Ausgabe 1, Band 1 – Februar 2005
„A propos deutsche Schriftsteller ...“
Zwischenbericht eines Dissertationsprojekts zur Wirkung von Person und Werk Hannah Arendts auf das literarisch-intellektuelle Feld der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren
Thomas Wild
Was hat Hannah Arendt mit der deutschsprachigen Literatur seit den sechziger Jahren zu tun? Bekanntermaßen hat Arendt selbst, trotz einiger dichterischer Versuche im Stillen, keine literarischen Texte publiziert. Dennoch stellten Literatur und Literaten für sie zeitlebens einen Anziehungspunkt dar. Die Verbindungen, die bekannt sind, führen entweder zu deutschsprachigen Autoren der Zwischenkriegszeit wie Walter Benjamin, Hermann Broch oder Robert Gilbert oder zu englischsprachigen Schriftstellern wie W. H. Auden, Randall Jarrell oder Mary McCarthy. Doch die deutschsprachige Nachkriegsliteratur seit den sechziger Jahren? 1933 hat Hannah Arendt Deutschland verlassen, seit 1941 lebte sie im Exil in New York – ist unter dieser Voraussetzung eine wesentliche Verbindung zu oder gar Wirkung auf neuere deutsche Literatur denkbar? Einige Momentaufnahmen:
Hannah Arendts Verbindungen führen nicht nur zu Autoren, sondern auch zu institutionellen Akteuren des Literaturbetriebs jener Zeit: zu Verlagen (neben dem Piper- z.B. auch der Wagenbach- oder der Suhrkamp-Verlag), Zeitschriften (z.B. Merkur), Medien (z.B. Spiegel, FAZ), Kulturinstitutionen (Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, P.E.N.-Club) sowie zur Literaturwissenschaft (z.B. Benno v. Wiese). Mit anderen Worten: Die Bedingungen für Wirkung bzw. Einfluss auf das literarisch-intellektuelle Feld der Bundesrepublik der sechziger und siebziger Jahre sind – über die persönlichen Verbindungen hinaus – auf unterschiedlichen Ebenen gegeben.
Die wissenschaftliche Forschung hat diese Tatsachen bisher nicht oder nur bruchstückhaft zur Kenntnis genommen. Es gilt ein Stück Neuland zu betreten. Publizierte Quellen sind unter neuen Gesichtspunkten zu lesen. Vor allem aber gilt es bislang nicht publizierte Quellen aus Archiven aufzuarbeiten. Die verstreuten Materialien zusammenzutragen, zu systematisieren, beschreibend zusammenzuführen und so der Forschung zugänglich zu machen, stellt eine zentrale Aufgabe meines Vorhabens dar. Über Zeitzeugengespräche soll zudem neues Material erhoben und bislang verborgene Rezeptions- und Erinnerungsspuren sollen dokumentiert werden. Es geht also einerseits um die Rekonstruktion einer historischen Konstellation, andererseits und zugleich darum, das Zustandekommen dieser Konstellation(en) zu erklären.
Als Zwischenergebnis meiner Arbeit läßt sich die vorläufige These formulieren: Hannah Arendt ist eine Orientierungsfigur für potentiell alle Schriftsteller (und andere Akteure des literarisch-intellektuellen Feldes), die sich mit dem Selbstbild Deutschlands vor dem spezifischen Hintergrund von Nationalsozialismus und Holocaust auseinandersetzen. Die Qualität der Liste von Autoren und Akteuren, bei denen Einflüsse dokumentarisch bzw. durch persönliche Verbindungen verbürgt sind, spricht für eine maßgebliche, nicht marginale Wirkung Hannah Arendts auf das literarische Feld. Dass Arendt auf weitere Autoren und über ihren Tod hinaus wirkt(e), gilt es dabei im Blick zu behalten; Heinar Kipphardts Dokumentarstück Bruder Eichmann (1983) oder Elfriede Jelinek Drama Totenauberg (1992) wären zwei Beispiele dafür. Der Schwerpunkt meiner Untersuchung liegt dennoch auf dem Zeitraum zwischen 1960 und 1975.
Dankbar bin ich für Hinweise aller Art auf Verbindungen Hannah Arendts zu den genannten Bereichen des literarisch intellektuellen Feldes, zu Materialquellen, Zeitzeugen, Nachlässen etc. Besonders interessieren würden mich dabei Hinweise auf eine mögliche Rolle Hannah Arendts als Vermittlerin deutscher Literatur in die USA (bspw. über die Freundschaft zum Verlegerehepaar Helen und Kurt Wolff oder über die Mitgliedschaft im Executive Board des amerikanischen P.E.N. im Jahr 1973). Ferner wäre ich dankbar für Hinweise auf mögliche Wirkungspfade Hannah Arendts auf das (nicht-offizielle) literarische Feld der DDR; im Gegensatz zu anderen staatssozialistischen Ländern stellt sich hier bisher der Befund einer Nicht-Rezeption ein.
Anmerkungen
1 Helen Wolff an Hannah Arendt am 19. Mai 1964. Arendt-Papers, Library of Congress, Washington D.C. (USA)/ Hannah Arendt-Archiv Universität Oldenburg, Container 28, Mappe 4.
2 Vgl. etwa die Episode um Arendts Begegnung mit dem italienischen Romancier Alberto Moravia, die Hannah Arendt in einem Brief an Heinrich Blücher vom 5. Mai 1955 schildert. In: Hannah Arendt – Heinrich Blücher. Briefe 1936-1968, hg. und mit einer Einführung von Lotte Köhler, München (1996) 1999; S. 376.
3 Hannah Arendt – Karl Jaspers. Briefwechsel 1929-1969, hg. von Lotte Köhler und Hans Saner, München 1993, S. 632.
4 Uwe Johnson: „Mir bleibt nur, ihr zu danken!“ Zum Tod von Hannah Arendt, in: Porträts und Erinnerungen, hg. von Eberhard Fahlke, Frankfurt/ M. 1988, S. 74f.
5 Rolf Hochhuth an Hannah Arendt, 27. November 1967. Arendt-Papers, Library of Congress, Washington D.C. (USA)/ Hannah Arendt-Archiv Universität Oldenburg, Container 10/ Mappe 11.
6 Hans Magnus Enzensberger: Dieses geniale Buch steht bis heute griffbereit im Regal, in: Hannah Arendt. Mut zum Politischen!, du. Zeitschrift für Kultur, Heft 710, Oktober 2000, S. 53.
7 Hannah Arendt an Klaus Piper am 17. September 1962. Arendt-Papers, Library of Congress, Washington D.C. (USA)/ Hannah Arendt-Archiv Universität Oldenburg, Container 31/ Mappe 1.
8 Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/ M. 1974, S. 123.
9 Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, Vortrag vor dem Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Wiesbaden 1959, abgedruckt in: Ders: „Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse“. Ein philosophisches Lesebuch, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/ M. 1997, S. 31 – 47, hier: S. 43.
10 Zitiert nach Otto Kallscheuer 1993: Der verweigerte Dialog. Hannah Arendt und die europäischen Intellektuellen, in: Die Zukunft des Politischen. Ausblicke auf Hannah Arendt, hg. von Peter Kemper, Frankfurt/ M. 1993, S. 143 – 179, hier S. 150f.
11 Hannah Arendt: „Was bleibt? Es bleibt die Muttersprache“, in: Gaus, Günter: Zur Person: Porträts in Frage und Antwort, Bde. 1-2, München 1964, Bd. 1, S. 13 – 23, hier: S. 14.
12 Hannah Arendt: Verstehen und Politik, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. von Ursula Ludz, München 1994, S. 110.