Ausgabe 1, Band 1 – Februar 2005
Treffen sich Akteur und Zuschauer?
Zur Rolle des Richters in Hannah Arendts Urteilstheorie
Stefanie Rosenmüller
PhD Thesis „Der Ort des Rechts bei Hannah Arendt und die Besonderheit des Bundesverfassungsrichterlichen Urteilens“ or “Locating Justice - the Rulings of the German Federal Constitutional Court against the background of Hannah Arendt’s theory of judgment”
Einleitung
Stellt sich dann heraus, dass mit der Inanspruchnahme von Arendts Urteilstheorie für das juristische Urteilen systematische Probleme der beiden Urteilsmodelle bei Arendt behoben werden können, ist auch sachlich etwas gewonnen.
Also werde ich drei Lesarten vorstellen, mit dem Ziel, das Akteurs- und Zuschauerurteil zu harmonisieren und im juristischen Urteil zu verbinden.
Zunächst möchte ich (in 1.) Dianna Taylors Kontrastierung von Arendts Denken und dem „legal reasoning“ als dem Urteilen der Richter im Eichmann-Prozess vorstellen, weil dort der Richter bei Arendt zum ersten Mal, und zwar mit defizientem richterlichen Urteilen, vorkommt.
Allerdings entspricht das Akteursurteil, wenn es identisch mit dem bestimmenden Urteil sein soll, nicht ohne weiteres Arendts Beschreibung des politischen Akteurs. Außerdem begrenzt Bilsky die reflektierende Urteilskraft auf den Fall des neuen Verbrechens, ohne dass klar wird, wie entschieden wird, dass er vorliegt; denn das kann die bestimmende Urteilskraft alleine nicht leisten.
I.
Damit sei das Denken bei Arendt beschrieben als Voraussetzung für das Urteilen, und zwar für ein Urteilen ohne Subsumtion, ohne Verwendung von Prinzipien, ohne Verwendung von Regeln, nur „aus Erfahrung“ und durch Gewichtung: „evaluate, not accept“ führe zum Urteilen. Das aber sei etwas grundsätzlich anderes als „to hang down a legal sentence“, also einen Urteilsspruch zu fällen. Soweit Taylor.
II.
Nach dieser Textstelle würde man die Figur des Richters mit dem Zuschauerurteil identifizieren.
III.
Damit handelt es sich nämlich bei der Fragestellung: Was soll ich tun? als Frage nach menschlichem Handeln anscheinend um eine Art Verwechslung dieser Hinsichten, und Arendts Kritik an der zweiten Kantischen Frage klingt so, als habe Kant einige Facetten der Menschen als „Erdenbewohner“ mit denen der „vernünftigen Wesen“ verwechselt.
Was hat das mit legal reasoning zu tun?
IV.
Weil also das Besondere als Besonderes im Fall des neuen Verbrechen nicht durch Regelauslegung zu beurteilen ist, muss hier mit der reflektierenden Urteilskraft ohne Regel geurteilt werden.
Wäre nach diesem Modell ein Zusammenhang der beiden Urteilsansätze von Akteurs- und Zuschauerurteil herzustellen?
V.
Nun möchte ich einen Vorschlag machen, wie die drei Urteilstypen zu harmonisieren wären und wieso der Richter dabei eine Rolle spielen soll. Die These lautet, dass Arendt der Meinung war, dass es kein „reines“ bestimmendes Urteil gibt und dass deshalb der rechtspositivistische Richter eine Art „falscher Zuschauer“ i. S. v. falscher Reflexion darstellt.
Wie aber können die beiden Urteilstypen aneinander angeschlossen werden?
Ulla Holm hat in einem Vortrag der IAPh in Göteborg auf die zwei verschiedenen Begriffe von common sense hingewiesen, die sich durch Arendts Werk ziehen. Einmal wird der common sense mit „gesundem Menschenverstand“ gleichgesetzt und fungiert als (hermeneutischer) „starting point“.
„Experience won’t serve as a guide any more to practical affairs. The world has become to complicated. (Experience says that none of the worlds we can predict for the year 2000 will work, yet we know that one of them will have to work if there is going to be a world.) It‘s only common sense. So, in a way, common sense is what we aspire to, not what we start off with.“
Mit diesem Befund möchte ich jetzt die These aufstellen, dass sich beide Urteilstypen auf den common sense beziehen, allerdings in verschiedener Weise. Das subsumierende Urteil des Richters ist mit seinen in Form von impliziten Rechtsparadigmen notwendig enthaltenen „politischen“ Anteilen rückbezogen auf den common sense als hermeneutischem Ausgangspunkt und eingeübter Rechtsprechungspraxis. Insofern verstehe ich in Anlehnung an Arendts Urteilsmodell das richterliche Urteil als Mischung aus kantisch bestimmendem Urteil und aristotelischem Akteursurteil.
Bei diesem bestimmenden Urteil ist der common sense als „gesunder Menschenverstand“ zunächst noch nicht normativ qualifiziert und steht in der Nähe der doxa, des Ausgangspunktes für ein Urteilen. Ich nenne ihn deshalb den faktischen Menschenverstand. Bei Arendt, so meine These, ist aber der gesunde Menschenverstand nicht nur als hermeneutischer Ausgangspunkt und neutral verwendet, sondern qualifiziert das Urteil. Im reflektierenden Urteil wird der faktische Menschenverstand überprüft und zwar, in dem er mit dem common sense in einem qualifizierten Sinn überprüft wird: Ist der faktische common sense tatsächlich ein Gemeinsinn oder nur ein Klischee?
Fazit
Es ergibt sich für das Verhältnis von Akteurs- und Zuschauerurteil, dass sie der Anforderung sowohl des rechtsstaatlichen Normalfalls als auch des Krisenfalls entsprechen müssen. Dabei stellt sich heraus, dass das reflektierende Urteilen eine doppelte Aufgabe leisten muss: es soll erstens die Ausnahme, den Unrechtsstaat, überhaupt erkennen können und steht insofern außerhalb der doxa, des allgemeinen, möglicherweise gesunden Menschenverstandes.
Das kann es nur, wenn man sich klar macht, dass Arendt auch das Akteursurteil auf den Gemeinsinn bezieht, auch wenn sie das Kriterium des Gemeinsinns erst in der Kant-Interpretation im Zuschauerurteil entwickelt und vorher nur von „erweiterter Denkungsart“ spricht. Beim Akteursurteil beschreibt sie den Bezug der Einbildungskraft auf den gesunden Menschenverstand, der als phronesis in der Moderne unterging. Deshalb verstehe ich den „gesunden Menschenverstand“ als „faktischen Gemeinsinn“, der ins Verhältnis zum idealen, oder normativen Gemeinsinn gesetzt werden kann.
Anmerkungen
1 Vgl. Arendt, Hannah: Verstehen und Politik (1953), und Kultur und Politik (1958), in: diess.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, Piper München 20002, S. 110 - S. 127 und S. 277 - S. 252. Im Folgenden zitiert als VuP und KuP.
2Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes, 2 Bde, Piper München, 19892. Im Folgenden zitiert als LdG. Der Text wurde erstmals 1977 postum von Mary McCarthy unter dem Titel „The Life of the Mind“ herausgegeben.„Das Urteilen“ erschien 1982 auf englisch, 1985 auf deutsch. Es wurde von Roland Beiner rekonstruiert aus drei Texten: dem „Postscriptum“ aus LdG (1977/78), den Vorlesungen „Über Kants Politische Philosophie“ (1970) und dem Seminar „Die Einbildungskraft“ (1970). Im Folgenden zitiert als U nach: Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, herausgegeben von Ronald Beiner, Piper München 1998.
3 Bernstein, Richard: Judging - the Actor and the Spectator, S. 221, in: ders.: Philosophical Profiles, Polity Press Cambridge 1986, S. 221 - S. 237.
4 U, S. 46.
5 Ich beziehe mich auf meine persönliche Mitschrift des Vortrags von Dianna Taylor: Instructive Contradictions: Hannah Arendt and the Eichmann Trial vom 18. Juni 2004 auf dem XI. Symposium of International Association of Women Philosophers in Göteborg. Der Vortrag wurde zur Zeit der Abfassung dieses Artikels noch nicht publiziert.
6 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Piper München 200111. Im Folgenden zitiert als E.
7 Bilsky, Leora Y.: When Actor and Spectator Meet in the Courtroom: Reflections on Hannah Arendt’s Concept of Judgment, S. 140, in: History and Memory 2 (1996), S. 137 - 173.
8 Vgl. U, S. 15.
9 Vgl. U, S. 76.
10Bilsky 1996, S. 151.
11 Ich beziehe mich auf meine persönliche Mitschrift des Vortrages von Ulla Holm: Common Sense - Hannah Arendt on Judgment in Dark Times vom 17. Juni 2004 auf dem XI. Symposium of International Association of Women Philosophers in Göteborg. Vgl. auf Schwedisch: Holm, Ulla: Common Sense - Att utga ifran eller strätva mot? in: Ord & Bild 2/3, 2002, S. 38 - S. 51.
12 Arendt in E, S. 373: „So gibt es in der Tat auf die anläßlich des Prozesses immer wieder erhobene erhobene Frage, was er denn nun eigentlich bezwecke, auch nur eine Antwort: Recht zu sprechen und der Gerechtigkeit Genüge zu tun“, und Arendt in E, S. 76 (gegen den Schaucharakter des Prozesses und gegen politische Vereinnahmung): “Schauprozess“ „Drama“, und in E, S. 77: “Plattform“ und „Demonstration, die Ben Gurion von vorneherein beabsichtigt hatte“, sowie: „einer Person den Prozess machen, nicht einem Ismus“ S. 21 in Arendt, Hannah: „Persönliche Verantwortung in der Diktatur“ (Vortrag von 1964/1965) in: Geisel, Eike und Bittermann, Klaus (Hgg): Arendt, Hannah: Israel, Palästina und der Antisemitismus. Aufsätze, Klaus Wagenbach Berlin, S. 7 - S. 39. Im Folgenden zitiert als PV.
13 Z.B. „inkonsequent“, E, S. 377.
14 E, S. 390: „Dem Ankläger und den Richtern erschien dieser Völkermord nur als der schrecklichste Pogrom in der jüdischen Geschichte. Daher glaubten sie, dass ein direkter Weg von dem anfänglichen Antisemitismus der Nazipartei zu den Nürnberger Gesetzen und von dort zur Austreibung der Juden aus dem Reich und, schließlich, zu den Gaskammern führte.“.
15 E, S. 390: „Politisch und rechtlich aber waren diese Verbrechen nicht nur quantitativ, sondern qualitativ verschieden.“ Vgl. auch E, S. 374 „neuartig“ und E, S. 389 „Beispiellosigkeit“.
16 Dies ist ein Zitat aus PV, S. 31.
17 Vgl. PV, S. 16.
18 Vgl. E, S. 363 f.
19 E, S. 391.
20 „nicht nur quantitativ, sondern qualitativ verschieden“, E, S. 390.
21 Bilsky 1996, S. 151 f.
22 Arendt, Hannah:Vita activa oder Vom tätigen Leben, Piper München 19816. Im Folgenden zitiert als VA.
23 E, S. 374.
24 Vgl. zum „Räsonnieren“ der praktischen Vernunft im Unterschied zur Urteilskraft: Arendt in U, S. 26.
25 Man beachte allerdings, dass das Denken bei Arendt ein Terminus ist und eine der idealtypischen Tätigkeiten des Geistes, während „legal reasoning“ noch nicht in diese Idealtypisierungen eingeordnet ist.
26 Das übersetze ich so in Anlehnung an U, S. 26:“praktische Vernunft räsonniert“.
27 Dann wird unverständlich, warum Arendt, wie Dianna Taylor sagt, optimistischer als Jaspers sein soll, wenn sie in einem Brief vom 23. Dezember 1960 proklamiert, dass uns keine anderen als rechtliche Mittel zur Verfügung stünden. Postone meint wohl deshalb, Arendt kritisiere den Eichmann-Prozess, insbesondere die Anklage, oft so, als ob das bestehende Rechtssystem und die juristischen Begriffe bereits ausreichend wären und würden nur falsch angewendet und mit dieser Verschmelzung von tatsächlich rechtlichen Normen und Arendts erweiterter Interpretation überwinde sie das rechtliche Problem nur rhetorisch. Vgl. Postone, Moishe: Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem: Die unaufgelöste Antinomie von Universalität und Besonderem“, S. 275 f., in: Smith, Gary (Hg.): Hannah Arendt revisited, Suhrkamp Frankfurt/Main 2000, S. 264 - S. 290. Arendts Stil, der eine Tendenz zum Apodiktischen hat, lässt allerdings oft verschiedene Möglichkeiten der Deutung zu, ob es sich jeweils um bloße Deskription oder Zustimmung handelt: „She had a tendency to pontificate“, S. 212, in: Marrus, Michael R.: Eichmann in Jerusalem: Justice and History, in: Aschheim, Steven E. (Hg.): Hannah Arendt in Jerusalem, California Press Berkeley, Los Angeles 2001, S. 205 - S. 213.
28 Vgl. Beiner in U, S. 115.
29 U, S. 15 zu „legein ta eonta“. Hervorhebung der Verfasserin.
30 Zur Frage, wie narrative Elemente in den Gerichtsprozess einfließen können, muss ich erneut auf L. Bilsky verweisen, deren Dissertation hoffentlich bald herausgegeben wird: Leora Y. Bilsky: The narrative turn in Legal Scholarship, J.S.D. diss., Yale Law School, 1995.
31 Kritik der Urteilskraft, B XXV f.
32 U, S. 21. Aber:„Bei Kant ist es die Vernunft mit ihren regulativen Ideen, die der Urteilskraft zu Hilfe kommt. Wenn das Vermögen der Urteilskraft jedoch von anderen Vermögen des Geistes getrennt ist, dann werden wir ihm seinen eigenen modus operandi, seine eigene Vorgehensweise zusprechen müssen.“ U, S. 15.
33 U, S. 21.
34 U, S. 32, und ebenda weiter: „So bezieht sich die Frage: Was soll ich tun? bei Kant auf das Betragen des Selbst in seiner Unabhängigkeit von anderen - auf das gleiche Selbst, das wissen möchte, was für menschliche Wesen erkennbar ist und was unerkennbar bleibt, aber doch denkbar ist.“
35 U, S. 33.
36 U, S. 33.
37 U, S. 41.
38 Vgl die „Menschengattung und ihr Fortschritt“, U, S. 40.
39 Vgl. dazu die „Menschen als moralische Wesen und Zweck an sich selbst“, U, S. 40.
40 Vgl. auch die „Menschen in der Mehrzahl“, U, S. 40.
41 U, S. 76.
42 U, S. 76.
43 U, S. 89.
44 Handeln, Herstellen und Arbeiten sind bei Arendt als drei „Grundtätigkeiten“ konzipiert (VA S. 12, S. 14), die drei so genannten Grundbedingungen des menschlichen Lebens auf der Erde entsprechen (VA, S. 14). Das Handeln untersteht der Grundbedingung der Pluralität und ist durch folgende Merkmale charakterisiert: Gerichtetheit auf Zwischenmenschliches, Unabsehbarkeit der Folgen und freier Anfang. Zum Handeln als politischer Tätigkeit in diesem sehr spezifischen und emphatischen Sinn vgl. das Fünfte Kapitel: „Das Handeln“ in VA S. 164 - S. 243.
45 Auch hier ist der Geschmack nach Arendt der Träger des Urteils, insofern er Unterscheidungen trifft und sich auf das Besondere als Besonderes bezieht. Die Einbildungskraft verändert in der Reproduktion den Gegenstand zum Vergegenwärtigten, so dass ich „nun von ihm affiziert werde, als wenn es mir von einem nichtobjektiven Sinn gegeben worden wäre“ - es ist „so zubereitet“, dass die „Operation der Reflexion“ einsetzen kann. „ Erst dann spricht man von Urteil und nicht mehr von Geschmack, weil man nun, obwohl noch wie von einer Angelegenheit des Geschmacks affiziert, mittels der Vorstellung einen angemessenen Abstand hergestellt hat (...)Indem man den Gegenstand wegräumt, hat man die Bedingungen für die Unparteilichkeit geschaffen.“ U, S. 90.
46 U, S. 91.
47 „Was sind die Maßstäbe der Operation der Reflexion?“, U, S. 92 und „Das Kriterium ist demnach die Mitteilbarkeit und der Maßstab mit dem darüber entschieden wird, ist der Gemeinsinn“, U, S. 93.
48 Arendt verweist in U, S. 95 auf B 158.
49 U, S. 95.
50 Es bleibt hierbei offen, ob es schon um Normenkohärenz oder zunächst personale Kohärenz geht.
51 Bilsky 1996, S. 143, 149.
52 „in her later writings, under the influence of Kants philosophy, she moved judgment (...) Indeed Arendt‘s report on Eichmann can illuminate the source of her later theoretical reflections on judgment“, Bilsky 1996, S. 139.
53 Vgl Bilsky 1996, S. 143.
54 Das entspräche der Verurteilung nach einem traditionellen Tötungsdelikt wie Mord und unter dem traditionellen Verständnis von Täterschaft und Teilnahme oder von Handeln auf Befehl. Arendt hielt die juristischen Begriffe in dem mit Eichmann vorliegenden Tatbestand für „ungenügend“, E, S. 61.
55 1. Beispiel: Um Verantwortung im Totalitarismus angemessen beurteilen zu können, müsse man gerade auf den Trost des bestimmenden Urteils verzichten und gerade fernab von der traditionellen Lösung beurteilen: Die Verantwortung wächst in diesem Fall mit der Distanz (vgl. Bilsky 1996, S. 144). 2. Beispiel: Um Eichmann und seine Motive weder als fanatisch antisemitisch noch als extrem rechtspositivistisch beurteilen zu können, hätte das Gericht verstehen müssen, wie Totalitarismus funktioniert, nämlich Wirklichkeit verhindernd. So hätte das Gericht Eichmanns Gewissensmangel verstehen und beurteilen können. „For this task, however, determinative judgment, which attempts to explain unfamiliar crimes by analogizing them to more familiar ones, is ill fitted.“ Bilsky 1996, S. 147.
56 Bilsky 1996, S. 151.
57 U, S. 85.
58 Bilsky 1996, S. 152.
59 “der Handelnde (...) ist per definitionem parteilich. Der Zuschauer ist per definitionem unparteilich“, U, S. 75.
60 Z.B. „those who participate and engage in action“, Bernstein 1986, S. 221. Auch Passerin D’Entrèves vertritt die These der „two distinct models“ (S. 247) bei Arendt und stellt das Akteursurteil in den Kontrast zum Zuschauerurteil als „a model of judgment (...) which could be characterized as far more political“. Er versteht es jedoch als „faculty that enables actors to decide"( S. 253), Passerin D’Entrèves, Maurizio: Arendts theory of judgment, in: Villa, Dana (Hg.): The Cambridge Companion to Hannah Arendt, Cambridge University Press, Santa Barbara 2000, S. 246 - S. 260. Ich bin insofern anderer Ansicht, als dann Handeln bei Arendt eher als Taten umsetzen und ausführen verstanden wird. Das widerspricht der Systematik der Tätigkeiten in „Vita activa“, weil es zu dicht am Herstellen liegt. Gegen diese Interpretation spricht auch Arendts Unterscheidung von Willensfreiheit und politischer Freiheit in Freiheit und Politik (1958) in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, Piper 20002, S. 201 - S. 226. Im Folgenden zitiert als FuP. Dort definiert Arendt Willensfreiheit als die Freiheit, zwischen Vorgegebenem eine Entscheidung zu treffen und grenzt sie ausdrücklich von politischer Freiheit ab (vgl. FuP, S. 205). Bernstein versteht dementsprechend das Akteursurteil eher als „debate“: „judging is itself not only the political ability par excellence but is a form of action - debate - which Arendt takes to be the essence of politics.“ Bernstein 1986, S. 231 und ders., S. 222: „debate itself is a form of action, and action (...) is not to be confused (...) with the other forms of the vita activa, labor and work.“
61 Dazu stellvertretend für viele vgl. Hermenau, Frank: Urteilskraft als politisches Vermögen, zu Klampen Lüneburg 1999, S. 68. Er lehnt es jedoch ab, aus dieser Charakterisierung des Zuschauerurteils im Spätwerk Arendts ein resignativeres Verhältnis zur Politik zu folgern. Vgl. auch Benhabib, Seila: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Rotbuch Hamburg 1998, die das Zuschauerurteil als eine in der Rückschau wirkende Fähigkeit charakterisiert (S. 275). Ähnlich: „non-participating spectators (...) judging in order to cull meaning from the past“, Passerin D’Entrèves 2000, S. 247.
62 In VuP, S. 121 verwendet Arendt den gesunden Menschenverstand als Synonym zum common sense.
63 Die Gleichsetzung des Arendtschen Akteursurteils mit der phronesis vertritt am konsequentesten Lafer, Celso: La Reconstrucción De Los Derechos Humanos, Fondo de Cultura Económica Mexico 1994. Dies kann wegen der Chronologie der Arendt-Texte systematisch plausibel gemacht werden. „Diese Lücke (zwischen Universalien und Partikularien) kann man nicht mit inadäquaten Formeln der Subsumtion füllen (...) Auch aus der aristotelischen Tradition läßt sich die Lücke nicht schließen, die die Problematik der Interaktion zwischen theoretischer und praktischer Vernunft kennt. Dies ist den schon in der Tugend genannten Aspekten der Spezifität des Bruchs geschuldet, der durch den Totalitarismus provoziert wurde. Im Ergebnis hat die Klugheit (Prudentia) als Instrument der praktischen Vernunft in dieser Tradition als Horizont die Vernünftigkeit - und die hat, neben anderen Dingen, die Funktion, ein Verhalten an die Umstände konkret anzupassen“, Lafer 1994, S. 335 (Übersetzung der Verfasserin).
64 KuP, S. 299.
65 „Diese Überlegungen führen ganz in die Nähe der griechischen phronesis und römischen prudentia als der Klugheit“, Heuer, Wolfgang in: Citizen. Persönliche Integrität und politisches Handeln. Eine Rekonstruktion des politischen Humanismus Hannah Arendts, Akad. Verlag Berlin 1992, S. 355. Vgl. auch Bernstein 1986, S. 231:“to think that judgment is similar to what was called phronesis - that form of practical reasoning which deals with the particular which Aristotle sought to discriminate from episteme and techne“.
66 Dies wäre das anhand der Systematik in Vita activa zu untersuchen.
67 „Die Urteilskraft hat mit dem Besonderen zu tun“, U, S. 14.
68 U, S. 14.
69 Hermenau 1999, S. 24.
70 VuP, S. 121. Das passt zu Arendts Unterscheidung von tyrannischer Wahrheit versus verhandelbaren Meinungen in der Politik, die sie besonders in „Wahrheit und Politik“ herausarbeitet. Siehe Arendt, Hannah: Wahrheit und Politik (1967) in: diess.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, Piper München 20002, S. 327 - S. 370. Im Folgenden zitiert als WuP.
71 So Bilsky 1996, S. 143 mit Verweis auf Kants Kritik der reinen Vernunft, A 137/ B176 - A 147/B187.
72 Vgl. Günther, Klaus: Ein normativer Begriff der Kohärenz, S. 182 in: Rechtstheorie 1989, S. 163 - S. 196.
73 „Politisch“ ist hier in einem sehr weiten Sinn gemeint. Es umfasst alle Facetten von „Geselligkeit“ und bezieht sich noch nicht auf eine Unterscheidung von politisch versus moralisch oder gar eine Gewaltenteilung von Rechtsprechung versus Gesetzgebung.
74 Vermutlich meint Bilsky auch genau das, wenn sie zusammenfassend sagt: „Having to occupy both roles, judges are trained in both determinative and reflective judgment.“ und: „(...) in reaching a decision, good judges have to play the case all over again (...) from different points of view (...). Bilsky 1996, S. 162.
75 Arendt, Hannah: Denktagebuch, 2 Bde, herausgegeben von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, Piper München 2002, Bd.2, S. 633. Im Folgenden zitiert als DTB.
76 Eichmann war nach Arendt „von Hause aus unfähig (...), einen einzigen Satz zu sagen, der kein Klischee war“ (E, S.125) und jemand, der „ein spezielles erhebendes Klischee für jeden Abschnitt seines Lebens (...) parat hatte.“ (E, S. 131).
77 „Wir werden sehen, dass diese schaurige Begabung, sich mit Klischees zu trösten, ihn auch in der Stunde seines Todes nicht verließ.“ E, S. 133. Als ein Beispiel für Eichmanns Gedankenlosigkeit nennt Arendt seine groteske Rede auf den eigenen Tod: „Es lebe Deutschland. Es lebe Argentinien. Es lebe Österreich. (...) Ich werde sie nie vergessen“ sage Eichmann - ohne daran zu denken, dass er derjenige ist, der sterben wird; vgl. E, S. 371. Arendt dazu: „als zöge Eichmann selbst das Fazit (...) von der furchtbaren Banalität des Bösen, vor der das Wort versagt und das Denken scheitert.“ E, S. 371.
78 „Common sense: Nichts ist partikularer als sinnliche Erfahrung. Ihr können wir nur trauen, wenn sich zu unseren fünf Sinnen ein sechster gesellt, der (...) uns allen gemeinsam ist: ‚common sense‘.(...) Der (...) dient dazu, die partikularen Erfahrungen der fünf Sinne so zu kontrollieren und abzustimmen, dass sich eine gemeinsame Welt ergibt, in der wir mit unseren partikularen Sinnen funktionieren können.“ Denktagebuch, S. 335.
79 „Realität seblst entsteht erst im ‚common‘. Aus diesem ‚common‘ zieht der Philosoph sich zurück.“ DTB, S. 360.
80 PV, S. 31.
81 „Die Voraussetzung für diese Art der Urteilsbildung ist keine hoch entwickelte Intelligenz oder ein äußerst differenziertes Moralverständnis, sondern schlicht die Gewohnheit, ausdrücklich mit sich selbst zusammenzuleben.“ PV, S. 34.
82 Diese Kriterien konnten hier noch nicht weiter ausgearbeitet werden. Bilsky weist auf beide Kriterien hin, wobei Natalität der Forderung, das Besondere als Besonderes zu beurteilen entspricht, (vgl. Bilsky 1996, S. 49) und Pluralität der Forderung, im reflektierenden Urteil alle Perspektiven zu berücksichtigen (vgl. Bilsky 1996, S. 154). Diese Kriterien möchte ich nicht naturrechtlich verstanden wissen, weil das mit Arendts Kritik am Menschenrechtsbegriff kollidieren würde. Auch geht es nicht um die Sphäre der Moral, weil Arendt strikt Moral und Politik unterscheidet und das moralische Urteil wie ein bestimmendes Urteil versteht. Pluralität und Natalität sind in Vita activa als Grundbedingungen entwickelt, die Handeln in Arendts emphatischem Sinn ermöglichen. Deshalb muss es sich um politische Kategorien handeln. Ob diese Unterscheidugen bloß terminologische sind oder auch sachlich zu halten sind, kann ich hier nicht ausführen und möchte auf mein Dissertationsprojekt verweisen.
83 Genauer:“Thinking without banisters“ bzw. „Denken ohne Geländer“sagt Arendt in Toronto und meint damit die Notwendigkeit eines „bodenlosen Denkens“ nach dem „Zusammenbruch der Tradition“. Vgl. Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto, November 1972, S. 109 und S. 110, in: Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, herausgegeben von Ursula Ludz, Piper München 19972, S. 71 - S. 113.
84 U, S. 101.
85 So verstehe ich Bilskys Vorschlag, mit dem Kriterium der „erweiterten Denkungsart“ der Gefahr einer exzessiven „innovativen“ Regelauslegung als richterlicher Rechtsschöpfung, die gerade für den Nationalsozialismus typisch war, mit reflektierender Urteilskraft zu begegnen. „After all, Hitler’s judges were notorious for their innovative judgments (‚natality‘ played a role in their judgments).“ Bilsky 1996, S. 154. „An importatant difference between the innovative judgments of Hitler’s judges and the type of reflective judgment that Arendt recommends depends upon this process of representative thinking.“ Bilsky 1996, S. 155.
86 Für den juristischen Richter kann eine Aufgabenverteilung z.B. zwischen bestimmend urteilenden Fachgerichten und explizit reflektierend urteilendem Bundesverfassungsgericht erst in einem weiteren Schritt erfolgen.