Ausgabe 1, Band 14 – März 2025
Hanna Meretoja: Die Nacht der alten Feuer
Rezension: Hanna Meretoja: Die Nacht der alten Feuer, Berlin/Hamburg: Mare, 2024, 448 S., 26,00 EUR.
Die finnische Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaften Hanna Meretoja hat einen Schritt gewagt, von dem zwar viele im akademischen Betrieb träumen, ihn jedoch meist nicht gehen: Sie hat neben ihren unzähligen akademischen Arbeiten über den Zusammenhang von Narrativität, Storytelling und kulturellem Gedächtnis mit „Die Nacht der alten Feuer“ ein eigenes literarisches Werk veröffentlicht, dessen Übersetzung ins Deutsche seit September 2024 beim Mare Verlag vorliegt. Dass diesem Buch eine Rezension in dieser Zeitschrift gewidmet wird, liegt insbesondere an der unübersehbaren und teilweise direkt benannten Nähe zu den Theorien Hannah Arendts, die stellenweise essayistisch anmutend im Buch selbst reflektiert wird.
Meretojas Roman erzählt eine eintägige Geschichte über Elea, die mit ihrem Mann Otto Freunde auf ihr Ferienhaus in den finnischen Schären einlädt, um dort gemeinsam „Die Nacht der alten Feuer“ — das Ende des Sommers — zu feiern. Doch Elea möchte die gemeinsame Zeit mit ihren Nächsten auch dafür nutzen, um mit ihnen über ihre kurz zuvor erhaltene Brustkrebsdiagnose zu sprechen. Die Mitteilung des wohlmöglich anstehenden Todes von Elea bestimmt die Unterhaltungen und Gedanken der Freunde im Laufe des Abends. Die anwesenden Personen stellen jedoch eher die Medien der eigentlichen Hauptfiguren des Romans dar: die Geschichten und Narrative, die die Freunde zu überkommen scheinen, um der vor sie gestellten Mortalität einen Sinn zu verleihen. Das Buch ist — und beginnt mit den Worten — „Voll von Geschichten“ (S. 5), die wir uns (kollektiv) erzählen, um „die Illusion einer kausalen Erklärung“ (S. 90) unseres In-der-Welt-Seins aufrechtzuerhalten. Doch durch die vor Augen geführte Mortalität einer tödlichen Krankheit wird man sich einer „verlorenen Zukunft“ (S. 98) gewahr, die eine Krisensituation der Sinnstiftung entstehen lässt. Meretoja wagt in ihrem Buch eine De(kon)struktion geläufiger Krankheitsnarrative des Kampfes (vgl. S. 159f), der Ausgrenzung (vgl. S. 75) und eines kategorialen Unterschieds zur Gesundheit (vgl. S. 300), indem sie diese selbst eine Krise durchlaufen lässt, die einen Rückgang zum vorherigen Fiebertraum unmöglich macht. Einen Fiebertraum, den Meretoja in der Vorstellung sieht, „dass unser Wohlbefinden in unseren eigenen Händen liegt“ und treu dem „neoliberalen Individualitätskult“ folgt, „demnach jeder auch in Fragen der Gesundheit seines eigenen Glückes Schmied“ sei. (S. 93)
An dieser Stelle wird der aufmerksamen Leserin bereits ersichtlich sein, wie sich der Bezug zu Arendts theoretischen Überlegungen in diesem literarischen Werk niederschlägt. Zum einen nimmt das Potenzial zur Veränderung der uns durchströmenden Narrative nicht nur in der Mortalität als menschlichen Bedingtheit ihren Ausgangspunkt in Meretojas Buch; sondern auch in der Natalität des Pluralitätsgeschehens der miteinander-sprechenden Charaktere. Diese greifen zwar in ihren (Sprech-)Akten auf bereits vorhandene narrative Bezugsgewebe zurück, verändern jedoch dabei das zwischen ihnen gewobene permanent — zumeist angestoßen durch Alteritätserfahrungen und dem Nachdenken dieser im zurückgezogenen, stillen Dialog mit sich selbst. Um diesen Prozess anstoßen zu können, muss jedoch die Krankheitserfahrung Eleas das Stigma der „Privatsache“ (S. 75) überwinden und ihr durch das sprachliche Teilen mit ihren Freunden die Möglichkeit gegeben werden, auf diese Weise in Erscheinung zu treten. In diesem Sinne kann das Buch als Konstellationsversuch gelesen werden, Erfahrungen in ihrem historischen Kontext im hierfür privilegierten Medium, der Kunst, zur öffentlichen Darstellung zu bringen. Zum anderen wird im Buch stets betont, wie sich die (Krankheits-)Erfahrungen Eleas entlang der in Sprache festgehaltenen kollektiven Geschichten strukturieren. Die erlebten Phänomene verdichten sich erst durch sie zu festhaltbaren Erlebnissen, die das jeweilige Selbst- und Weltverständnis prägen. Diesen Gedanken entwickelt Arendt zum Beispiel in ihrem Denktagebucheintrag mit dem Titel „Die Metapher und die Wahrheit“, wenn sie sich fragt, wie sie die psychischen und „physischen Sensation[en] erfahren [hätte], wenn die Sprache […] nicht bereits eine Ahnung von der Bedeutsamkeit des Vorgangs gegeben hätte“. (Arendt 2020, S. 46) Meretoja schafft es durch in ihrem Roman anhand der Gedanken und Handlungen, ihrer Charaktere die Konfrontation mit der Sterblichkeit nachvollziehbar zu skizzieren und diese Erfahrungen von dem Stigma der Privatheit zu befreien und in eine öffentliche und lebensweltlich relevante Wirklichkeit zu heben. Hierbei zeigt sie eindrücklich, wie gerade kämpferische Narrative den Erkrankten erheblichen Schaden zufügen können, da ein „Scheitern“ des Kampfes gegen die Krankheit die Erkrankten eine Erfahrung des „nicht gut genug seins“ drängen.
Meretojas Roman ist in seiner Länge und Themenfülle teilweise jedoch sehr zäh zu lesen. Neben den bereits angeführten Themen versucht die Autorin auf den fast 440 Seiten auch einen Diskurs über die Narrative rund um die Covid-19-Pandemie und ihre Folgen, die Liebe zwischen mehreren Personen und dem finden persönlicher Lebenswege zu skizzieren, die sie mit allen angeführten Charakteren des Buches beleuchtet — was bei fünf Erwachsenen und drei Kindern in der Vielzahl an Perspektiven etwas überfüllt wirkt. Eine eingeschränktere Themenwahl und damit einhergehende Reduktion der Seitenzahl hätte dem Buch eine größere Aussagekraft und Prägnanz verleihen können. Ferner — und das kritisiere ich insbesondere deswegen, weil ich mir beim Lesen des Buches mehrmals gewünscht hätte, es meiner damals krebskranken Großmutter geben zu können — ist das zutiefst bürgerliche Setting der Geschichte: Eine Professorin, eine Künstlerin, eine Psychologin, ein Arzt und ein freischaffender Lebenskünstler treffen sich auf einem im Eigentum der Protagonistin befindlichen Ferienhauses in den finnischen Schären zum Diskutieren von Meeresgeschichten und blicken aufgrund der Vor-Augen-Führung der menschlichen Mortalität auf ihre bisherigen — ebenfalls sehr bürgerlichen — Erfahrungen zurück und ordnen sie neu. Eine Krebserkrankung und der gesellschaftliche Umgang mit ihr ist eine Erfahrung, die von unzähligen Menschen durchgemacht wird, die mit den hier beschriebenen Umständen eventuell nicht die von der Autorin intendierte Metamorphose der Krankheitsnarrative finden können, da der hier geteilte Erfahrungsraum so nur einer kleinen Anzahl an Menschen zugänglich sein wird.
Nach alledem würde ich gerne Walter Benjamin aus „Ich packe meine Bibliothek aus“ zitieren: „Schriftsteller sind eigentlich Leute, die Bücher nicht aus Armut, sondern aus Unzufriedenheit mit den Büchern schreiben, welche sie kaufen könnten, und die ihnen nicht gefallen.“ (Benjamin 1931, S. 389) In dieser Hinsicht kann und muss gesagt werden, dass Hanna Meretoja sich mit „Die Nacht der alten Feuer“ als eine Schriftstellerin im Benjamin‘schen Sinne in die Öffentlichkeit gewagt und auch erfolgreich etabliert hat. Sie vermisste einen literarischen Versuch der unsere kämpferischen und ausgrenzerischen Krankheitsnarrative dekonstruiert, nahm dies selbst vor und bot uns mit diesem Werk einen Raum, diese kollektiv zu transformieren.
Literatur:
Arendt, Hannah (2020): Denktagebuch. Piper: München.
Benjamin, Walter (1931): „Ich packe meine Bibliothek aus“, in: Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser (Hg.) (1991): Walter Benjamins. Gesammelte Schriften. Bd. VI. Suhrkamp: Frankfurt/M.
Meretoja, Hanna (2024): Die Nacht der alten Feuer. Mare: Hamburg.
Sven Thomas
Universität Paderborn