Ausgabe 1, Band 1 – Februar 2005
Aristoteles Gleiche sind bei Arendt Andere
Überlegungen zur philosophischen Anthropologie Aristoteles’ und Hannah Arendts
Monika Gisler
Arendts Bestimmung eines neuzeitlichen Politikbegriffs orientiert sich unter anderem an den theoretischen Konzepten Aristoteles’. Die politische Theoretikerin Arendt wurde oft – und zu Recht – als Aristotelikerin bezeichnet; ihre theoretischen Grundlagen sind fundamental aristotelisch. Im antiken Modell der Polis erkannte Arendt einige der wenigen Epochen der westlichen Geschichte, in welchem Politik im ursprünglichen Sinne verwirklicht worden war. Sie entwickelte daraus ein Politik-Konzept, welches seinerseits Grundlage weiterer Überlegungen bildete.
Grund genug, die Theorien Aristoteles’ und Arendts einander gegenüber zu stellen und gegeneinander abzuwägen. Im Vergleich der beiden politischen Konzepte, vor allem entlang der Frage nach dem politischen Raum und dem Menschen, der diesen konstituiert, soll gezeigt werden, wann die Aristotelikerin Arendt aristotelisch argumentiert und wann sie diesen Pfad verlässt, um eine eigene philosophische Anthropologie zu entwerfen. Denn im Aufzeigen des Verhältnisses des Menschen zum politischen Raum – so meine These – vertritt Arendt ein Verständnis der Menschen und ihrer Befähigung zum Handeln, das ihr Konzept grundlegend von demjenigen Aristoteles’ unterscheidet. Ausgehend von diesen Überlegungen kann zudem gezeigt werden, dass hierin auch ein ethisches Moment Arendts liegt.
Nach Aristoteles unterscheiden sich die menschlichen Tätigkeiten hinsichtlich ihres Ziels. Endzweck des menschlichen Lebens ist das Streben nach dem höchsten Gut und damit, als gutes Handeln, seinem Ziel inhärent. Das Ende ist das Vollendete, das Beste. Dieses Ziel ist in der Polis, als die Möglichkeit zur Verwirklichung des höchsten Guts, angelegt. Durch das Handeln als Streben nach dem vollkommenen Glück, der Eudaimonia, bestimmen sich Sinn und Zweck des Gemeinsamen als das gute Zusammenleben.
Arendt dagegen setzt die Tätigkeiten in Bezug zur Welt. Die durch Handeln und Sprechen entstandene Welt menschlicher Bezüge, die nie an ein Ende kommen kann, ist nicht durch Kraft oder Stärke Einzelner entstanden, sondern durch die Vielen im Zusammen. Da jedoch nur das Handeln in Bezug auf andere stattfindet, ist nur dieses eine politische Tätigkeit. Denn Politik fängt da an, wo die Sorge um das Leben aufhört.
Die Bestimmung der Polis schliesst demzufolge die Bestimmung des Menschen mit ein: Das Gelingen des Einzelnen kann nur im Gesamtverband verwirklicht werden. Dieses höchste Gelingen liegt in der Glückseligkeit.
Der Ort des Politischen ist bei Aristoteles somit zunächst innen angelegt: der Mensch wird teleologisch als auf die Polis hin angelegt bestimmt und als politisch bezeichnet. Der Mensch ist auf ein Ziel und auf ein Ende hin ausgerichtet. Dadurch ist er noch nicht auf andere angewiesen.
Das Anfangen-Können geht mit der einzigen Tätigkeit der Vita Activa, die sich ohne Zutun von Materie, Material und Dingen zwischen den Menschen abspielt, dem Handeln einher. Es schafft die Bedingungen für Kontinuität, für Erinnerung und damit für Geschichte. Diese Kontinuität kann nicht unterbrochen werden, denn sie ist garantiert durch die Geburt eines jeden Menschen; Handeln ist in diesem Sinn ein Neuanfangen. Dass es Momente des Neuanfanges in der neuzeitlichen Geschichte tatsächlich gegeben hat, zeigt ihre Untersuchung der frühmodernen Revolutionen, in denen sie ein Moment des Anfangs sieht:
Wie erwähnt ist der Mensch des Aristoteles’ auf die Polis hin ausgerichtet, oder anders gesagt, die Polis hat das Menschsein des Menschen zum Inhalt. Dies ist die Prämisse des Satzes „der Mensch ist ein politische Lebewesen”. Der Begriff des Menschseins lässt sich erst dann bestimmen, wenn es die Polis gibt. Diese wird als die Aktualität der menschlichen Natur begriffen. Im Gegensatz dazu ist der Mensch bei Arendt apolitisch und wird erst als handelndes Wesen im Zusammen mit anderen und in Bezug auf die Welt zum politischen Lebewesen. Sowohl Aristoteles als auch Arendt versuchen mit diesen unterschiedlichen Prämissen die Teilnahme am Staat zu begründen. Doch trotz des genuin angelegten Politischseins bei Aristoteles ist nicht jeder Mensch gleichermassen dazu befähigt, am Leben der Polis teilzunehmen. Bei der Auswahl der zur Polis Befähigten findet eine Selektion statt. Es bleiben diejenigen ausgeschlossen, die ihrer Natur gemäss zum Bereich des Lebensnotwendigen gehören (Frauen, Sklaven). Die Natur hat, Aristoteles zufolge, die einen mit mehr, die anderen mit weniger Areté – Tugend – ausgestattet. Dabei geht es vor allem um das Faktum, in bestimmte Lebensverhältnisse hineingeboren worden zu sein. Die Entscheidung, wer als Gleicher an der Polis teilhaben darf und die Fähigkeit zum Regieren besitzt, ist sowohl naturbestimmt als auch an die Vorteile der Geburt geknüpft.
Arendt spricht gleichfalls von den Gleichen und Freien als Partizipierende am politischen Raum. Menschen sind aber anders als bei Aristoteles von Natur aus apolitisch. Sie können jedoch jederzeit politisch werden, wenn sie sich dazu entscheiden. Grundsätzlich steht diese Entscheidung allen offen, da sie qua ihrer Geburt die Fähigkeit besitzen, einen Anfang setzen zu können. Der Zutritt zum politischen Raum bedingt eine Entscheidung, stattfinden kann er jederzeit. Die Gleichheit bestimmt sich im Anfangen können und nicht gemäss der Natur, auch nicht qua äusserer Güter. Die Menschen sind dann Gleiche, wenn sie gemeinsam handeln und damit einen Anfang setzen. Dies kann zu jeder Zeit geschehen und widerspricht auch nicht dem Faktum der Pluralität. Diese bestimmt sich durch die Gleichheit zur Verständigung und der gleichzeitigen Verschiedenheit durch Hervorhebung des Einzelnen, es resultiert in der Vielheit von Einzigartigen.
Noch einmal: Das Anliegen der politischen Philosophie Arendts ist die Rückgewinnung einer gemeinsamen Welt, die den Menschen Wirklichkeit verbürgt. Damit begründet sie ihren normativen Ansatz. Bei Aristoteles dagegen finden wir den Menschen als ein auf die Gemeinschaft hin angelegtes Wesen, der hier, und nur hier ein gelingendes Leben erreichen kann. Nur in der Zusammenarbeit des Einzelnen mit anderen ist die Glückseligkeit mittels Streben nach der besten Verfassung zu finden.
Diese der antiken Welt anhaftende teleologische Ausrichtung in der Bestimmung des Menschen finden wir bei Arendt nicht. Nach Arendt ist das Politische zwischen den Menschen angelegt, bestimmt durch ihr gemeinsames Sprechen und Handeln. Es ist das Verständnis des Menschen, das Arendt neu entwickelt und mit dem sie sich grundsätzlich von Aristoteles unterscheidet. Nicht das Ziel als das ausgereifte Beste, die Vollendung, interessiert Arendt, sondern die dem Menschen innewohnende Gabe des Neuanfangens.
Aristoteles unterscheidet die Politik als das gute Handeln im Kollektiv von der Ethik, die die Frage nach dem guten Leben des Einzelnen aufwirft. Eine solche Unterscheidung gibt es bei Arendt im Hinblick auf das Handeln nicht. Denn Handeln ist nur im Zusammen mit anderen möglich, um ein Zwischen zu etablieren, das zum Erscheinungsraum und damit zum öffentlichen Raum wird. Für Arendt kann es auch kein Endprodukt geben, auf welches das Handeln ausgerichtet ist. Die Tätigkeit ist vielmehr in ihrer Aktualität, als Prozess im Erscheinungsraum, ausschlaggebend. Kein Endprodukt anzustreben heisst auch, keine Interessenspolitik zu verfolgen. Hierin liegt Arendts Ansatz einer Ethik: es ist die Entscheidung zum Handeln, die das Ethische des Menschen bestimmt.
Arendt plädiert, entlang des aristotelischen Politikkonzepts, für eine Sphäre der des Lebensnotwendigen enthobenen Existenz. Die Frage nach dem guten Leben besteht nun darin, sich für eine der beiden Alternativen zu entscheiden: ein Leben im Umkreis des Notwendigen zu führen oder das genuin Nichtnotwendige, die Freiheit als Selbstzweck, zu etablieren. Ist eine Moral kategorisch bestimmt (wie etwa die utilitaristische oder die kommunitaristische) kann ein solches Aushandeln nicht stattfinden. Ein abgeschlossenes Endprodukt kann es für Arendt deshalb nicht geben. Vielmehr geht es darum, einen Erscheinungsraum zu schaffen, in dem gehandelt werden kann. Ethisches Handeln heisst also zunächst, einen politischen Raum zu kreieren. Damit ist jedoch das Verhältnis des Individuums zur Ethik noch nicht endgültig geklärt.
Der Sinn von Politik ist Freiheit - sagt Arendt, und meint damit, in Anlehnung an das antike aristotelische Modell der Polis, das positiv bestimmte Freisein von der Notwendigkeit der Lebenssicherung. Die an der Polis, am Politischen Partizipierenden sind die Freien und Gleichen, die ihr gemeinsames Handeln innerhalb der Polis verwirklichen. Damit kommt der Stabilisierung und Sicherung des politischen Raums oberste Priorität zu. Aristoteles konzentriert sich auf die institutionelle Stabilität von Verfassungen während Kriegszeiten und ihr Beitrag zur Vermeidung von Bürgerkriegen, Arendt auf die Möglichkeit der Ausdehnung totalitärer Systeme im Falle eines Verlusts politischer Räume. Im Hinblick auf die Bestimmung ihres politischen Konzepts verfährt Arendt entlang dem Aristotelischen Modell.
Aristoteles' Ethikbegriff geht vom Gedanken der Glückseligkeit als oberstem Prinzip oder Ziel aus. Erst wenn die Eudaimonia für die guten Bürger im guten Staat verwirklicht werden kann und umgekehrt der gute Staat durch das Gute zum besten Staat wird, ist das Ideal einer Staatsform erreicht. Damit verknüpft Aristoteles Ethik mit Politik, und der Begriff des Politischen kann als Partizipation an der Polis bestimmt werden. Gleichzeitig macht Aristoteles geltend, dass nicht alle gleichermassen zur Beteiligung am Staat geeignet sind. Der normative Politikbegriff Aristoteles' baut damit letztlich auf Ausschluss auf.
Fragen wir nach der Ethik, d. h. dem guten Leben und dem guten Handeln, so ergeben sich grundlegende Unterschiede zwischen Aristoteles und Arendt. Freiheit heisst für Arendt die Freiheit der Entscheidung zum politischen Handeln und zur Herstellung eines politischen Raums. Darin, dass für jeden Menschen die Freiheit besteht, sich für die Teilnahme an der Polis entscheiden zu können, ist bei Arendt ein impliziter Ansatz eines Ethikverständnisses angelegt. Diese Freiheit, die jedem Menschen qua seiner Gebürtlichkeit zukommt, bedingt allerdings die Notwendigkeit der Freiheit von der Sicherung des Lebensnotwendigen, um den Erscheinungsraum zu initiieren und den politischen Raum zu gestalten und am Leben erhalten zu können. Die ethische Entscheidung ist bereits wieder vom politischen Verständnis der Freiheit abhängig. Darin ist der normative Gehalt des Politikbegriffs Arendts zu sehen.
Da die Entscheidung zum politischen Handeln dank der Gabe des Anfangen-Könnens allen Menschen zukommt, ginge es für uns nun darum, das Politische dahingehend zu bestimmen, dass allen Menschen die politische Freiheit zur Überwindung des Lebensnotwendigen zukäme. Wie ein solcher Raum des Politischen konzipiert und erweitert werden könnte, muss Thema weiterer Überlegungen sein.
Anmerkungen
1 Hannah Arendt, Freiheit und Politik, in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. v. Ursula Ludz, München/Zürich 1994: 201-226; hier 217.
2 Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, hg. v. Ursula Ludz, München/Zürich 1989: 241.
3 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1989: 7-13.
4 Aristoteles, Politik (Bücher I-VIII), übersetzt und herausgegeben von Olof Gigon, Zürich/München 19967, hier: Politik: I 2-8.
5 Ebd.: II 11; VII 9.
6 Ebd.: VII 8.
7 Hannah Arendt, Vita activa: 169.
8Ebd.: 165.
9Ebd.: 190-193.
10 H. A., Freiheit und Politik: 210-221.
11 Ebd.: 204.
12 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München/Zürich 1986.
13 Aristoteles, Politik: VII.
14 H. A., Freiheit und Politik: 210; 225.
15 Aristoteles, Politik, I 1.
16 Ebd.: III 6.
17 Hannah Arendt, Was ist Politik?, in: dies., Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, hg. v. Ursula Ludz, München/Zürich 1993: 9-12, hier: 11.
18 Helmut Dubiel, Das nicht angetretene Erbe. Anmerkungen zu Arendts politischer Theorie, in: ders., Ungewissheit und Politik, Frankfurt/Main 1994: 29-66; hier: 61.
19 Hannah Arend, Elemente und Ursprünge: 247.
20 Ebd.: 730.
21 Hannah Arendt, Vita activa: 16.
22 Hannah Arendt, Über die Revolution, München 19944: 272.
23 Vgl. Hans Saner, Die politische Bedeutung der Natalität bei Arendt, in: Daniel Ganzfried/Sebastian Hefti (Hg.), Arendt – Nach dem Totalitarismus, Hamburg 1997: 103-119; hier: 110.
24 Hannah Arendt, Vita activa: 15.
25 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge: 730.
26 Hannah Arendt, Ziviler Ungehorsam, in: dies., Zur Zeit. Politische Essays, aktualisierte erweiterte Neuausgabe und mit einem Nachwort versehen von Marie Luise Knott, Hamburg 1999, 119-159.
27 Ebd.: 129
28 Ebd.: 126