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Ausgabe 1, Band 14 – März 2025

Matthias Bormuth: Die geistige Situation nach 1945 – Karl Jaspers und Hannah Arendt

Rezension: Matthias Bormuth: Die geistige Situation nach 1945 – Karl Jaspers und Hannah Arendt, Göttingen: Wallstein Verlag, 2023, 144 S., 20 EUR.

Matthias Bormuths Buch ist eine Geschichtenerzählung. Und keine schlechte. Die Hauptfigur ist Karl Jaspers: als Philosoph, als Professor, als „das Gewissen Deutschlands“ (16), als Freund, als Ehemann und als Mensch. Bormuth setzt seinen Protagonisten in eine Welt hinein, die von anderen Menschen mitbestimmt ist, deren Leben mit dem von Jaspers in der Nachkriegszeit verflochten waren. Darunter ist auch Hannah Arendt, die den Kontakt mit Karl und Gertrud Jaspers nach anfänglicher, durch das Chaos der Nachkriegszeit verursachten Schwierigkeiten, wiederaufgenommen hat. Jaspers wird von dem Autor sowohl in seinen Stärken als auch in seinen Schwächen beleuchtet, weniger ein Held als eine tief reflektierende und selbstreflektierende Person, was sich in allen in dem Buch dargestellten Beziehungen und Situationen spiegelt.

Ich will in dieser Rezension ungerne alle die Kapitel zusammenfassen oder in ihren Einzelheiten diskutieren, denn das wäre der von Matthias Bormuth erzählten Geschichte gegenüber nicht gerecht. Das Buch besteht aus Bezügen auf Briefe, Berichte, Notizen und Zeitungsartikel, die mit theoretischen Gedanken vermischt sind, die sich letzten Endes nicht als bloß theoretisch, sondern zutiefst weltlich zeigen. Schon in dem Prolog, in dem der Autor seinen persönlichen Weg zum Schreiben dieses Buches skizziert, wird die Topographie der darin enthaltenen Erzählung aufgezeigt: die Ruine, die Deutschland nach dem Krieg darstellt; das davon auf eine wundersame Weise verschonte Heidelberg; Arendts Wohnung in Upper Westside, später 370 Riverside Drive1. Die Lektüre erinnert an Arendts Begriff des Gewebes der menschlichen Angelegenheiten, das nicht als tot und vergangen gesehen werden darf, sondern vielmehr als durch erzählte und nacherzählte Geschichten immer wieder belebt wird.

Eine Konstante in dieser Erzählung ist das Ehepaar Gertrud und Karl Jaspers. Wegen seiner „eindrucksvolle[n] Vorlesung[en]“, die „in der deutscher Jugend Funken zu streuen“ (17) schienen, aber auch wegen seiner jüdischen Ehefrau wurde Jaspers 1937 zwangspensioniert. Von einem Teil seiner eigenen Familie wurde die Ehe totgeschwiegen. Auf all das, wie auch auf die ihnen, und vor allem Gertrud über die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft drohende Gefahr, reagierten sie entschlossen: Eine Möglichkeit des gemeinsamen Suizid wurde erwogen, beide trugen bis zum Ende des Krieges stehts Gift bei sich. Gertrud Jaspers konnte sich bis zum Ende des Krieges in Göttingen verstecken und wurde gerettet, unter anderem, aufgrund des Hochschätzung Jaspers seitens einiger Parteifunktionäre, die immer wieder durch kleine Akte der Treue ihm gegenüber auch Gertrud geschützt hatten.2 Bormuth erzählt über die Freude und Erleichterung, welche die Befreiung durch die amerikanische Armee für Gertrud und Karl Jaspers mit sich brachte, aber wenn er daran erinnert, dass der Termin der Deportation lediglich für wenige Wochen später festgelegt war, schaudert man unvermeidlich (31).

Die Beschreibung der Freundschaft zwischen Hannah Arendt und Karl Jaspers zieht sich durch das gesamte Buch. Schnell wird auch klar, dass diese Freundschaft nicht eine unkritische war, sondern eine, die ihre Kraft sowohl aus freundschaftlichen Liebe als auch aus den betonten Meinungs- und Positionsunterschiede bezog. Zu einigen Äußerungen Arendts antwortet Jaspers mit einem Seufzen; ihr ist seine Behandlung der Schuldfrage zu idealistisch. Der Moment, dem der Autor am meisten Aufmerksamkeit schenkt ist die Eichmann-Kontroverse. Jaspers gehörte zu den Verteidiger*innen Arendts, aber ihr Buch und die Debatten darum waren ihm nicht ganz geheuer. Wenn sich die Veröffentlichung des von ihm versprochenen Textes zu der deutschen Ausgabe von Eichmann in Jerusalem verspätete und Arendt entdeckte, dass er sich trotzdem in Interviews dazu äußerte, war sie enttäuscht und verärgert. Jaspers reagierte ausweichend (110). In diesem Verhalten kommt, ähnlich wie in seiner freundschaftlichen Beziehung zu Golo Mann, dessen wegen Jaspers sich nicht öffentlich zu den Kontroversen um Thomas Mann geäußert hat (50), seine Sorge um Menschen, die ihm nahe standen zum Ausdruck.

Jaspers war aber auch durch die Sorge um die Welt bewegt. Seine Nachkriegsreflexionen zu Humanität, der Schuldfrage und der geistigen Situation in Deutschland sowie seine aufrichtige Gesinnung ließen Hannah Arendt ihn als einen weltlichen Menschen sehen, der sich auf das „Wagnis der Öffentlichkeit“3 einlässt. Wie Bormuth im Epilog seines Buches anmerkt, war Jaspers in dieser Hinsicht von sich selbst enttäuscht. Aufgrund einer gewissermaßen privaten Sorge um seine Frau, um sie und sich in der stets drohenden Lebensgefahr zu retten, hatte er seine reine Gesinnung nicht politisch umgesetzt und begriff sich als Versager. Durch seinen Bezug auf Shakespeares Hamlet spiegelte Jaspers , so Bormuth: „ohne Frage […]das Heidelberger Leben mit seiner Frau Gertrud wider und fand darin wohl Trost inmitten der Verfolgung. Seine Deutung lässt die prekäre Situation des Gesinnungsmenschen aufscheinen, der wohl im privaten Leben authentisch zu sein vermag, aber sich das öffentlich Handeln versagen muss“ (132).

Die von Matthias Bormuth erzählte Geschichte zeigt in dem von dem Autor anvisierten, relativ kurzem Zeitausschnitt, die Kompliziertheit eines menschlichen Lebens am exzellenten Beispiel von Karl Jaspers. Die sehr reiche Kontextualisierung der Quellen, die der Autor in diesem Buch vornimmt, lässt einen viele Momente, Begegnungen und Dialoge besser verstehen, als es bei einer Lektüre der Briefsammlungen möglich wäre, wo das unter den Zeilen und Blättern pulsierende Leben nicht immer deutlich zu spüren ist. Die Menschen, die Bormuths Buch beherbergen: Hannah Arendt, Thomas Mann, Golo Mann, Melvin Lasky, Dolf Sternberger, Martin Heidegger, Max Weber, Georg Lukács, Jeanne Hersch und Czesław Miłosz; Philosophen und Autoren der Vergangenheit: Sokrates, Kant, Goethe, Kafka, Äsop und Shakespeare tragen zu dem Eindruck bei, dass hier nicht eine gewöhnliche Biographie gelesen wird.

Bormuths Buch hat eine Besonderheit: Es gibt darin keine Fußnoten oder andere Textbelege, außer der Bibliographie am Ende. Das macht die Zuordnung der Zitate and Hinweise auf bestimmte Briefe oder andere Schriften relativ schwierig und ist vielleicht nicht etwas, was bei einer solchen Lektüre erwartet wird. Ich möchte hier aber auf zwei Vorteile dieser Entscheidung hinwiesen. Erstens liest sich das Buch reibungslos, wenn eine Leserin nicht stets mit einer bibliographischen Angabe zusammenstößt. Es liest sich also wie eine Geschichte sich lesen soll. Zweitens wirkt das Fehlen der Literaturangaben im Text wie ein Remedium zu den heutigen Lesepraktiken im wissenschaftlichen Kontext, wo immer mehr digital gelesen wird, mit drei Klicks gefunden und kopiert wird, wodurch wir zwar das begehrte Zitat finden, aber im Allgemeinen nicht schlauer werden. Hier muss das Buch einfach gelesen werden. Und es lohnt sich.

Maria Robaszkiewicz

Universität Paderborn

1Dieses Gebäude hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag aufgrund einer Anzahl der berühmten Personen, die dort gelebt haben.

2So Paul Schmitthenner, Ende 1944: „Die Gefahr einer Trennung der Ehefrau von Professor Dr. Jaspers von ihrem Ehemann ist […] außerordentlich näher gerückt. Ich darf wiederholt darauf aufmerksam machen, dass eine solche Trennung, bei der mir persönlich bekannten Gesundheitszustand von Professor Dr. Jaspers für diesen die schwerwiegendsten Folgen haben müssen.“ (33).

3Siehe „Zur Person“, das Interview von Günter Gaus mit Hannah Arendt, 1964, https://www.rbb-online.de/zurperson/interview_archiv/arendt_hannah.html (04.12.2024).