Ausgabe 1, Band 14 – März 2025
Coretta Ehrenfeld: Philosophie der transnationalen Migration – Implikationen einer kopernikanischen Wende
Rezension: Coretta Ehrenfeld: Philosophie der transnationalen Migration – Implikationen einer kopernikanischen Wende, Bielefeld: transcript 2022, 286 S., 45 EUR.
Coretta Ehrenfelds Philosophie der transnationalen Migration—Implikationen einer kopernikanischen Wende ist ein einzigartiger und zeitgemäßer Beitrag nicht nur zur Migrationsforschung in den Sozialwissenschaften, sondern auch, und das ist wichtiger, zur Philosophie. Die Untersuchung stellt eine methodologische, erkenntnistheoretische und ontologische „Wende“ dar, in der Art und Weise, wie wir langjährige Kategorien wie „Nationen“, „Migration“, „Migrant:innen“, „Transnationalität“ und den „Ort“ des Einzelnen verstehen. Diese Kategorien werden dekonstruiert: Individuen sowie Nationen sind nicht als essentialistische, ontologisch getrennte Existenz (oder Seiendes) zu verstehen, sondern werden sie durch ihren Zusammenhang dialektisch und dynamisch ko-produziert in ihren Verbindungen. Das Thema Migration wurde in den Sozialwissenschaften, Kulturwissenschaften, Politikwissenschaft, Pädagogik und Geisteswissenschaften umfassend erforscht, jedoch kaum in der Philosophie.
Die Philosophie kann jedoch heute die bedeutende Tatsache der Migration nicht mehr ignorieren, wenn man sich in der politischen Philosophie mit einer Gesellschaftsanalyse befasst. Selbst in der Tradition der Kritischen Theorie bleiben die Annahmen, die „die Gesellschaft“ betreffen, eher monokulturell (westlich, liberal, demokratisch), und ihr analytischer Apparat befasst sich in erster Linie mit den Hierarchien, die die Beziehungen innerhalb einer Gesellschaft prägen, entweder innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Rahmens (wie Nationen) oder allgemein als Strukturen der „Gesellschaft als solcher“. Was in diesem Rahmen fehlt, ist die Tatsache der Migration und Transnationalität mit politischen Bewegungen, die genau die Einheiten formen, die die Akteure der Gesellschaft bilden. Diese politische Bewegung könnte Migrant:innen einbeziehen, die keinen gemeinsamen kulturellen oder religiösen Hintergrund haben und sich ganz anders an staatsbürgerlichen und sozialen Aktivitäten beteiligen als in den westlichen demokratischen Gesellschaften. In diesem Sinne müssen die ontologischen Formationen, wie diese Identitäten durch die Prozesse der Migration und Transnationalität zu dem werden, was sie sind, geklärt werden. Dies ist besonders wichtig in den Diskussionen in dekolonialen und postkolonialen Kontexten, da das eigentliche Gefüge unserer Gesellschaften nicht nur durch solche Prozesse der Migration und Transnationalität konstruiert wird, sondern auch, weil sie die Hierarchien innerhalb der europäischen Nationen sowie transnational über Europa hinaus in globalen Kontexten prägen. Ehrenfelds Diskussion bietet somit eine neue und notwendige Intervention im Bereich der politischen Philosophie jenseits der traditionellen europäischen Kontexte.
Traditionellerweise haben die Sozialwissenschaften ontologische Voraussetzungen angenommen, die Begriffe wie Nation und Volk als bereits existierende Einheiten in der Welt betrachteten. Somit wurde Migration hauptsächlich als Bewegung von Menschen zwischen diesen Nationen verstanden, wobei Nationen im Sinne des „Ursprungslandes“, aus dem man auswandert, und des „Gastlandes“ definiert wurden. Die Diskussionen konzentrierten sich weitgehend auf Themen wie Rechte, Ansprüche und Status der Migrant:innen oder darauf, wie Gesellschaften sich durch diesen Prozess verändern, sowie auf die psychische Belastung, die solche Migrant:innen ertragen müssen.
Im Gegensatz dazu dekonstruiert Ehrenfeld die vorausgesetzten Begriffe wie „Nationen“ und „Migrant:innen“ in ihrer Darstellung der „Transnationalität“. Der Begriff beinhaltet einen ontologischen Doppelschritt der Transzendenz und Immanenz, oder was Ehrenfeld als „transitive“ und „intransitive Momente“ des Transnational-Seins bezeichnet (S. 21). Translationalität bedeutet „Überquerung von Nationalstaatsgrenzen“, und in diesem Prozess zeigt „trans“ als transitiv an, dass „eine Grenze überschritten“ wird (S. 21). Doch gleichzeitig beinhaltet dieser Prozess „eine Überschreitung (an sich) […] der Nationalstruktur“ – hier ist der Prozess intransitiv, was bedeutet, dass der eigentliche Prozess des translational Seins die „Überschreitung“ nationaler Grenzen sowie den Prozess umfasst, der immanent den ontologischen Status der Transnationalität konstituiert: „Was bedeutet es, dass eine Überschreitung von Nationalstrukturen stattfindet?“ (S. 21). Dies ist auch ein Prozess, der „einen historischen Bedeutungshorizont“ eröffnet (S. 22). Historisch gesehen bedeutet Transnationalität, „dass die Perspektive der Nationalgeschichten sprichwörtlich an ihre Grenzen gestoßen ist und relativiert werden muss“ (S. 22). Nationen und Menschen, die migrieren, sind niemals „bereits gegeben“; vielmehr werden sie im Prozess der Transnationalität erst konstituiert. Daher muss das Forschungsobjekt – soziologisch, politisch, kulturell, historisch, philosophisch – zunächst diesen dynamischen Prozess der Transnationalität untersuchen, bevor wir verstehen können, was wir zuvor als gegeben in der Migrationsforschung betrachtet haben. Dies ist das, was Ehrenfeld „kopernikanische Wende“ nennt: Es verschiebt die Richtung der Forschung – methodologisch sowie epistemologisch. Das Buch erklärt, wie diese „Wende“ verstanden werden kann und welche Implikationen sie mit sich bring.
Das Buch ist sehr gut strukturiert und klar geschrieben. Im ersten Kapitel führt die detaillierte Einleitung (S. 17 – 85) zunächst den Begriff „Transnationalität“ (1.1) ein. Wie oben erwähnt, deutet der Begriff auf eine radikale epistemologische, ontologische und methodologische „Wende“ in der Art und Weise hin, wie wir das Phänomen der Migration und „Migrant:innen“ verstehen. Die Einleitung bietet dann einen umfassenden historischen Überblick über den Status der Migrationsforschung in den Sozialwissenschaften (1.2) sowie in der Philosophie, die sich in besonderer Weise mit dem Thema befasst hat (1.3). In den Sozialwissenschaften dreht sich der primäre Forschungsrahmen darum, wie Migration die zeitgenössischen nationalen Volkswirtschaften beeinflusst. Diese Forschung konzentriert sich auf zwei Bereiche: Wanderungstheorien und Integrationstheorien (S. 26 – 43). Wanderungstheorien beschäftigen sich mit den Bedingungen, warum Menschen ihr Ursprungsland oder -gebiet verlassen (wie Krieg, Arbeitsverfügbarkeit oder Klimawandel), und Integrationstheorien analysieren, wie die Migrationen das Gastland oder -gebiet beeinflussen, durch a) Assimilation, b) Integration und c) Multikulturalismus.
Das Thema Migration galt in der Philosophie bisher nicht als zentral, jedoch existieren einige Diskussionen darüber (1.3). So werden in diesem Abschnitt ants Konzept des Besuchsrechts aus seinem Werk Zum ewigen Frieden, Derridas Idee der Gastfreundschaft sowie Fragen der Migration in der politischen Philosophie und angewandten Ethik erörtert. Abschnitt 1.3.4 behandelt sozialphilosophische Überlegungen zu Einwanderungsgesellschaften, mit einem Fokus auf Deutschland (Elif Özmen). In Abschnitt 1.3.5, „Vertreibung und Existenz“, wird Hannah Arendts Essay „Wir Flüchtlinge“ ausführlich analysiert.
Im zweiten Kapitel, betitelt „Die Entwicklung des Transnationalitätskonzeptes“ (S. 87 – 167), wird der Begriff Transnationalität ausführlich erörtert. Im Unterschied zu den Sozialwissenschaften, die das Thema Migration vorwiegend unter sozioökonomischen Gesichtspunkten betrachten, berührt das Phänomen der Migration in der Philosophie auch eine existenzielle Dimension und stellt grundlegend den ontologischen Status der Migrant:innen, der „Transmigrant:innen“, in Frage (S. 92). Der Begriff der Transnationalität fokussiert sich auf diesen Aspekt der Migration. In diesem Sinne ist „[d]as migrationstheoretische Problem […] auch ein Philosophisches. “ (S. 87). Dieses Kapitel behandelt drei Themen: 2.1. „Erste Phase: Transmigration: Ein Paradigmenwechsel in der Migrationsforschung“, 2.2. „Zweite Phase: Transnationale Räume“ und 2.3. „Dritte Phase: Are We All Transnationals Now?“
Im Abschnitt 2.1 wird zunächst die Genealogie der Migrationsstudien untersucht, die verschiedene theoretische Fragmentierungen bezüglich der Transnationalität aufzeigt. Dieser erste Schritt verdeutlicht, wie die Forschung zur Transnationalität den Fokus verlagert und „a) die Subjektposition der Transmigrant:innen, b) den Netzwerkcharakter der sozialen Gruppe, c) das Problem des fehlenden historischen oder systematischen Kriteriums für empirische Transmigration, d) die Neubewertung von (sozialen) Grenzen und e) das Problem des Ortes“ einbezieht (S. 102).
In einer zweiten Phase wird unter der Betrachtung transnationaler „sozialer Räume“ das Konzept der „Nationalität“ erneut aufgegriffen und eingehend analysiert. Es zeigt sich, dass „Nationalität“ auf die logische und historische Provenienz des Begriffs der „Transnationalität“ verweist (S. 139). Sie funktioniert als das, was transzendiert wird (transitiv) und dabei „an sich neue Strukturen schafft“ (intransitiv), also die eigentliche Struktur der Transnationalität. Auf diese Weise ist Transnationalität grundlegend existenziell-dialektisch und stellt die ontologische Ordnung auf den Kopf: „Die soziologische Argumentation des methodologischen Nationalismus wird umgekehrt: Nicht die sozialontologisch angenommene Nationalgesellschaft ist die Bedingung für trans- und internationale Migration, sondern subnationale Verflechtungen sind die ontologische Vorbedingung für Migration und soziale Grenzziehungen“ (S. 140).
Bedeutet dies, dass wir nun alle „Transnationals“ sind (dritte Phase), wenn der Begriff der Nationalität nicht länger grundlegend für unsere Existenz ist, sondern vielmehr unsere Transnationalität, die solche nationale Zugehörigkeit (oder das Dazwischensein) erzeugt? Migrationsstudien müssen die Methodologien umkehren: Nationen und Menschen können nicht die grundlegenden Einheiten der Forschung sein, sondern dieses „Mobilitätsparadigma“ zeigt, dass Transnationalität komplexe Beziehungsgeflechte an konkreten Orten beinhaltet: „Kurz, Orte sind Praxis“ (S. 156). Daher offenbart die dritte Phase, dass ein Paradigmenwechsel vom „Sedentarismus“ (bei dem Nationen in sozialen Theorien statisch betrachtet werden) hin zu einer dynamischen, dialektischen Auffassung von Transnationalität als Lebenspraxis an konkreten Orten erforderlich ist. Die Vorstellung von Gesellschaft muss in diesem dialektischen Sinne neu gedacht werden.
Das kurze dritte Kapitel, „Zwischenfazit: Eine kopernikanische Wende und ihre Folgen“ (S. 169 – 71),, fasst diesen Paradigmenwechsel, den „transnational turn“, also die „kopernikanische Wende in der Migrationsforschung“, prägnant zusammen. „Migrierende werden als Träger:innen transnationaler Netzwerke erkannt und besetzen fortan eine sozialtheoretische Subjektposition“ (S. 169). Diese „Bottom-up“-Wende hat bedeutende theoretische und methodologische Auswirkungen darauf, wie wir die Beschaffenheit nationaler Gesellschaften und das soziale Leben untersuchen und darstellen, wer die Subjekte der Migration sind, und somit „für die Beschreibung der Welt“ (S. 170).
Im vierten Kapitel, „Subjektkritik: Relativierung des sozialtheoretischen Subjekts“ (S. 173 – 212), wird die Idee dieser dekonstruktiven Methodologie im Kontext postkolonialer Kritiken vertieft (4.1). „Europa“ als das stillschweigende historische, politische, kulturelle und epistemologische „Subjekt“ im eurozentrischen Geschichtsprojekt wird ebenfalls entlarvt, dekonstruiert und „provinzialisiert“. Die Diskussionen umfassen Achille Mbembe und Frantz Fanons Kritik am Kolonialismus, Edward Saids Orientalismus sowie Dipesh Chakrabarty und Stuart Halls postkoloniale Geschichtsschreibung, in der Europa provinzialisiert wird (4.1.3). In Abschnitt 4.2 wird die Diskussion um Benedict Andersons Klassiker von 1983, Imagined Communities, erweitert. Mittlerweile sehen wir, dass Nationen nicht „gegeben“ sind, sondern kollektiv „imaginiert“ werden durch soziale und politische Narrativkonstruktionen, die politische Institutionen und nationale Grenzen organisieren und konkretisieren.
Das fünfte Kapitel, „Reset: Sozietät“ (213 – 264), bietet einen Überblick über die theoretischen Implikationen der kopernikanischen Wende, die in den Kapiteln 2, 3 und 4 erläutert wurde. Durch das nicht-essentialistische Verständnis von Transnationalität werden die „Migrant:innen“ zu neuen Akteuren, die die Realitäten von Gesellschaften und Nationen schaffen. Dies ist die dynamische Lebensform der „Sozietät“, die die Kategorien „sesshafter und migrantischer Sozialontologie“ artikuliert (S. 213). Der Begriff des Ortes wird in dieser Analyse zentral. Soziopolitische und kulturelle Aktivitäten finden stets konkret an einem Ort statt. Das Konzept der Lebenspraxis kann nicht von seiner Ortsgebundenheit getrennt werden. In diesem Sinne ist der Ort ebenso ontologisch wie die Lebensform und die sozialen Netzwerke selbst. In diesem Kapitel werden Diskussionen über Martin Heideggers Theorie der Räumlichkeit, Gilles Deleuze und Félix Guattaris Vorstellung des Rhizom-Modells von Netzwerken sowie verschiedene „Theorien des Ortes“ (5.3) geführt. Besonders interessant in diesem Abschnitt ist die Einbeziehung des Begründers der modernen japanischen Philosophie, Kitaro Nishida (1870 – 1945). In Nishidas Logik des Ortes wird der Ort (Basho), gesehen als „Kraftfeld“ (248) , das als „epistemologische und ontologische Bedingung für die Möglichkeit von Kontext überhaupt“ dient (247). Der Ort „ist auch die Bedingung für soziales Zusammentreffen“ (248) und die Orte „stiften den sozialen Kontext“ (248), wobei die Kontexte selber von Orten generiert sind.Die Diskussion von Nishida ist eher oberflächig und idiosynkratisch (aber nicht „falsch“), aber die wichtigen Elemente von Nishidas soziopolitische Ontologie sind begriffen. Eine weitere Diskussion über Nishida findet in diesem Kapitel nicht statt, obwohl er eine radikal nicht-essentialistische, konkrete dialektische Theorie der Nationen und Völker in seinem „Prinzip der Neuen Weltordnung“ (1943) entwickelte. Dabei kritisierte Nishida das eurozentrische Modell der durch Kolonialismus angetriebenen Nationen zugunsten seiner eigenen dialektischen Theorie, durch die Nationen in wechselseitiger und dynamischer Ko-Kreation an einem globalen Ort als ungrenzbare „Leere“ entstehen. Diese Diskussion hätte gut zum Gesamtthema dieses Kapitels gepasst.
Das sechste Kapitel bietet eine Zusammenfassung. Die transnationale Transformation, die die kopernikanische Wende repräsentiert, kehrt die sozialontologischen Grundlagen der Migrationsstudien in den Sozialwissenschaften um. Diese dekonstruktive Bewegung markiert tatsächlich eine philosophische Wende, indem sie traditionelle Begriffe wie Nationen und Migration ontologisch in Begriffen einer de-essentialisierten Vorstellung von Transnationalität neu definiert. Der Begriff fordert einen existenziellen, epistemologischen und methodologischen Wandel im Verständnis des gesamten Phänomens der Migration und der transnationalen Migration. Als solcher fordert dieser Wandel auch grundlegend heraus und verändert die Art und Weise, wie Forschung in den Sozialwissenschaften konzeptualisiert und durchgeführt werden muss. Das Buch ist in der Philosophie aufgrund seines Themas und der Schnittstellen mit den Migrationsstudien einzigartig und stellt auch einen wichtigen interdisziplinären Beitrag zu den Migrationsstudien in den Sozialwissenschaften dar.
Yoko Arisaka
Universität Hildesheim