and Political Theory
Given the social divisions that characterise our time, Hannah Arendt argues that engaging with individual judgment and exploring the scope for shared perspectives within political discourses is crucial. According to Arendt, the challenge of political thought is to train one’s ‚imagination to go visiting’, i.e. the intersubjective linking of different views that make common perspectives on human action and political events binding without undermining the possibility of individual judgments. According to Arendt, a political theory that takes human particularity as its starting point can only justify the universality of norms on the grounds of a critical engagement that integrates different points of view. Therefore, the principle of integration cannot be determining and claim authority from a neutral point beyond this world.
Arendt develops the possibility of such an individually justified and universally valid freedom from Kant's concept of sensus communis or common sense as the guiding principle of (aesthetically) reflective judgment. While Kant's determinative judgment resorts to a general rule (a concept) in order to categorise facts, the reflective judgment conversely searches for general aspects within the given. Thus, Kant comprehends a generality without a concept and he appeals to a consensus through ‚Ansinnen‘ or ‚Einstimmung‘ (attunement). Hannah Arendt thus sees reflective judging as an instance of non-coercive consent and individual freedom that is not morally or institutionally biased but results from the act of judging itself. In this sense, Arendt uses sensus communis and non-coercive consent to establish the intersubjectivism that underlies her political thinking. Since freedom for Arendt is essentially based on the fact that people are free beings, i.e., they participate in the world not only as spectators but also as free actors, it must be clarified how a consensus between the two points of view is possible and justifiable.
What is the function of sensus communis in guiding cognition and action? Does exemplary validity solve the problem of its validity? How exactly should one imagine the negotiation processes in an intersubjective and consensus-orientated ‘approach’, and which examples can be included? To what extent can common sense help recognise and overcome rifts and divisions, according to Kant and Arendt? How can aesthetic-reflective judgement and common sense be made productive for today's political theorising?
Please send an abstract of max. 500 words to martin.baesler@philosophie.uni-freiburg.de by 15 December 2024. If you are accepted, please send your contribution of 15 to a maximum of 20 pages (1.5 line spacing, font size 12, Times New Roman, justified) for the peer review process by 1 July 2025.