Ausgabe 1, Band 1 – Februar 2005
Ernst Vollrath und Hannah Arendt (Nachruf)
Ursula Ludz
Auf den erwähnten Aufsatz in der Zeitschrift für Politik, den Vollrath mit Brief vom 14.11.1971 übersendet, reagiert Arendt mit lobenden Worten (09.12.1971): „Ihr Geschenk zu meinem Geburtstag hat mir die allergrößte Freude gemacht – nichts Vergleichbares über mich ist je zustande gekommen. Ich wünschte, ich könnte Sie hier [in New York an der Graduate Faculty der New School for Social Research] in der Nähe haben, wenigstens für einige Zeit, und – mit der Bitte, dies unter uns zu lassen – bemühe mich augenblicklich darum. Ob es mir gelingen wird, ist mehr als fraglich. Ich stelle mir manchmal vor, dass wir ein Seminar zusammen machen könnten und was wohl da herauskommen würde.“ „Für mich wäre es ganz wunderbar, mit Ihnen zusammen etwas machen zu können“, lautet die Antwort (19.12.1971): „Das wäre ganz herrlich.“
Hannah Arendts Denken habe, so schreibt Vollrath in einem seiner Briefe (14.11.1971), „ganz außerordentlich dazu beigetragen, dass ich mich über mich selbst verständigt habe“. Einige Monate später (16.05.1972) zeigt er sich „begeistert und hingerissen“ von ihrem neuesten Buch Crises of the Republic und schließt die rhetorische Frage an: „Ist es vermessen, wenn ich sage, dass mir beim Lesen es so vorkommt, als wären diese Gedanken in mir selbst erzeugt?“ Diese geistige Nähe, ja fast schon Symbiose vermittelt sich im wesentlichen über Kant und die Auslegung seiner Schrift Kritik der Urteilskraft. In den Briefen kündigt Vollrath ein Projekt „Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft“ an – das Buch, das 1977 erscheinen wird.
Die Verehrung und Bewunderung des jüngeren Kollegen wird Hannah Arendt geschmeichelt haben. Er war ihr als Gesprächspartner ebenso wertvoll wie als „escort“ im als nicht mehr so sicher erlebten New York (Vollraths Selbstwahrnehmung). In ihrem Spätwerk Vom Leben des Geistes, an dem sie in den letzten Jahren ihres Lebens vor allem arbeitete, oder in Briefen an Dritte findet sich allerdings kein Hinweis auf ihn. Nur ein Gespräch hielt sie in Stichwörtern in ihrem Denktagebuch (dort Heft XXVIII, 8) fest.
In diesem Sinne scheint Hannah Arendt für ihn den Boden bereitet zu haben; denn es geht ihm um eine Theorie des Politischen und seiner neuen Wahrnehmung.
Die wichtigsten Werke von Ernst Vollrath
(nach einer Vorlage, die Hanna Vollrath freundlicherweise zur
Buchveröffentlichungen
- Studien zur Kategorienlehre des Aristoteles (1969)
- Die These der Metaphysik: Zur Gestalt der Metaphysik bei Aristoteles, Kant und Hegel (1970)
- Lenin und der Staat: Zum Begriff des Politischen bei Lenin (1970)
- Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft (1977)
- Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen (1987)
- Was ist das Politische?: Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung (2003)
Aufsätze über Hannah Arendt
- 1971 – „Politik und Metaphysik: Zum politischen Denken von Hannah Arendt“, in: Zeitschrift für Politik 18 (1971), S. 205-232; Wiederabdruck in Adelbert Reif (Hrsg.), Hannah Arendt: Materialien zu ihrem Werk, Wien etc.: Europaverlag, 1979, S. 19-58.
- 1977 – „Hannah Arendt and the Method of Political Thinking”, in: Social Research 44/1 (1977), S. 170-182; dt. (erweiterte Fassung): „Hannah Arendt und die Methode des politischen Denkens”, in: Reif (Hrsg.), a.a.O., S. 59-84.
- 1979 – „Hannah Arendt über Meinung und Urteilskraft“, in: Reif (Hrsg.), a.a.O., S. 85-108.
- 1988 – „Hannah Arendt und Martin Heidegger“, in: A. Gethmann-Siefert und O. Pöggeler (Hrsg.), Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp (taschenbuch wissenschaft, 694), 1988, S. 357-372.
- 1989 – „Die Originalität des Beitrages von Hannah Arendt zur Theorie des Politischen“, in: Eveline Valtink (Hrsg.), Macht und Gewalt: Einführung in die Philosophie Hannah Arendts, Hofgeismar: Evangelische Akademie (Hofgeismarer Protokolle, 258), 1989, S. 7-23.
- 1990 – „Hannah Arendt“, in: Karl Graf Ballestrem und Henning Ottmann (Hrsg.), Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München: Oldenbourg, 1990, S. 13-32.
- 1992 – „Handeln und Urteilen: Zur Problematik von Hannah Arendts Lektüre von Kants ‚Kritik der Urteilskraft’ unter einer politischen Perspektive“, in: Filosofski Vestnik (Slowenische Akademie der Wissenschaften) 2/1992: Zur Aktualität Kants / L’Atualité de Kant / The Actuality of Kant, S. 183-203.
- 1993 – „Hannah Arendts ‚Kritik der politischen Urteilskraft’, in: Peter Kemper (Hrsg.), Die Zukunft des Politischen: Ausblicke auf Hannah Arendt, Frankfurt am Main: Fischer (Fischer Taschenbuch, 11706), 1993, S. 34-54.
- 1993 – „Fragmente der Erfahrung des Politischen“ (Rezension über Hannah Arendt, Was ist Politik?), in: Politisches Denken: Jahrbuch 1993, S. 185-188.
- 1993 – „Hannah Arendt bei den Linken“, in: Neue Politische Literatur 38, 1993, S. 361-372; im Internet abrufbar unter: Homepage „Hannah Arendt in Hannover“, Link „Zu Hannah Arendts Wirkung“.
- 1996 – „Revolution und Konstitution als republikanische Grundmotive bei Hannah Arendt“, in: Bernward Baule (Hrsg.), Hannah Arendt und die Berliner Republik: Fragen an das vereinigte Deutschland, Berlin: Aufbau, S. 130-150.
- 1996 – „Handeln und Urteilen: Zur Problematik von Hannah Arendts Lektüre von Kants ‚Kritik der Urteilskraft’ unter einer politischen Perspektive“, in: Herfried Münkler (Hrsg.), Bürgerreligion und Bürgertugend: Debatten über die vorpolitischen Grundlagen politischer Ordnung, Baden-Baden: Nomos, 1996, S. 228-249.
- 1997 – „Hannah Arendt: A German-American Jewess Views the United States and Looks back to Germany“, in: Peter Graf Kielmansegg et al. (eds.), Hannah Arendt and Leo Strauss: German Emigrés and American Political Thought after World War II, Cambridge: Cambridge University Press, 1997, S. 45-60.
- 2000 – „Hannah Arendt und Martin Heidegger – erneut betrachtet”, in: Andreas Großmann (Hrsg.), Metaphysik der praktischen Welt: Perspektiven im Anschluß an Hegel und Heidegger; Festgabe für Otto Pöggeler, Amsterdam etc.: Rodopi (Philosophie und Repräsentation, 7), 2000, S. 192-210.
- 2002 [2001] – „Vom ‚radikal Bösen’ zur ‚Banalität des Bösen’: Überlegungen zu einem Gedankengang von Hannah Arendt“, in: Festschrift zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken 2001 an Ernst Vollrath / Daniel Cohn-Bendit, veröffentlicht als Beilage zu Kommune 6/2002, S. III-IX.
1 Siehe das Literaturverzeichnis am Ende.
2 Seinen Plan, alle eigenen Arbeiten über Arendt in einem Sammelband zusammenzufassen, hat er dann aber nicht mehr verwirklichen können.
3 Im Bestand der „Hannah Arendt Papers“ der Library of Congress, Washington D.C., und, als Kopie, im Hannah Arendt-Zentrum (HAZ) der Universität Oldenburg. Die Sammlungen weichen nur in einem Fall voneinander ab, den Brief Arendts an Vollrath vom 14.09.1970 besitzt nur das HAZ.
4 Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, aus dem Amerikanischen von Hermann Vetter, 2 Bde., München: Piper, 1979, Band I: Das Denken, S. 207. -- Vgl. auch einen der folgenden Briefe an Vollrath (20.12.1970), in dem Arendt anlässlich der Rezensionen ihres Essaybandes Macht und Gewalt (1970) durch zwei namhafte Kritiker (Bondy und Kaiser), auf das Besondere ihres Ansatzes zu sprechen kommt. „Eigentlich nicht unfreundlich“ seien die Kritiken gewesen, „nur so hilflos gegenüber dieser Art zu denken.“
5 Siehe das Programm der Tagung, Hannah Arendt Papers, Library of Congress und HAZ, Container 75, Folder „Notes on Hannah Arendt Conference, Toronto, 1972“; überarbeitete deutsche Fassung: „Hannah Arendt über Meinung und Urteilskraft“, siehe im Literaturverzeichnis.
6 Siehe die Festschrift zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken 2001, veröffentlicht als Beilage zur Zeitschrift Kommune, hrsg. von der Heinrich Böll Stiftung Berlin / Bremen; zur Begründung der Preisverleihung: Antonia Grunenberg (S. XXI-XXIV); Laudatio: Brigitte Sauzay (S. XXV-XXVIII).
7 Abgedruckt in der Festschrift, S. III-IX.
8 Ernst Vollrath, Was ist das Politische? Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 216 f.
9 Mitgeteilt von Patrick Krause, „Das Schönste von der Welt: Zum Tod des Philosophen Ernst Vollrath“, in: Süddeutsche Zeitung, vom 11. Februar 2003, S. 13.