Ausgabe 1, Band 1 – Februar 2005
Handeln und Denken in Finsteren Zeiten
Hannah Arendt – Salomon Adler-Rudel, ein unbekannter Briefwechsel
Katrin T. Tenenbaum
Dieser Briefwechsel wurde zuerst unter dem Titel ‚Pensiero e azione ai tempi dell’Olocausto’ in Micromega Heft 6, Rom 2000, veröffentlicht. Wir bringen ihn hier leicht gekürzt. Die Erläuterung von Katrin T. Tenenbaum, Universität Rom, wurde von Antonia Grunenberg aus dem Italienischen übersetzt.
Die Korrespondenz zwischen Hannah Arendt und Salomon Adler-Rudel stellt ein noch unveröffentlichtes Textkorpus dar; was die Anzahl der Briefe angeht, ist es schmal, aber es ist wichtig als Quelle erster Hand, um eine bedeutende Periode in der persönlichen und der intellektuellen Entwicklung Hannah Arendts zu dokumentieren. Die Briefe gehen auf die Jahre 1941-1943 zurück und wandern zunächst zwischen Lissabon und London hin und her , danach zwischen New York und London. Es sind die ersten Briefe, die unmittelbar über Arendts Lebenssituation in einem entscheidenden Augenblick ihres Lebens Auskunft geben. In Lissabon wartet sie – zusammen mit ihrem Mann Heinrich Blücher und später auch mit ihrer Mutter Martha – auf die Überfahrt in die Vereinigten Staaten, wo sie am 22. Mai 1941 ankommt. Das erste Zeichen, das sie von amerikanischem Boden aus gibt, ist das Telegramm an Günter Stern, ihren ersten Mann, der während der komplizierten Einwanderungsprozeduren stets helfend zur Seite gestanden hatte: „Sind gerettet“. Als Arendt 1941 von Lissabon aus schreibt, hat sie den Alptraum eines zwischen der Vichy-Regierung und den deutschen Besatzern geteilten Frankreichs gerade hinter sich gelassen. Es war jenes Frankreich, das für Hunderttausende von jüdischen Flüchtlingen aus dem restlichen Europa, die dort eine sichere Zuflucht gesucht hatten, zur tödlichen Falle werden wird.
Ihr Briefpartner Salomon Adler-Rudel ist eine typische Gestalt aus dem Milieu, dem sich Arendt anschließt, als sie sich 1933, unmittelbar nachdem sie aus dem nazistischen Deutschland entkommen war, in Paris niederließ. Er ist kein akademischer Intellektueller, er ist ein Mann der Aktion, ein politisch Handelnder – Repräsentant der jüdischen Politik jener Jahre. 1894 in Czernowitz (Bukowina) geboren, wird er vom Beginn des Ersten Weltkriegs an zum Exponenten der sozialistischen Strömung in der zionistischen Bewegung. Von den zwanziger Jahren bis 1936 arbeitet er in Berlin für jüdische Hilfsorganisationen, die die aus Osteuropa geflüchteten Juden betreuen. Er setzt diese Arbeit in London fort, wohin er nach seiner Flucht aus Deutschland ins Exil geht. Auch dort steht er in der vordersten Reihe der Aktivisten, die sich für die Rettung der europäischen Juden einsetzen; in dieser Eigenschaft ist er an unzähligen Rettungsaktionen aus den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten beteiligt.
Auch Hannah Arendt beschließt in den Jahren des Exils „zum Handeln überzugehen“; sie betätigt sich praktisch in jüdischen Organisationen, die mit der immer dramatischer werdenden Lage der Flüchtlinge fertig zu werden versuchen. Sie leitet das Pariser Büro der „Jugend Alyiah“, die mit heranwachsenden Flüchtlingen arbeitet und sie beruflich auf die Emigration nach Palästina vorbereitet. Aber dann naht auch für sie sozusagen der Augenblick der Wahrheit, in dem das freundliche Frankreich ihr den äußerst modernen Status der „Rechtlosen“ auferlegt. Im Mai 1940 wird sie in Paris als „feindliche Ausländerin“ verhaftet und in das Konzentrationslager Gurs eingeliefert. Darüber schreibt sie in ihrem ersten Brief aus Lissabon am 17. Februar 1941; aus der gleichen Erfahrung heraus wird sie später schreiben, dass „die Zeitgeschichte eine neue Gattung von Menschen geschaffen hat – Menschen, die von ihren Feinden ins Konzentrationslager und von ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden.“ Ende 1940, als die deutschen Truppen in Frankreich eindringen und in dem daraufhin ausbrechenden Chaos in der französischen Verwaltung, das sich auch auf die nicht besetzte Zone erstreckt, nutzt Arendt die günstige Gelegenheit und flieht, zusammen mit wenigen anderen, aus dem Lager Gurs. In der folgenden Zeit, die sie zusammen mit ihrem Mann unter halb klandestinen Bedingungen in der Stadt Montauban, unter dem Schutz eines sozialistischen Bürgermeisters, verlebt, gelingt es ihr, die so wertvollen Dokumente zu besorgen, die es ihnen schließlich erlauben, Frankreich zu verlassen und nach Lissabon zu gehen.
Um den Wechselfällen des Arendtschen Lebens, wie auch denen aller anderen mit einem gleichen und doch unterschiedlichen Schicksal zu folgen, muss man sie in eine verworrene Geschichte hineinstellen, eine Geschichte in der Geschichte. Es handelt sich um die Geschichte von Hunderttausenden von Flüchtlingen aus dem nationalsozialistischen Deutschland und aus den von den Nationalsozialisten annektierten Gebieten, die zunächst in Frankreich eine unsichere Zuflucht gefunden hatten. Wenn Arendt und Adler-Rudel schreiben, wie sie mit dem Kopf gegen eine Mauer rennen, wissen sie genau, worüber sie reden, und müssen darüber keine großen Worte verlieren. Der Minimalismus einiger Stellen dieses Briefwechsels darf uns nicht täuschen. Für uns, die wir die Briefe lesen, handelt es sich darum, mit einem teilnehmenden, integrierenden Verstehen die Mosaiksteine einer Geschichte zusammenzufügen, die noch nicht in ihrem Gesamtzusammenhang geschrieben ist, die Geschichte des Europas der Flüchtlinge. Es geht um die Konkretheit eines tagtäglichen Kampfes, der - allzu oft in totaler Ohnmacht - mit dem Bewusstsein der Grenze geführt wird, der aber des ungeachtet beharrlich weitergeführt wird. Nehmen wir nur die Reise Adler-Rudels nach Stockholm: In den Briefen finden sich nur wenige Zeilen darüber; in Wirklichkeit handelte es sich aber – soweit das möglich war - um die Pflege intensiver Kontakte mit direkten Augenzeugen, die der Katastrophe des Ostjudentums entkommen waren – und vor allem die Hilfsaktion, die die Juden aus Dänemark nach Schweden rettete.
Es sind Briefe, die im Zeichen der Freundschaft geschrieben sind, einer Freundschaft, die manchmal spielerisch komplizenhaft und augenzwinkernd ist; im Innern jedoch stehen die Verwicklungen einer grauenhaften Tragödie. Sie vermitteln eine Stimmung, die zwischen Ironie und Verzweiflung schwankt. Arendt und Adler-Rudel gehen beide in die Konkretheit der furchtbaren Jahre hinein, all der Lebenswege, die an dünnen und unergründlichen Fäden hingen, die sie mit der Geschichte verbanden. Es ist dies nicht nur die Geschichte der großen Ereignisse, sondern vor allem die der kleinen Schwingungen und der sekundären Vorschriften, in jenen Jahren, in denen die Bürokratie, mehr als jemals zuvor, in die Haut des Schicksals geschlüpft war. Und man weiß, dass das Nachdenken über das Geflecht zwischen der Geschichte (history) und der Erzählung jedes einzelnen individuellen Lebens (story) ein bedeutsames Thema im späteren Arendtschen Werk ist. Das Thema der Geschichte und das Nicht-aus-ihr-ausgeschlossen-sein-wollen und Sein-können ist die vorrangige, grundlegende und andauernde Lehre, die Arendt in jenen Jahren zieht. Denn der Bruch von 1933 und das nachfolgende Leben als Exilantin und Flüchtling fordern sie direkt heraus, vor allem wegen eines Aspekts, der vorher, wenn nicht ignoriert, so doch nur ein ganz marginales Element in ihrer Entwicklung und in ihren Interessen gewesen war: das Judentum. Später wird Arendt in ihrem Gespräch mit Günter Gaus sagen: „Ich gelangte zu einer Erkenntnis, die ich damals immer wieder in einem Satz ausgedrückt habe, darauf besinne ich mich: ‚Wenn man als Jude angegriffen ist, muss man sich als Jude verteidigen.‘... Aber jetzt war die Zugehörigkeit zum Judentum mein eigenes Problem geworden. Und mein eigenes Problem war politisch. Rein politisch! Ich wollte in die praktische Arbeit und ich wollte ausschließlich und nur in die jüdische Arbeit.“ Mit dem Bruch von 1933 wird Arendt politisch wach; dabei ist die Politik nicht nur ihre Antwort auf die jüdische Frage, das Politische bleibt fortan ihr bevorzugter Schlüssel bei der Lektüre Erschließung des Judentums.
Auf diesem Weg sind Judentum und Politik das Politische langfristig miteinander verwoben. Und allmählich formt sich aus ihrer politischen Praxis und aus dem Nachdenken über jüdische Politik der originäre Kern des politischen Denkens von Hannah Arendt. In diesem Kontext sind ihre zwei Briefe aus New York von 1943 bedeutsam, in denen sie sich auf Arbeiten über jüdische Themen bezieht, die geschrieben bzw. publiziert werden sollen, und die dann als entsprechende Kapitel in ihrem Buch „The Origins of Totalitarianism“ erscheinen . Diese Zentrierung auf jüdische Politik, die gleichzeitig aus persönlicher Erfahrung und aus theoretischer Reflexion hervorgeht, bringt jenen Übergang vom „Menschen zum Juden" zum Ausdruck, den man emblematisch am Ursprung ihres politischen Denkens verorten kann. Denn dort sagt sie in Arendtschen Termini, dass die politische Sphäre nur dort lebendig ist, wo sie von der wirklichen menschlichen Einmaligkeit ausgeht. Nur die Differenz schafft jene Distanz, jenes räumliche „Zwischen“, das die Verbindung zwischen den pluralen Individualitäten zulässt, die die Welt konstituieren.
Wir finden also in dieser Korrespondenz nicht nur ein „in finsteren Zeiten“ entstandenes Zeugnis jenes Geschenks der Freundschaft, das so charakteristisch für die Persönlichkeit Hannah Arendts zu sein scheint, sondern wir finden in Briefform vor allem auch viele Anregungen, die dann in ihren Hauptwerken Form annehmen werden. Diese Briefe sind eine Bestätigung für eine der bleibenden Qualitäten des Arendtschen Denkens, das sich immer aus der Erfahrung entwickelt hat. In Arendts eigene Worte: „Was ist der Gegenstand unseres Denkens? Nur die Erfahrung.“
Anmerkungen