header image

Ausgabe 2, Band 13 – August 2024

Nils Baratella, Johanna Hueck, Kirstin Zeyer (Hg.), Existenz und Freiheit. Karl Jaspers, Hannah Arendt und Heinrich Barth zur Freiheitslehre Augustins


Rezension: Nils Baratella, Johanna Hueck, Kirstin Zeyer (Hg.), Existenz und Freiheit. Karl Jaspers, Hannah Arendt und Heinrich Barth zur Freiheitslehre Augustins, Basel: Schwabe Verlag, 2022, 246 S., 52 CHF.


Krisen, Erschütterungen und Untergangsszenarien soweit das Auge reicht. Diese Diagnose ist nicht nur unserer Gegenwart zu stellen, auch das 20. Jahrhundert kann mit Fug und Recht behaupten, in den Abgrund geschaut zu haben. Vor dem Hintergrund der eigenen Weltkriegserfahrungen, von Terror, Verfolgung und Shoa stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit des Bösen, der Möglichkeit des Guten und der Möglichkeit als einzelner Mensch, frei zu sein und zu handeln, in besonders existenzieller Weise. Karl Jaspers, Hannah Arendt und Heinrich Barth sind diesen Fragen in ihren Werken nachgegangen, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise. Gemeinsam ist ihnen allen dabei die Arbeit mit dem Werk des Kirchenvaters Augustin, dessen eigene Erfahrungen des Umbruchs zwischen Antike und Mittelalter ihn in besonderer Weise zu qualifizieren scheinen, über die existentielle menschliche Freiheit Auskunft zu geben. So wird Augustin Frauke Kurbacher zufolge zur ‚Initialzündung‘ für „viele geistesgeschichtliche Entwicklungen im Abendland“ (S. 111).

Was ‚zündete‘ Augustin hier bei Arendt, Jaspers und Barth? Welche Vorstellungen von Freiheit erarbeiten sie in Auseinandersetzung mit Augustin und ihrer eigenen geschichtlichen Situation? Wo treffen sich ihre Gedanken, wo gehen sie getrennte Wege? Diesem Fragehorizont widmete sich im November 2019 eine Tagung im Karl-Jaspers-Haus in Oldenburg, deren Beiträge in dem Band Existenz und Freiheit. Karl Jaspers, Hannah Arendt und Heinrich Barth zur Freiheitslehre Augustins (2022) zusammengetragen sind. Es kommen elf Expert*innen zu Wort, wovon das Niveau und die Kreativität der Beiträge zeugen. Der Band folgt keinem roten Faden und ist in vier Sektionen gegliedert: 1. Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Auslegung und Geschichte (Schwaetzer, Baratella, Zeyer), 2. Existenz und Freiheit (Möbuß, Hügli, Kurbacher, Wildermuth), 3. Transzendenz und Freiheit (Unverzagt, Weidmann), 4. Gnade, Freiheit und Politik (Graf, Hueck).

Harald Schwaetzer eröffnet die erste Sektion mit seinem Beitrag „Existentielle Phänomenologie als ‚Wesenserfahrung des Göttlichen‘?“ und fragt darin nach einer spezifischen ‚existentiellen Phänomenologie‘ (S. 13), die er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verortet und die als Hintergrund für die Augustininterpretationen von Arendt, Jaspers und Barth zu verstehen sei. Neben dem Einfluss von Heideggers Augustinauslegungen werden die zeitgeschichtlichen philosophischen und theologischen Strömungen beleuchtet. Schwaetzer zitiert den Religionsphilosophen Johannes Hessen, der das Momentum der mystisch-intuitiven Erkenntnis im Werk von Augustin hervorhebt. Hierhin erkennt Schwaetzer das Einfallstor für eine phänomenologische, von einer radikalen Unmittelbarkeit gelenkten Deutung. Augustin wird so als Stein des Anstoßes der Phänomenologie und „Stammvater der Existenzphilosophie“ (S. 33) vorstellig gemacht. Auf der Grundlage dieser ‚existenziellen Phänomenologie‘ arbeitet Jaspers nach Schwaetzer die Begrenztheit ungebrochener Aneignung durch menschliches Denken und Verstehen heraus. Arendt kommt das Verdienst zu, Geschichtsphilosophie in ihrer Perspektivität und Bezogenheit auf den Nächsten neu zu denken. Und Barth zeigt auf, dass das Entscheiden des Einzelnen in phänomenologischer Façon als Existenz verstanden werden kann.

Nils Baratella geht in seinem Beitrag „Der immerwährende Anfang – über Hannah Arendts Augustinus-Rezeption“ dem Vermögen des Anfangen-Könnens bei Hannah Arendt nach. Dabei arbeitet er die fundamentale Bedeutung von Augustin nicht nur für die Frühphase ihres Werkes (ihre Dissertationsschrift aus dem Jahr 1929), sondern für ihr gesamtes Werk heraus und bleibt keineswegs bei dem schillernden Begriff der Natalität oder Arendts augustinischem Lieblingsgedanken – damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen‘ – stehen. Es gelingt Baratella die grundlegende Bedeutung von Augustin in mehreren für das arendtsche Werkverständnis zentralen Leitgedanken aufzuzeigen: Neben den Freiheitbegriff, verstanden als ein Anfangen-können, zeigt er dies in Arendts Begriff des Wollens als Drang zum Handeln vor, mit und unter anderen Menschen auf und nicht zuletzt in ihrem Liebesbegriff, der nicht in inwendiger Gottesliebe verharrt, sondern der Welt und dem Nächsten gilt. In der Quintessenz ist es die conditio der Pluralität, in der alle Menschen sich als Menschen immer vorfinden, die Arendt mit Augustin entdecken und politisch weiterdenken kann.

Unter dem umständlichen Begriff der ‚Philosophiegeschichtsphilosophie‘ stellt Kristin Zeyer in ihrem Beitrag „Die großen Philosophen. Heinrich Barths Philosophiegeschichtsphilosophie“ die Frage, inwiefern Jaspers, Arendts und vor allem Barths Rückgriffe auf Augustin von Fragen ihrer Gegenwart geleitet sind. Dabei geht es weniger um eine Auseinandersetzung mit den drei Augustininterpretationen, als vielmehr um die Frage, wie sich die Autor*innen zur Philosophiegeschichte selbst verhalten, wobei der Fokus auf der Auseinandersetzung mit Barth liegt.

Was besagt nun der Gedanke der ‚Philosophiegeschichtsphilosophie‘? Im Rekurs auf Plessner und Hartmann entwickelt Zeyer den Gedanken, dass die Philosophie nicht im eigentlich Sinne eine Progression kennt, jedoch auch keine Wissenschaft vor oder neben aller Einzelwissenschaft darstellt. Vielmehr greift jede Zeit in originärer Weise auf die Philosophiegeschichte und vor allem die von ihr entwickelten Probleme zurück und entwickelt dabei eine eigene Philosophie und deren Geschichte – Philosophiegeschichtsphilosophie. Der letztlich hermeneutischen Frage, wie dies von Statten geht, geht Zeyer anhand von Barths Umgang mit der Philosophiegeschichte nach: „Auslegung meine nicht, dass der subjektive vom Autor selbst gemeinte Sinn der Aussagen Augustins getroffen werden könne, sondern das Bemühen um das selbsttätige Verständnis einer überlieferten Gedankenwelt“ (S. 62).

Der Beitrag „Gebundene Freiheit“ von Susanne Möbuß rückt einen Begriff in den Fokus, der vor allem für Arendts Werk von zentraler Bedeutung ist: die Welt. Möbuß liest Arendts und Barths Augustin-Deutungen daraufhin, inwiefern sie heute auf einen Erfahrungsbegriff von ‚Welt‘ verweisen, die als „Ort menschlicher Erscheinungen“ (S. 72) verstanden wird und nicht begründet oder geschöpft ist durch Figuren der Transzendenz. Als ‚Ort der Entscheidungen‘ (Barth) geht mit diesem Weltbegriff die Vorstellung von Entscheidungsspielräumen und somit Figuren von Freiheit und Willen einher. So zeigt Möbuß die Bezogenheit der Freiheit, die „gebundene Freiheit“, in einer „Typik von Existenzphilosophie auf, die sich in relativer Unabhängigkeit von religiösen Konnotationen artikuliert“ (S. 85).

Auf der Suche nach demjenigen ‚Kern‘, der jenseits von Kausalzusammenhängen eigentlich ‚menschliche Freiheit‘ genannt werden kann, findet Anton Hügli in seinem Beitrag „Freiheit und Existenz. Auf der Suche nach einer Freiheit, die wir meinen“ einen Ausgangspunkt in einem ‚blinden Fleck‘ naturalistischer Erklärungsansätze: Was ist das Quäntchen mehr, das jenseits von rationalen Gründen, psychologischen und erzieherischen Einflüssen etwa meine Liebe zu einem bestimmten Menschen begründet? Hier verortet er die „Freiheit, die wir meinen“ (S. 87) und die sich uns immer nur indirekt, nicht direkt benennbar andeutet. In Aufgriff der Philosophie von Karl Jaspers versteht Hügli diese Freiheit als eine, die nie selbst zum Gegenstand des Denkens werden kann. Auf sie können wir uns nur indirekt im Philosophieren beziehen, indem wir die Chiffren – ‚Wegweiser‘ – lesen, die immer nur auf etwas zeigen, aber das Angedeutete nie selbst sind. Erklärend verortet der Autor diesen Fund in Jaspersʼ Vorstellung vom Umgreifenden, von Existenz und Transzendenz, seiner Kantrezeption und seiner Augustininterpretation und bietet hierbei mit virtuoser Leichtigkeit einen Rundgang durch ‚das kleine Einmaleins‘ der jaspersschen Philosophie.

Dabei zeigt Hügli auch die Grenzen von Jaspersʼ Augustinrezeption auf. Er folge ihm in der ‚erregendsten Selbstbeobachtung‘: In der Erfahrung der Möglichkeit des Wollens und zugleich nicht-Wollens. Es ist nicht etwa so, dass „zwei Mächte ihn beherrschen, eine gute und eine böse, sondern [...] [dass] er selbst diese Gespaltenheit ist“ (S. 100). Die Erlösung aus dieser Erstarrung, der Sprung, kommt für Augustin durch Eingriff des Göttlichen, das mir hilft die Zerrissenheit in einen Willen zu fassen. Jaspers bedient sich selbst vielfach der Metapher des ‚Sich-geschenkt-werdens‘, also scheinbar einem Moment der Fremdbestimmung, der Abhängigkeit auf dem Boden der menschlichen Freiheit. Dennoch löst er sich an diesem Punkt von Augustin. Dies ‚externe‘ Moment ist, ebenso wie alles Denken und Sprechen über Transzendenz, eine Chiffre, ein Wegweiser, kein inhaltlich direkt zu verstehendes Wissen. Und darüber hinaus ist diese Chiffre mit ihrer Konsequenz der Fremdbestimmung für Jaspers nur mit dem Gegengewicht einer entgegengesetzten nämlich pelagianischen Chiffre annehmbar: „dass der Mensch die Freiheit der Entscheidung hat und darum jederzeit auch die Möglichkeit der Umkehr und des Neuanfangs“ (Hügli 102).

Hügli schließt seinen Beitrag mit einer Mahnung, Jaspersʼ Philosophie nicht weltabgewandt zu lesen: „Sich von der Transzendenz geführt und geschenkt zu wissen heißt [...] den Anker zu finden, der mir hilft, mich in das Hier und Jetzt voll und ganz einsenken zu können – mit Hilfe der aus transzendierender Distanz gewonnenen Freiheit, in der Gewissheit, worauf es mir ankommt, aber stets auch im Wissen um die Realitäten in dieser Welt und die Determiniertheit meines Daseins, in Anerkennung der Argumente [...] und im Bemühen um den kritischen Geist der Autonomie, ohne den allem meine Überlegungen in der Luft hängen“ (S. 104).

Frauke Kurbacher beginnt ihren Beitrag „Vom Willen zur Freiheit oder: Von Freibeutern und Freidenkern“ mit einem durchaus beunruhigenden Gedanken: Wenn die Freiheit nicht nur in Relation zu Verstand und Vernunft, sondern auch zum Willen zu sehen ist, dann mag sie ein Moment nicht nur des Irrationalen, sondern des Willkürlichen und der Fremdbestimmung beheimaten. „Woher bekommt [der freie Wille] seine Beschränkungen, Direktiven und ist er, wenn er sie bekommt, überhaupt noch frei?“ (S. 112).

In Hannah Arendt und Hans Jonas findet Kurbacher Gesprächspartner, deren Interesse an dem spannungsreichen Verhältnis von Freiheit, ihrer Kehrseite: der Verantwortung, und dem Willen bereits eingewoben ist in ihre frühen Auseinandersetzungen mit Augustin (Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin 1929, Jonas: Augustin und das paulinische Freiheitsproblem 1930). Beide lesen ihren Gewährsmann nicht in theologischer Manier, sondern auf der Suche nach existenziellen Erfahrungen menschlicher (Willens-)Freiheit. Der Mensch ist bei Augustin sonderbar zwitterhaft angelegt: er ist kategorial verschieden von Gott und doch sein Ebenbild. Er ist makelhaft, von Gottes Gnade und doch verantwortlich für sein eigenes Tun. Und dennoch hat er, gefangen zwischen diesen Polen doch Gestaltungsspielräume; und genau die sind das Einfallstor der Freiheit für Arendt und Jonas. Bei Jonas beinhaltet die Figur des Willens eine Dialektik zwischen dem, was ich will, und dem, was ich nicht will, oder stattdessen wollen könnte auf der einen Seite und meinem eigenen Zurücktreten und Betrachten dieser Spannung auf der anderen Seite. In dieser ‚Selbstobjektivation‘ liegt der Boden der Freiheit wie der Unfreiheit. In diesem reflexiven Moment im Willensakt setzt sich der Mensch selbst der Welt gegenüber.

Anders bei Arendt: Die Eingewobenheit in einem konflikthaften inneren Zweikampf zwischen meinem persönlichen Wollen und Nichtwollen wird von ihr nicht aufgehoben und ich kann mich aus ihr auch nicht reflexiv zurückziehen. Sie spiegelt die bei Arendt immer betonte Verstricktheit in die Welt. Kurbacher erkennt in der Figur der inneren Spaltung und der Notwendigkeit eines Entschlusses zur Auflösung des Konflikts die Grundlage für Individualität und Identität im Denken Arendts. Gelöst wird diese Spannung ihr zufolge erst durch die Tätigkeit des Urteilens, die schillernde Schlüsselfigur des arendtschen Spätwerks. Hier wird Arendt in eine Tradition des Selbstdenkens, im Sinne des mutigen Ergreifens der eigenen Denk- und Urteilskompetenz, eingeschrieben, welche u.a. auf Augustin verweist.

Die Erfahrung der Freiheit im menschlichen Willen ist also bei Jonas und Arendt eine durchaus dialektische, ambigue Erfahrung des inneren Zwiespalts, welche es durch eigenes reflexives bzw. urteilendendes Vermögen zu überwinden gilt. Kurbacher folgert am Ende ihrer so kundigen wie hellsichtigen Ausführungen in praktisch-ethischer Manier: „Insofern erfordert das Wollen – modern gesprochen – eine hochgradige Ambiguitätstoleranz“ (S. 129).

Armin Wildermuth geht in seinem Beitrag „Freiheit und die Welt der Erscheinung bei Hannah Arendt, Adolf Portmann und Heinrich Barth“ der Bedeutung von Weltlichkeit im Werk Arendts nach. Er betont die – seiner Ansicht nach ontologische – Bedeutung der Erscheinungshaftigkeit im Werk Hannah Arendts, wobei insbesondere der erste Band des Spätwerkes (Vom Leben des Geistes. Das Denken) in den Blick genommen wird. Die dort suggerierte Verschmelzung von Sein und Erscheinen impliziere die Gebundenheit des Seins an Beobachter, womit die plurale und weltliche Struktur in Arendts Ontologie umrissen ist. Wildermuth erkennt hierin ein „Erscheinungsproblem“ (S. 134), das er auf die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Perspektiven auf Erscheinendes bezieht, was jedoch in seinem Problemcharakter vage bleibt. Auch das sich der Erscheinung erst einmal entziehende Denken ist nach Wildermuth eine problematische Figur – „denn ein unsichtbares Erscheinen ist widersprüchlich“ (S. 135) – doch er anerkennt die Bedeutung, die Arendts konsequente Priorisierung der Erscheinungshaftigkeit vor der Verborgenheit zukommt: Es handelt sich um eine Umkehr der ‚metaphysischen Hierarchie‘ zwischen Wesentlichem und Akzidentiellem. Zugleich vermeidet Arendt einen Rückgriff auf eine Zwei-Welten-Theorie.

Inspiriert ist Arendt bei der Priorisierung der Erscheinung gegenüber dem Verborgenen u.a. durch die Arbeiten des Zoologen Adolf Portmann (1897-1982), dessen Werk Wildermuth zur Erläuterung thematisiert. Wildermuth führt Arendts Metapher der Bühne und Portmanns Kategorien von ‚Ausdruck‘ (etwas Verborgenes wird zum Ausdruck gebracht), ‚Darstellung‘ und vor allem der ‚Innerlichkeit‘ eng. Diese Vorstellung von Innerlichkeit füllt Arendt jenseits von Portmanns eigenen Absichten mit der existenziellen Erfahrung von Innerlichkeit im inneren Gespräch mit sich selbst und macht sie so als Figur des Rückzugs korrespondierend mit ihrem Primat der Erscheinungshaftigkeit fruchtbar. Wildermuth unterstreicht die methodologische Bedeutung der Abgeschiedenheit in der Innerlichkeit des Denkens und möchte darin einen Hinweis auf eine ‚philosophische Anthropologie‘ erkennen, die Arendt und Portmann verbinde.

Malte Maria Unverzagt präsentiert in seinem Beitrag „Karl Jaspers und das Umgreifende“ eine dichte Studie zu zentralen Termini des jaspersschen Werkes und lotet dabei die Bedeutung des Transzendenzbegriffs für die Vorstellung menschlicher Freiheit aus. Die Subjekt-Objekt-Spaltung ist bei Jaspers jene Ausgangskonstellation aus erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt, die jedem Erkenntnisprozess zugrunde liegt. Je nach Erkenntnisgegenstand wird diese unaufhebbare Differenz interessant: So zerfällt der Mensch, insofern er denkendes Subjekt und potentiell Objekt seiner Gedanken ist, selbst in diese Zerrissenheit. Auch das Sein als Erkenntnisgegenstand stellt eine Herausforderung dar: es lässt sich nicht gegenständlich verobjektivieren, ist vielmehr der Rahmen innerhalb dessen alles Denken und Erkennen stattfindet und der sich so dem Erkennen selbst immer entzieht. Jaspers bezeichnet das Sein aufgrund dieser Charakteristik, dem Menschen im philosophischen Erkenntnisprozess zu begegnen, als das ‚Umgreifende‘. Die Transzendenz – Jaspersʼ Äquivalent zum Gottesbegriff – ist nach Jaspers eine Weise des Umgreifenden, die dem Menschen gegenübersteht und wird in seiner Arbeit am Philosophischen Glauben zum Fluchtpunkt. Hier bedient sich Jaspers des Gedankens der ‚Chiffre‘, die zu lesen indirekt auf die Transzendenz verweist. Und genau in dieser dem Menschen gegebenen Möglichkeit, die Chiffren zu lesen, zu deuten und sich zu ihnen zu verhalten, erkennt Unverzagt das Moment menschlicher Freiheit.

Der Beitrag von Bernd Weidmann „Ohnmacht in der Freiheit. Spuren Augustins im Denken von Karl Jaspers“ ergänzt Hüglis und Unverzagts werkimmanente Perspektive, indem er die Frage nach der Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen auf der Schnittfläche von Lebens- und Werkgeschichte stellt. Dabei rückt Weidmann auch Augustin in Jaspersʼ Werk ins Rampenlicht und folgt ihm damit selbst, denn Augustin ist einer der drei Philosophen, die Jaspers in seinem Werk Die großen Philosophen (1957) neben Platon und Kant als ‚fortzeugende Gründer des Philosophierens‘ präsentiert. Und doch ist Jaspersʼ Verhältnis zu Augustin durchaus nicht vorbehaltlos – hier sind sich Hügli und Weidmann einig – und durchläuft im Laufe seines Lebens mehrere Wandlungen. Es ist die Umkehr Augustins zum Christentum, in der Jaspersʼ Reserve gründet, da er in ihr eine Unterordnung der Freiheit unter die göttliche Gnade erkennt. Vor diesem Hintergrund fragt Weidmann, weshalb er Augustin dennoch als ‚Zeitgenossen‘ (S. 181) liest und findet Antworten in Jaspers persönlichen Erfahrungen und Erschütterungen. Mithilfe von biographischen Zeugnissen und Notizen aus dem Nachlass belegt Weidmann kundig und überzeugend, ein Gefühl von Verlassenheit und Ohnmacht, das Jaspers – nicht dauerhaft, aber für kurze Zeit prägend – die eigene Bedürftigkeit nach einem Gott erfahren ließ. Diese Selbsterfahrung sei es, die ihn mit Augustin verbinde, auch wenn er dessen „Weg von der Philosophie zur Glaubenserkenntnis nicht bis zu Ende gegangen“ (S. 184) sei.

Christian Graf bestimmt in seinem Beitrag „Gnade im Kontext der Philosophie“ in Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie von Heinrich Barth die menschliche Freiheit in Relation zum Transzendenzbegriff. Er widmet sich hierfür einer differenzierten Analyse des Gnadenbegriffs bei Barth, dem er das Verständnis von Hans Jonas kontrastierend gegenüberstellt. Jonasʼ Analyse, Augustin würde der Gnade zu viel Raum gegenüber den menschlichen Fähigkeiten einräumen, sei zu sehr in einem starren Bipol aus Freiheit auf der einen und göttlicher Gnade auf der anderen Seite verhaftet. Barth hingegen greift Augustins Begriff der Gnade positiv auf, vertritt nicht eine solch ‚anthropozentrische‘ Philosophie und überzeugt nach Graf, indem er keiner der beiden Seiten – weder menschlicher Selbstwirksamkeit noch göttlicher Fremdbestimmung – das Wort rede und sich auch nicht damit zufriedengibt, dass „das Sinngeschehen methodisch niemals in den Griff zu bekommen ist“ (S. 221). Er erkennt bei Augustin vielmehr das Zeugnis authentischen Erfahrens und Erfassen des Phänomens der Gnade und denkt so die Verwobenheit von Aktivität und Passivität des Menschen, für welche die Figur der Unverfügbarkeit angeführt wird.

Johanna Hueck scheint Graf mit ihrer Darstellung des diffizilen Zusammenspiels von Transzendenz und menschlicher Freiheit in ihrem Beitrag „Freiheit und Kooperation. Das Verhältnis von Existenz und Transzendenz bei Heinrich Barth“ beizupflichten. In dem existenzphilosophisch so bedeutsamen Momentum der Entscheidung, mit welchem sich Barth in seinem Werk Die Freiheit der Entscheidung im Denken Augustins (1935) befasst, erscheint die menschliche Freiheit weder abstrakt noch statisch und erst recht nicht als konstantes Vermögen. Sie muss sich zeigen und in der konkreten Lebenssituation bewähren und das geschieht im Akt der Entscheidung. Aber diese ist nicht willkürlich selbstbestimmt, sondern rückgebunden an eine sie stiftende Gottesvorstellung (Transzendenz). Es gibt hier also nicht einen Urheber auf der einen und einen Effekt auf der anderen Seite, sondern zwei Ausgangspunkte der Entscheidung, die gemeinsam agieren und die Entscheidung hervorbringen – Gott und Mensch.

In Barths Augustinrezeption sieht Hueck ferner eine zeitgeschichtliche sogar politische Komponente. Diese versteht sie als „beharrliche Mahnwache“ (S. 230) angesichts der Entwicklung des Nationalsozialismus und des Krieges. Am Verhältnis von Augustins Denken zu seinem Leben erkennt Barth die „Geschichtlichkeit der Lebenslage“ (S. 230) und damit zusammenhängend die Notwendigkeit der Bewährung an der eigenen geschichtlichen Situation und die Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen Faktum des Bösen. An Augustin schätzt er dabei auch die Momente der Prädestinationslehre bzw. die Annahme des Sündenfalls. Denn diesen versteht Barth nicht als erdrückendes „auswegloses Kreuz“, sondern vielmehr als „Aufruf an den Menschen“ (S. 231), als „Aufforderung zur Selbstbescheidung“ (S. 231) und somit als eine Mahnung, die eigene geschichtliche Situation, von der man sich nicht gedanklich und freiheitsphilosophisch lösen kann, existenzphilosophisch ernst zu nehmen. Den sozialdarwinistischen Annahmen der Nationalsozialisten setze Barth deontologische Bestimmungen der menschlichen Existenz entgegen, die er abermals ausgehend von Augustin entwickelt. So ist seiner Existenzphilosophie ein Anspruch an jeden Einzelnen auf Bewährung eingeschrieben zur Verwirklichung der eigenen Existenz.

Der Band Existenz und Freiheit. Karl Jaspers, Hannah Arendt und Heinrich Barth zur Freiheitslehre Augustins gibt Anregungen zum Weiterdenken mit Jaspers, Arendt und Barth und bezeugt wie Augustin im 20. Jahrhundert das existenzphilosophische und politische Denken beflügelte.

Astrid Hähnlein

Freiburg i. Br.