Ausgabe 1, Band 1 – Februar 2005
Zur Erinnerung an Heinrich Blücher
Alexander R. Bazelow
(überarbeitete Fassung eines Vortrags auf der Konferenz How and Why Do We Study Philosophy—The Legacy of Heinrich Blücher, Bard College, Annandale-on-Hudson, Samstag, den 24. Mai 2003)
Für Lotte Köhler - in großer Verehrung
Um die göttlichen Dinge zu sehen, die Sterne,
die verdeckt durch manche Ereignisse und verdreckt durch andere –
Kriege und Prozesse und Tode – gelassen funkeln …
Ihm war Athen Reise genug.
In einer Ehe ist es nicht immer einfach, die Gedanken der einzelnen Partner auseinanderzuhalten.
Vorbemerkung: Im Dezember 1970 bat mich Hannah Arendt, ihr dabei zu helfen, Tonbandabschriften von Vorlesungen ihres verstorbenen Mannes für eine spätere Veröffentlichung aufzubereiten. Meine Arbeit bestand darin, eine Textfassung herzustellen, sie mit Fußnoten zu versehen und in einem gewissen Umfang editorisch zu bearbeiten. Hierbei hatte ich nicht nur Zugang zu Blüchers Arbeitszimmer und beiden Bibliotheken, sondern auch zu Hannah Arendts Büro an der New School for Social Research. Außerdem erhielt ich Unterstützung von ihrem Sekretär Robert Bland. Hannah Arendt beabsichtigte, die von mir erarbeiteten Manuskripte selbst in eine veröffentlichungsreife Form zu bringen, nachdem sie zuvor übernommene eigene Verpflichtungen erfüllt haben würde. Bis zu Arendts Tod, also fünf Jahre, habe ich an dem Projekt gearbeitet.
Dass das Erbe eines akademischen Lehrers von einander unbekannten Studenten über einen so langen Zeitraum stillschweigend bewahrt wurde, ist, soweit ich weiß, einmalig in der Philosophiegeschichte. Außenstehenden mag solch enormer Aufwand des öfteren als Zeichen studentischer Liebe zu einem Professor erschienen sein, die über ihren Verstand ging. Da sich nun aber die Philosophie, wie man uns gelehrt hat, vor allem anderen mit dem Verstand beschäftigen soll, sei mit den folgenden Gedanken der Versuch gemacht, diese Liebe in einigen ihrer Aspekte zu verstehen.
Stolz und unabhängig, kämpferisch und ehrfurchtslos hatte Blücher ziemlich abseits des damals herrschenden intellektuellen Klimas einen eigenen philosophischen Ansatz erarbeitet. Dabei vervollkommnete er seine Methode, die Studenten als Mitarbeiter gleichrangig zu beteiligen. Das wird in den ersten Sätzen der Einleitung zu seinem Common Course deutlich:
In seinem wunderschönen Gedicht “A Living Room“ lässt Theodore Weiss einen Sprecher fragen:
„…wie macht ihr Amerikaner das?
Niemals geliebte Gedichte auswendig lernen
Für die dunklen und einsamen Zeiten! Wer sind
„Die tempelsäulen stehn
Verlassen in tagen der not … namlos aber ist
In ihnen der got, und die schale des danks
Und opfergefäss und alle heiligtümer
Begraben dem feind in verschwiegener erde.
Beim kampfspiel, wo sonst unsichtbar der heros
Geheim bei dichtern saß, die ringer schaut und lächelnd
Pries, der gepriesene, die müssigernsten kinder.
Ein unaufhörlich lieben wars und ists.“
Danksagung: Ich möchte Dekan Jeffrey Katz vom Bard College und all den Sponsoren und Teilnehmern der Konferenz How and Why Do We Study Philosophy: The Legacy of Heinrich Blücher meinen Dank aussprechen. Ich bedanke mich auch bei den Mitarbeitern des Heinrich Blücher Archive am Bard College. Ausserdem danke ich Dr. Wolfgang Heuer von der Freien Universität Berlin, Dr. Antonia Grunenberg vom Hannah Arendt-Zentrum an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg und Dr. Lotte Kohler, die verschiedene Versionen dieses Beitrages gelesen und wertvolle Vorschläge und Kommentare gemacht haben. Mein besonderer Dank gilt Ursula Ludz für ihre unschätzbare Hilfe bei zahlreichen Überarbeitungen dieses Manuskripts und ihre editorischen Mühen beim Lesen und Korrigieren der Fußnoten. Ich danke Kathrin Nussbaumer vom Bard College für ihre Hilfe beim Übersetzen. Und schließlich möchte ich mich bei meiner Nichte Cassondra für die Digitalisierung eines Großteils von Heinrich Blüchers Notizbuch bedanken, ferner für ihre exzellenten Computerkenntnisse und all die weitere Unterstützung bei meinem Unternehmen.
Ins Deutsche übersetzt von Kathrin Nussbaumer
und von Ursula Ludz bearbeitet
Anmerkungen
1 “To see the divine matters, the stars that, / foiled by some events and fouled by others — / wars and trials and deaths — serenely shine … / For him, Athens was travel enough.” Aus “Two for Heinrich Blücher”, Theodore Weiss, From Princeton One Autumn Afternoon: Collected Poems (1950 – 1986), New York: Macmillan Publishing Company, 1987, S. 157f.
2 Aus: “Rosa Luxemburg (1871 – 1919)”, in: Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, München: Piper (Serie Piper 3355) 2001, S. 43-68, S. 58.
3 Ein paar Hinweise sind den Briefwechseln Arendts mit Karl Jaspers und mit ihrem Mann zu entnehmen. Die frühesten Transkripte stammen vermutlich von Ruth Schulz, die, wie ihr Mann Julius, eine Studentin Blüchers war. Aus Briefen geht hervor, dass sie zumindest auch The Quest for God (New School for Social Research, Herbst 1951/Frühjahr 1952) und Why and How Do We Study Philosophy (New School for Social Research, Sommer 1952) transkribiert hat. Obwohl vage Anzeichen dafür sprechen, dass Blücher an den Arbeiten beteiligt war, gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass er oder sonst jemand die Manuskripte je bearbeitet hätte. Ich habe sie in seinem Arbeitszimmer als lose in roten Aktendeckeln zusammengehaltene Blätter unter anderen Nachlasspapieren gefunden, wo sie seit über achtzehn Jahren gelegen hatten. Zum Zeitpunkt von Hannah Arendts Tod bestand der Plan darin, die Arbeit an dem Material, das ich aktuell transkribierte und edierte, zu beenden, um mich dann den früheren Manuskripten zuzuwenden, Schreib- und Übertragungsfehler zu korrigieren, Fußnoten zu erstellen und sie mit dem anderen Material in Einklang zu bringen. Siehe den Brief Nr. 137 (datiert 1. November 1952) in: Hannah Arendt und Karl Jaspers, Briefwechsel 1926-1969, hrsg.von Lotte Köhler and Hans Saner, München: Piper, 1985, S. 239, und die Briefe vom 17. Mai 1952, 8. November 1952 , 30. März 1955 sowie 7. Juni 1958 in: Hannah Arendt und Heinrich Blücher, Briefe 1936-1968, hrsg. und mit einer Einführung von Lotte Köhler, München-Zürich: Piper, 1996.
4 Vgl. Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt – For Love of the World, New Haven-London: Yale University Press, 1982; deutsche Ausgabe: Hannah Arendt: Leben Werk und Zeit, aus dem Amerikanischen von Hans Günter Holl, Frankfurt am Main: Fischer, 1986, S. 591.
5 G. Gordon Liddy, damals stellvertretender Bezirksrichter von Dutchess County, New York, und später einer der Watergate-Einbrecher, war Teilnehmer an der Forumsdiskussion, die am Ulster County Community College in Stone Ridge, New York, stattfand. Er war brennend daran interessiert, seine Ansichten auf einem Forum vorzutragen, weil er seinerzeit versuchte, anstelle von Hamilton Fish Jr. von der Republikanischen Partei für den Kongress nominiert zu werden. Dieses unselige Wettrennen brachte ihm die Aufmerksamkeit von Richard Nixons Wahlkomitee ein, das weitere ist bekannt. Die Ereignisse werden von Liddy in seiner Autobiographie beschrieben, siehe Will: The Autobiography of G. Gordon Liddy, New York: St. Martin’s Press, 1980, S. 121-124.
6 Wir wissen nicht viel über Blüchers kommunistische Jahre, was wir jedoch wissen, bestätigt eine Sache. Jack Blum, ein ehemaliger Student Blüchers, wies in seinen Bemerkungen anlässlich der Konferenz How and Why Do We Study Philosophy: The Legacy of Heinrich Blücher, darauf hin, dass Blüchers Marxismus in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren ein ethisches und kein ideologisches Engagement erkennen lässt. Dafür ist seine Entscheidung in den späten zwanziger Jahren, seinem Mentor Heinrich Brandler zu folgen, als dieser eine alternative KPO (Kommunistische Partei-Opposition) zu der damals von Moskau dominierten KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) gründete, das bemerkenswerteste Zeugnis. Ein weiteres ist seine Marx-Rezeption. Während er den Ideologen und Theoretiker des Dialektischen Materialismus nicht anerkannte, stellte er Marx als wichtigen sozialen Denker und Verteidiger der Rechte des Arbeiters auf wirtschaftliche und politische Freiheit dar. Blücher war wahrscheinlich deshalb Kommunist geworden, weil die Alternative darin gelegen hätte, entweder den Status quo zu verteidigen oder sich, was noch viel undenkbarer gewesen wäre, irgendeiner Form von Faschismus anzuschließen. In einem Brief an Arendt, datiert mit Paris, 25.11.36, schreibt er, den europäischen Kommunismus zur Zeit des Faschismus mit dem seiner Jugend vergleichend: „Damals brachte man wenigstens noch neue Begriffshülsen zurück. Seitdem sich nun aber die Söhne mit der Bewaffnung durch das bloße Wort Dialektik begnügen, erobern sie mit dem Pappschwert nur noch leere Phrasen. Unsereiner sucht die Dialektik in den Dingen selbst und wird als Intellektueller verschrien, während die scholastischen Helden vom pappernen Schwert sich als Realpolitiker anpreisen. Es ist alles wie um und um gedreht in dieser Zeit der chronischen Pleiten, und man ahnt nicht, was man alles werden kann in den Augen der andern." Hannah Arendt/Heinrich Blücher, Briefe 1936-1968, Herausgegeben und mit einer Einführung von Lotte Köhler, Piper 1996, S. 62. Trotz solcher Ansichten kann man sich beim Lesen von Blüchers Briefen und seinen Eintragungen in ein Notizheft aus der Zeit nicht des Eindruckes erwehren, dass er immer noch daran glaubte, Marx’ ethische Vision könne gerettet werden. Sogar nachdem er solche Ideen in Amerika aufgegeben hatte, empfand er, wie auch Hannah Arendt, nichts als Verachtung für jene ehemaligen Kommunisten, die sich zu Reaktionären gewandelt hatten und die Verfolgung anderer wegen eines Glaubens, dem sie ein paar Jahre zuvor noch selbst anhingen, duldeten oder aktiv dazu beitrugen (siehe Brief 142 von Arendt an Karl Jaspers, Arendt/Jaspers, Briefwechsel 1926-1969, op. cit., S. 245-253, als ein Beispiel von vielen). Nichts wirft ein deutlichereres Licht auf diesen Mann, der – wie auf den Tonbändern von 1952 zu hören ist – die Hexenjagd um sich herum zu einer Zeit verurteilte, als er immer noch nicht die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß (er erhielt sie am 7. August 1952), was unter den gegebenen Umständen großen Mut erforderte (siehe etwa die ausdrückliche Verurteilung von Senator Joseph McCarthy in How and Why Do We Study Philosophy, Lecture 10, S. 68).
7 Über die studentischen Aufstände der sechziger Jahre kann man bestenfalls sagen, sie wären ein revolutionäres Ereignis gewesen. Von einer Revolution aber waren sie weit entfernt. Die Unterschiede zu dem, was in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg passiert ist, sind drastisch. Zum einen waren die Spartakisten in der Lage, sich mit rebellischen Elementen des deutschen Militärs zu verschwören, um tatsächlich ein paar Schlachten zu gewinnen. Zum anderen schafften es Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, alle kleineren linken Gruppierungen in einer einzigen Organisation, der KPD, zu vereinigen. Schließlich hatte Deutschland gerade einen bedeutenden Krieg verloren und befand sich in einem Zustand inneren Zerfalls. Ironischerweise verstärkte dieser Zerfall, im Gegensatz zur Situation in Russland, die Unterstützung der Regierung durch die Militärführer. Aufgrund der Tatsache, dass es nicht genug rebellische Elemente in der Armee gab, die die Machtbalance hätten verändern können, brachte das allgemeine Niveau des Verfalls im Land nur Schwächen in der Organisationsstruktur der Aufständischen zum Vorschein. Die Situation in den Vereinigten Staaten hätte nicht unterschiedlicher sein können. Trotz moralischer Probleme in Vietnam und intensiver Proteste gegen die Einberufungsbefehle schloss sich niemals eine bedeutende Gruppe der Streitkräfte den Demonstranten an. Außerdem schaffte es keine der führenden Gruppen unter den Kriegsgegnern, die unterschiedlichen Ziele miteinander zu vereinbaren, so dass alle aneinander vorbeiarbeiteten. Es stimmt, dass Antikriegsgruppierungen in Europa größer waren und mehr Erfolg hatten, aber selbst in Frankreich brach in dem Moment Chaos aus, als eine Demonstration beendet war und die nächsten Schritte politischer Aktion hätten eingeleitet werden sollen. In den Vereinigten Staaten konnten Demonstrationen nie einen anderen Erfolg verbuchen als den, den Ablauf des täglichen Lebens gestört, hier und da ein Universitätsgebäude besetzt oder Unruhen angezettelt zu haben, die von der Polizei schnell wieder unter Kontrolle gebracht wurden. Trotz der Tatsache, dass riesige Demonstrationen die französische Republik ins Wanken gebracht haben, ist es zwischen einer rechtmäßigen europäischen Regierung und den Demonstranten nie zu einer Übertragung politischer Macht gekommen. In den Vereinigten Staaten hingegen haben Demonstranten Lyndon Johnson, anders als in Frankreich DeGaulle, davon überzeugt, 1968 auf die Präsidentschaftskandidatur zu verzichten. Doch auch da war man weit davon entfernt gewesen, die Instrumente der Regierung an sich reißen zu können.
8 Es gab Ausnahmen, wie die Ableger von Untergrundgruppierungen in Amerika oder die verschiedenen Rote-Armee-Fraktionen in Europa, aber jeder wusste, dass dies terroristische und keine politischen Organisationen waren.
9 Blüchers Kritik an der alten wie der neuen philosophischen Linken sollte nicht mit dem primitiven Antikommunismus der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre verwechselt werden oder mit den jetzt und auch damals so häufigen Angriffen auf den Liberalismus. Mit Sicherheit würden Arendt und Blücher, wären sie noch am Leben, die im heutigen Amerika praktizierte Politik derselben intensiven Prüfung unterziehen wie die Grundfragen ihrer eigenen Tage. In allen die Politik betreffenden Dingen, von der Kommunismus- Kapitalismus-Debatte bis zu Themen der Bürgerrechte, des Krieges und des Mittleren Ostens, verfuhren Arendt und Blücher immer nach dem gleichen Schema; nämlich, grob gesagt, die Symptome eines Problems nicht zu leugnen, aber stattdessen die Diagnose und besonders die Behandlung oder das angebliche Heilverfahren der ernsthaftesten Analyse und Debatte auszusetzen. Mit schlechten Lösungen für berechtigte Probleme konnten sie nichts anfangen, und Heinrich Blüchers Ansichten über den Marxismus, den Vietnamkrieg, die studentischen Proteste und dergleichen mehr entsprachen diesem Schema ganz und gar. Anfangs hatten Arendt und Blücher großes Verständnis für die Anliegen wie das Vorgehen der Studenten. Sie unterstützten die Forderung nach Beendigung von militärisch verwendbaren Forschungen an den Universitäten. Sie machten sich darüber hinaus stark für die freie und offene Debatte – einen geistigen Austausch, der unbeeinträchtigt blieb von heimlichen Stipendien und Geldern, wovon eine Reihe von Skandalen zeugte, in die unter anderen die CIA (Central Intelligence Agency) verwickelt war. Schließlich schlossen sie sich Mary McCarthy an und wandten sich gegen den Vietnamkrieg, gaben Spenden an Antikriegsgruppierungen, unterschrieben Petitionen und unterstützten Antikriegskandidaten. Als jedoch die Studenten gegen alle traditionellen Vorlesungen, Seminare und die Notengebung mobil machten, als Kriegsgegner Gewalt als Mittel anzuwenden begannen und als die Unruhen in den Großstädten eindeutig in Straftaten und Plünderungen ausarteten, trennten sie sich von der Bewegung. Die Briefe Hannah Arendts an Mary McCarthy gegen Ende 1969 und 1970-71 zeigen deutlich Desillusionierung und Überdruss, so als hätten sie und Blücher (später sie allein) das alles schon einmal gesehen. Siehe Young-Bruehl, Hannah Arendt, op. cit., S. 562-587; und Hannah Arendt und Mary McCarthy, Im Vertrauen: Briefwechsel 1949-1975, hrsg. und mit einer Einführung von Carol Brightman, aus dem Amerikanischen von Ursula Ludz und Hans Moll, München-Zürich: Piper, 1995, S. 363-437.
10 Sogar Hannah Arendt äußerte diese Ansicht, da viele der größten Proteste als Demonstrationen gegen Universitätsgesetze und -regeln begannen: „Die Universitätskrise ist sehr real, unabhängig von den Studentenkrawallen, die sie nur sichtbar gemacht haben.” [“The crisis of the university is very real regardless of the student riots which only brought it out into the open.”] Siehe Hannah Arendts Brief an Mary McCarthy, datiert New York, 21. Dezember 1968, in: Arendt/McCarthy, Im Vertrauen, op. cit., S 342.
11 Im März 1955 beispielsweise vermittelte er in einem Konflikt über den Ausschluss eines Studenten, der in einem Studentinnenwohnheim gewohnt hatte und erwischt worden war. Einen Monat darauf brach ein Konflikt über die Länge der studentischen Evaluierungsbögen aus. Siehe die Briefe vom 20. März und 24. April 1955 in: Arendt/ Blücher, Briefe 1936-1968, op. Cit.
12 Im Dezember 1969, ein Jahr nach Blüchers letzter Vorlesung, stimmten die Studenten einstimmig für Streik. Der College-Präsident und das Kuratorium (Board of Trustees) sahen ein, dass eine Beibehaltung des Status quo nicht mehr möglich war. Mit Einverständnis des Board wurde ein Komitee, bestehend aus je drei Studenten und drei Angehörigen des Lehrkörpers, dem Dekan und einem Mitglied des Board, ins Leben gerufen, das die für das College geltenden rechtlichen Vorschriften überarbeiten sollte. Zum ersten Mal in der Geschichte bekamen Studenten eine Stimme in Bildungsangelegenheiten, die ihnen besonders am Herzen lagen. Alle nicht ernannten Mitglieder des Komitees wurden von den ihren Kollegen gewählt. Ich war einer von ihnen. Nachdem das Dokument fertig war, stimmten Studenten und Lehrkörper in getrennten Referenda dafür oder dagegen. Mehr als dreißig Jahre später stellt dieses Dokument immer noch den Kern der Gesetze für die Verwaltung des College dar. Hannah Arendts und Heinrich Blüchers Philosophie vom politischen Handeln, deren Wurzeln in den Arbeiterräten, in dem von seinen Begründern praktizierten amerikanischen Föderalismus und im ortsgebundenen politischen Engagement liegen, wird oft als nicht praktikabel kritisiert. Vielleicht brauchen wir mehr unpraktisches politisches Engagement solcher Art.
13 Gustav Janouch, Gespräche mit Kafka: Erinnerungen und Aufzeichnungen, Frankfurt am Main: Fischer, 1951, S. 71. – Die Zitate von Blücher lauten in englischer Sprache: „There is a reason for respecting those who have brought you into the world regardless of what you might think of the world” und „There are no monsters, except those set into the world by men.“ Heinrich Blücher Archive, Last Lecture, Section IV. – Der versöhnliche Ton in dieser letzten Vorlesung ist sehr bewegend. Gegen Ende 1968 sah Blücher die Krise der sechziger Jahre als Sinnkrise, nicht nur als politische Krise. Bemerkungen wie: “Ich mag den Sinn des Lebens nicht kennen ... [dennoch] habe ich durch Sie versucht, sinnvoller zu werden, als ich jemals war“ und “Wenn Sie an irgendeinem Punkt Ihres Lebens aufhören, unbeantwortbare Fragen zu stellen, dann werden Sie [bald] merken, dass Sie auch die beantwortbaren nicht mehr stellen können“ und so weiter – zeigen den Versuch des Philosophen, auf einer in die äußerste Tiefe gehenden, persönlichen Ebene Zugang zu den Jüngeren zu finden.
14 Der englische Originaltext lautet: “The task before you will not be accomplished here and cannot be taught. If you want to become free men and women, this task will remain yours for your whole life; we your teachers, will start you on this task, show it to you as more experienced collaborators, join and help you through it because we ourselves are still in it. The task is ’to major’ in life. No final degree will be bestowed upon us, though we may accumulate little degrees during our life which will consist of recognition and confirmation given freely by other human beings who are engaged in the same task. The final degree can be conferred upon us only at the moment of our death, tentatively by our survivors and perhaps finally by God.” Heinrich Blücher Archive, Introduction to the Common Course, Lecture 1, S. 1.
15 Young-Bruehl, Hannah Arendt, op. cit., S. 375-377.
16 Zeilen aus Paul Celans Gedicht “Fadensonnen” (Zyklus „Atemwende“). Das ganze Gedicht lautet: Über der grauschwarzen Ödnis. / Ein baum- /hoher Gedanke / greift sich den Lichtton: es sind / noch Lieder zu singen jenseits / der Menschen. Paul Celan-Werke: Historisch kritische Ausgabe, Frankfurt/Main: Suhrkamp, I. Abt., Bd. 7,1 (1990), S. 26.
17 Heinrich Blücher Archive, How and Why Do We Study Philosophy, Lecture 3, S. 16.
18 Ibid, Lecture 13, S. 93, 94.
19 Dieses Heft mit Notizen ist in der Stevenson Bibliothek am Bard College ausgestellt. Es finden sich darin keine Angaben über Daten der Niederschrift, aber zwei Tatsachen erlauben eine Datierung. Auf dem Einband zum handgeschriebenen Teil ist unter Blüchers Namen die Adresse 317 West 95ste Straße New York deutlich zu lesen, und das Heft stammt aus französischer Herstellung. Es ist eine Kladde, wie sie in den 1930er Jahren in den französischen Universitäten gang und gäbe war. Dies deutet darauf hin, dass das Heft wahrscheinlich während der Zeit des Exils in den dreißiger Jahren in Paris, der einzigen Zeit, in der Heinrich Blücher in Frankreich gelebt hatte, gekauft worden war. Während jener Zeit hat Blücher intensiv die marxistische Lehre überdacht. Siehe Arendt/Blücher, Briefe 1936-1968, op. cit.
20 “Wenn dort [in Deutschland, d. Verf.] die Jungen wieder etwas von der Rosa Luxemburg ahnen, dann wird ihnen dieser erste Versuch, das wirkliche praktische Mittel der politischen Kontrolle durch freie Menschen aufzuzeigen an der Angst, die alle veralteten Mächte haben, gut tun.“ So Heinrich Blücher anlässlich der Veröffentlichung von Arendts Essay über die ungarische Revolution im Piper-Verlag, Brief an Hannah Arendt, New York, 14. 7. 1958, in: Arendt/Blücher, Briefe 1936-1968, op. cit., S. 488 (Hervorhebungen vom Verf.).
21 Blücher hatte viel ernüchternd Kritisches zur neuen Linken zu sagen. Erinnert sei an die Tendenz, sich in Manifesten zu äußern, z. B. im „Port Huron Statement“ oder in der Liste „nicht verhandelbarer Forderungen“, die im April 1968 bei einem Streik an der Columbia University entstand, oder in der „Black Panther Party Charter“ undsoweiter. Laut Young-Bruehl hat auch Hannah Arendt diese Tendenz erkannt und ständig ohne viel Erfolg versucht, auf die gefährliche Verwechslung von ‘Macht’ und ‘Gewalt’ in diesen Dokumenten hinzuweisen (Young-Bruehl, Hannah Arendt, op. cit., S. 564). Blücher war klar, dass die unerbittlichen Angriffe der neuen Linken auf den Liberalismus und deren Parteinahme für ideologische Politik eine Sackgasse darstellten – in einem Land, das Intellektuelle verachtete und wo soziale Programme nur finanziert werden konnten, wenn man Bürger mit mehr als schlechten Aussichten auf sozialen Aufstieg besteuerte.
22 Siehe Lotte Köhlers „Einführung“ zu Arendt/Blücher, Briefe 1936-1968, op. cit., S. 19: „Es dürfte nicht verborgen geblieben sein, dass wir uns an dieser Stelle längst im Bereich gemeinsamen Gedankenguts von Heinrich Blücher und Hannah Arendt bewegen. Als ‚philosopher-citizens’ blieben sie ein Leben lang im häuslichen Gespräch. Er wurde ihr Lehrer und später Ratgeber in der Politik, und er war ihr kritischer philosophischer ‚Poltergeist’.“
23 Am Anfang seiner Karriere benutzte Blücher anscheinend ein Pult. Hannah Arendt, die seine Vorlesungen in den frühen fünfziger Jahren besucht hatte, beschreibt diese folgendermaßen (Brief an Kurt Blumenfeld, 1. April 1951, zitiert in Arendt/Blücher, Briefe 1936-1968, op. cit., S. 13): Er lehrte Philosophie durch Philosophieren, ohne Manuskript, „jedes Wort im Kopf, mit einer Konzentration, die die ganze Klasse ergreift.“ Man vergleiche dies mit der Beschreibung eines Heidegger-Biographen, der sich auf das Zeugnis eines Studenten aus den frühen zwanziger Jahren stützt: „Heidegger sprach mit mittellauter Stimme, ohne ein Konzept zu benutzen, und in den Strom der Rede floss ein außerordentlicher Verstand, aber noch mehr eine Willenskraft ein, die die Richtung der Rede bestimmte, besonders wenn die Thematik gefährlich wurde.“ Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland: Heidegger und seine Zeit, München. Wien: Hanser, 1994, S. 161.
24Heinrich Blücher Archive, „Fragment on Kierkegaard“. Es folgt eine gekürzte und leicht abgeänderte Version des gesamten Fragments. “Kierkegaard was the discoverer of the possibility of modern analytic psychology. He lived a neurotic life (which is not the same as saying he was a neurotic) that he created voluntarily [in order to discover certain unknown things]... He was the first (person) to be concerned with the question ’What are human motives like’ and to face the possibility [they are all] bad. The interrogator in Crime and Punishment was really invented by Kierkegaard (although Dostoyevsky did not know of him); because Kierkegaard had turned himself into an inquisitor, questioning himself (as if he were a criminal) to death. In this process of constant self-reflection he came to the action of the psychological provocateur where he tried to put people before certain artificially created situations where they would be forced to make a decision and then watched the reaction. These situations were created by deliberately false gossip. He was the first modern man to apply scientific terror.” Deutsche Übersetzung: Kierkegaard war der Entdecker der Möglichkeit moderner, analytischer Psychologie. Er lebte ein neurotisches Leben (was nicht dasselbe ist, wie zu sagen, er war ein Neurotiker), das er freiwillig erschuf [um bestimmte unbekannte Dinge zu entdecken]. ... Er war der erste, der sich mit der Frage ’Was sind die menschlichen Motive’ beschäftigte und sich der Möglichkeit stellte, dass [sie alle] schlecht sind. Der Untersuchungsrichter in [Dostojewskis Roman] Schuld und Sühne ist eigentlich eine Erfindung Kierkegaards (obwohl Dostojewski nichts von diesem wusste), weil sich Kierkegaard in einen Inquisitor verwandelt hatte, der sich selbst zu Tode fragte (als wäre er ein Verbrecher). In diesem Prozess permanenter Selbstreflexion gelangte er zum Handeln des psychologischen Provokateurs, wobei er versuchte, Leute vor bestimmte künstlich geschaffene Situationen zu stellen, die ihnen eine Entscheidung abverlangen würden, und dann ihre Reaktion beobachtete. Die Situationen wurden absichtlich durch falsche Gerüchte erzeugt. Er war der erste moderne Mensch, der wissenschaftlichen Terror angewandt hat.
25 Noch einmal aus dem „Fragment on Kierkegaard“: „Er [Kierkegaard] war der erste, der sich mit der Frage ’Was sind die menschlichen Motive’ beschäftigte und sich der Möglichkeit stellte, dass [sie alle] schlecht sind.“ Die Selbstbeobachtung und die vorgängige Überzeugung bedingen sich gegenseitig, aber die Selbstbeobachtung kann die Überzeugung schlussendlich weder läutern noch aufheben, einzig bestätigen.
26 Ich erinnere mich an ein Gespräch, nachdem sie den Film The Sorrow and the Pity des französischen Regisseurs Marcel Ophüls gesehen hatte. Dieser Film über den Zusammenbruch Frankreichs löste viele Erinnerungen bei ihr aus, und sie redete lange über ihr Leben als Flüchtling in Paris in jener finsteren Zeit.
27Mit, unter anderen, Walter Benjamin, dessen Spitzname Benji war. Arendt hatte Heinrich Blücher das Schachspielen beigebracht. „Gestern habe ich mit Benji zum ersten Male Schach gespielt und ihn in einer langen und interessanten Partie besiegt. Er war ganz Gentleman,“ meinte Blücher, worauf Arendt antwortete: „Sehr stolz bin ich, dass Du Benji besiegt hast. Spricht für meine Schule [...].“ Siehe die Briefe datiert Paris, 15.9.37, und Genf, 16.9.37, in: Arendt/Blücher, Briefe 1936-1968, op. cit., S. 82, 83.
28 Heinrich Blücher Archive, How and Why Do We Study Philosophy, Lecture 5, S. 26.
29 „Selbst nach Jahren unbedrohten Lebens in den Vereinigten Staaten fühlten sie sich keineswegs sicher. Als im Mai 1952 der Deutschlandvertrag abgeschlossen wurde, fürchtete Blücher sogleich mögliche Störungsaktionen der Russen, durch die seine Frau ‚plötzlich in der Falle’ sitzen könnte […], und Hannah beschloss, ‚unter diesen Umständen’ nicht, wie geplant, nach Berlin zu fliegen [...]. Der Rücktritt Malenkows 1955 ‚erschreckt’ Blücher, und Schlimmeres befürchtend, nennt er vorsorglich Bard als ‚Treffpunkt’ ‚in irgendwelchem Ernstfalle.’“ Zitiert aus Lotte Köhlers „Einführung“ zu Arendt/Blücher, Briefe 1936-1968, op. cit., S. 10f.
30 Blüchers Beschreibung des Lebens unter den griechischen Göttern. Heinrich Blücher Archive, How and Why Do We Study Philosophy?, Lecture 13, S. 93, 94.
31 “… how do you Americans manage? / Never to learn by heart beloved poems / For the dark and lonely times! Who are / Your companions then?” Zitiert aus “A Living Room, for Hannah Arendt and Heinrich Blücher,” Weiss, From Princeton One Autumn Afternoon, op. cit., S. 392.
32 “Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet / Der Mensch auf dieser Erde.” Siehe Heinrich Blücher Archive, Vorlesung mit dem Titel India, and the Mythic-Poetic Mind of Man, S. 1. Vgl. Martin Heidegger, “... dichterisch wohnet der Mensch ...“, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen: Neske, 1954, S. 187-204. Hölderlins Zeilen, die Blücher auf der Tonbandaufnahme auf Deutsch zitiert, stammen aus dem Gedicht „In lieblicher Bläue“, das einige der schönsten Verse Hölderlins enthält, so etwa: „In lieblicher Bläue blühet mit dem / Metallenen Dach der Kirchthurm. Den / Umschwebet Geschrei von Schwalben, den / Umgiebt die rührendste Bläue ... / Wenn einer / Unter der Glocke dann herabgeht, jene Treppen, / Ein stilles Leben ist es, weil, / Wenn abgesondert so sehr die Gestalt ist, die / Bildsamkeit herauskommt dann des Menschen, / Die Fenster, daraus die Gloken tönen, sind / Wie Thore an Schönheit ...“ Das Gedicht endet mit den Versen „Sohn Laios, armer Fremdling in Griechenland! / Leben ist Tod, und Tod ist auch ein Leben.“ Es wurde von Norbert von Hellingrath aus einem Prosatext rekonstruiert, den Wilhelm Waiblinger 1823 in seinem Roman Phäton veröffentlicht hatte. Siehe Hölderlin, Sämtliche Werke: Historisch-kritische Ausgabe, begonnen durch Norbert v. Hellingrath, etc., Berlin: Propyläen-Verlag, Band VI (1923), S. 24-27, 490-492.
33 “The eyes of man are sun-like, because art comes along and makes them sun-like … art makes no request of us except one—to be loved.” Zitiert aus der Vorlesung Sources of Creative Power, gehalten 1954 an der New School for Social Research. Siehe Heinrich Blücher Archive, “Homer, 1954” und “Description of the Lectures“.
34 Vgl. dazu Elisabeth Young-Bruehl (Hannah Arendt, op. cit., S. 590): Einige von Blüchers Freunden meinten sogar, dass er aus Gründen des Sokratischen Prinzips ein Mann des gesprochenen, und nicht des geschriebenen, Wortes gewesen wäre.
35 Vgl. dazu Elisabeth Young-Bruehl (Hannah Arendt, op. cit., S. 590): Einige von Blüchers Freunden meinten sogar, dass er aus Gründen des Sokratischen Prinzips ein Mann des gesprochenen, und nicht des geschriebenen, Wortes gewesen wäre.