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Ausgabe 1, Band 14 – März 2025

Thomas Meyers neue Arendt Biographie. Sinnbild der Verstrickung von Theorie und Praxis

Rezension: Thomas Meyer: Hannah Arendt. Die Biographie, München/Zürich: Piper, 528 S., 28,00 EUR.

Mit dem von Thomas Meyer verfassten Werk „Hannah Arendt. Die Biographie“ ist der Arendt-Forschung und der interessierten Öffentlichkeit eine Ressource bereitgestellt, die neue und spannende Einblicke und Einsichten in das Leben von Hannah Arendt bietet. Man bemerkt schon auf den ersten Seiten, dass sich Meyers (zum Teil literarisch anmutende) Biographie mit einer ungeheuren Menge an Archiv-Materialien auseinandergesetzt hat, die bisher wenig bis keine Beachtung in der akademischen Arbeit gefunden hat. Deren akribische Sichtung sowie anschauliche Darstellung in dem fast 500 Seiten langen Buch muss als gelungene Mammutaufgabe anerkannt werden. Dass sich Meyers Arbeit einer allgemeinen Würdigung erfreuen darf, zeigt alleine schon die Tatsache, dass sein Werk im zweiten Jahr nach der Veröffentlichung bereits in der vierten Auflage vorliegt.

Das Buch gliedert sich in elf Kapitel. In den ersten fünf Kapiteln zeichnet Meyer chronologisch Arendts Lebensgeschichte bis hin zur Veröffentlichung ihres Werks Origins of Totalitarianism nach. Die dieser linearen Biographie folgenden sollen das von Meyer gezeichnete Bild Arendts verdeutlichen, indem er ihr Leben und Schaffen entlang gewisser Aspekte erneut aufrollt. Dieses literarische Vorgehen beginnt deswegen nicht zufällig mit einer im Zentrum des Buches stehenden Abhandlung über Arendts Umgang mit Literatur, die er mit „Quellen der Erfahrung und des Verstehens“ betitelt. In den verbleibenden fünf Kapiteln widmet sich Meyer Arendt als „Medienintellektuelle und Medienprofi“ sowie ihrem Verhältnis zu ihren beiden Lehrern Heidegger und Jaspers, liefert einen kurzen Überblick über Arendts Werke und verortet ihr Denken in Bezug auf „Frauenfragen“ und auf ihre politische Positionierung. Auch wenn Meyer dieses strukturelle Vorgehen als notwendig erachtet, weil nach ihm „die Gleichzeitigkeit Hannah Arendts Arbeitsmodus“ und deswegen „die bloße Chronologie kein zuverlässiger Maßstab [ist], wenn man so etwas wie ihre Denkentwicklung beschreiben will“ (S. 400), fällt es beim Lesen teilweise schwer, den zeitlich-thematischen Sprüngen zu folgen.

Meyers scheint seine durchgehend hervorgehobene und dem Werk zugrundeliegende These im folgenden Zitat zusammenzufassen: Arendts „wissenschaftliche Fragestellungen und ihre praktische Arbeit sind nicht zu trennen“ (S. 252). Dies zu veranschaulichen, gelingt ihm insbesondere, indem er Arendts praktisch-politische Arbeit für die Jugend-Alijah, einer jüdischen Organisation zur Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher vor dem faschistischen Regime im Dritten Reich, für die sie zwischen 1934 und 1940 tätig war, im Detail rekonstruiert. Hierbei zieht er deutliche Parallelen zu ihren theoretischen Gedanken, die sie in ihrer Biographie über Rahel Varnhagen und in ihrer Analyse totalitärer Systeme in den Origins entwickelt.

Dass Meyer durch seine jahrelange Arbeit an der Herausgabe der Studienausgabe von Arendts Werken im Detail mit ihren Werken und Gedanken vertraut ist, wird durch einen weiteren Aspekt in seiner Abhandlung deutlich: die performative Umsetzung des Stils ihrer — insbesondere in der Vita activa ausformulierten — philosophischen Gedanken im Rahmen seines vorgelegten Werkes. Die Lesenden bekommen von ihm eine Art impressionistisches Bild — zusammengesetzt aus zahlreichen „Szenenwechsel[n]“ (S. 115) — der Arendtschen Bedingtheiten vorgelegt, welche wir ausgehend von The Human Condition auch als ihre Ermöglichungen auffassen müssen. Im Zuge seiner Darstellung werden durchgehend in kurzen Exkursen die Bedingungen ihres Lebens, ihre weltliche Umgebung und besonders ihre Mitwelt und deren Bezugsgewebe präsentiert, welche die Welt veranschaulichen, in der Arendt tätig gewesen ist. Ferner verdeutlicht sein Fokus auf ihre praktisch-politische Arbeit indirekt einen weiteren Aspekt von Arendts Denken: die Notwendigkeit des Rückzugs aus der Welt, um im stillen Dialog mit sich selbst der geistigen Tätigkeit des Denkens nachgehen zu können. Wie Meyer veranschaulicht, ist Arendt in den Zeiten ihrer praktischen Tätigkeiten keiner theoretischen Arbeit nachgegangen, sondern zog sich für diese stets aus dem politischen Leben zurück.

Eine editorische Kritik muss zum Ende noch geäußert werden: Um mit dem umfangreichen Werk akademisch gut arbeiten zu können, bräuchte es eine eigenständige Literaturliste. Alle zitierten Schriften müssen in den Fußnoten aufgesucht und überprüft werden, was bei einer Abhandlung dieser Länge schnell zu einer mühseligen Detektivarbeit wird. Gemeinsam mit dem Aspekt der literarisch anmutenden Sprache und Form wird der Eindruck erweckt, dass sich dieses Buch eher an die interessierte Öffentlichkeit wendet als an eine kritische Forschungsgemeinschaft.

Die Lektüre der vorgelegten Biographie hat den Eindruck hinterlassen, dass Meyer — neben dem großen öffentlichen Interesse an der Person Arendt — insbesondere zwei Dinge zum Verfassen des Werkes motiviert haben. Zum einen betrifft dies die in Archiven ausgegrabenen Briefe und Dokumente über Arendts Arbeit bei der Jugend-Alijha, mit denen er im Detail einen blinden Fleck in der Arendt-Forschung sichtbar machen konnte. Das zeigt sich deutlich an dem detaillierten ersten Teil des Buches, der in den Origins gipfelt. Auf der anderen Seite scheint Meyer im Zuge seiner langjährigen Arbeit an der Herausgabe der Studienausgabe von Arendts Werken zahlreichen Gedanken über die Person Arendt und ihr Leben, ihre Einflüsse und Vorgehensweisen nachgegangen zu sein, die er in dieser Biographie zusammentragen wollte. Einige dieser Gedanken werden im akademischen Bereich jedoch noch stark diskutiert — eine Debatte, auf die er aufgrund der Form einer an die Öffentlichkeit gerichteten Biographie nicht eingegangen ist. So wird zum Beispiel die Vita activa rein von Heidegger ausgehend rekonstruiert, was den Eindruck erweckt, dass sich Arendt in diesem zentralen Werk nur mit den Gedanken Heideggers auseinandergesetzt hätte.

Zusammenfassend kann ich die Lektüre von Meyers „Hannah Arendt. Die Biographie“ allen empfehlen, die sich mit dem tätigen und geistigen Leben der Person Arendt auseinandersetzen wollen. Diese neue Biographie kann und sollte jedoch nicht Elisabeth Young-Bruehls Standardwerk „Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit“ ersetzen, sondern eher als Ergänzung angesehen werden, die gewisse Aspekte in ihrem Leben deutlicher hervorhebt und an anderen Stellen Grundlage für eine weitere kritische Auseinandersetzung mit den Gedanken Arendts sein kann. Aus diesem Grund kann meine Rezension mit einer Kritik an dem gewählten Titel enden: Es handelt sich bei Meyers Werk nicht um „Die“, sondern um „Eine“ Biographie — eine, die sich schön liest, ausführlich und anschaulich aufgearbeitet ist und die verdeutlicht, dass Arendts Tätigkeiten und die dabei erlebten Erfahrungen eine zentrale Rolle bei der Entwicklung ihrer theoretischen Gedanken hatten. Dem Interesse an der Person und der Auseinandersetzung mit Hannah Arendt ist und wird Meyers Buch auf jeden Fall förderlich sein.

Sven Thomas

Universität Paderborn