Ausgabe 2, Band 13 – August 2024
Gertrude Lübbe-Wolff: Demophobie. Muss man die direkte Demokratie fürchten?
Gertrude Lübbe-Wolffs Buch Demophobie versteht sich als „ein Beitrag zur Diskussion über Vor- und Nachteile, Chancen und Risiken direkter Demokratie“ (9) und vergleicht Annahmen über direkte Demokratie mit Erfahrungen im In- wie Ausland, wobei sich letztere vor allem auf die Schweiz und die USA beziehen und nur wenige Fälle aus anderen Staaten wie u. a. Bolivien, Costa Rica, Kanada und Polen angeführt werden. In einem ersten Schritt geht die Autorin auf die aus ihrer Sicht „traditionellen Vorbehalte“ ein, um dann in einem zweiten Schritt die Bedeutung direktdemokratischer Instrumente zu diskutieren (vgl. 17).
Sie sieht zwei strukturelle Schwächen in der Argumentation, die die direkte Demokratie in ein falsches Licht rücken würden: Lübbe-Wolff nennt die eine Schwäche den Idealvergleichsfehler, der auf eine „realitätsentkoppelte Methode“ (28) hinausläuft, bei der die Realität der direkten Demokratie mit dem Ideal einer ethisch überlegenen repräsentativen Demokratie verglichen wird, wobei erstere schlecht abschneidet. Weiterhin gebe es noch einen Verallgemeinerungsfehler, bei der „‚der‘ direkten Demokratie bestimmte Vor- oder Nachteile zu- oder abgesprochen werden, ohne zu berücksichtigen, dass direktdemokratisches Entscheiden in sehr unterschiedlichen Ausgestaltungen mit sehr unterschiedlichen Wirkungstendenzen möglich ist und praktiziert wird“ (39). Argumente gegen die direkte Demokratie, die nur für einige direkte Abstimmungsverfahren gelten, würden so zu Pauschalurteilen gegen alle Verfahren der direkten Demokratie werden.
Lübbe-Wolff erörtert in ihrer Schrift die folgenden Ansichten in zehn Abschnitten: „Für Sachentscheidungen ist das Volk zu dumm“, „Direkte Demokratie begünstigt Demagogen“, „Vor allem in Finanzfragen ist dem Volk nichts zuzutrauen“, „‚Das Volk wird rechtslastige oder zumindest konservative Entscheidungen treffen‘ – oder linkslastige, oder jedenfalls unedle“, „Direkte Demokratie ist unsozial“, „Ja-Nein-Entscheidungen sind zu simpel und kompromisswidrig“, „Direkte Demokratie gefährdet Minderheiten“, „Direkte Demokratie passt nur zu kleinen Einheiten“, „Direkte Demokratie passt nicht zur repräsentativen“ und „Es fehlt an Verantwortung“. Diese plakativ geäußerten Vorbehalte werden in Schlagworten abgehandelt, ohne dass der situative Kontext der Kritik ersichtlich wird, in dem diese Vorbehalte jeweils in der Literatur zur direkten Demokratie zu finden sind. Dieser Ansatz ist problematisch, weil der Kontext der Bewertung dem Leser verborgen bleibt, aber die Antwort ihn bereits in die Richtung lenkt, die Lübbe-Wolff für richtig hält. Dies verhindert, dass der Leser das Für und Wider der Diskussion im thematischen Kontext verstehen und abwägen kann.
Der Abhandlung im ersten Teil der Schrift über die identifizierten Vorbehalte folgt ein zweiter, wesentlich kürzerer Teil, der unter der Überschrift „Vernachlässigte Argumente für direktdemokratische Entscheidungen“ steht. Dieser Teil des Buches macht quantitativ nur etwas mehr als ein Zehntel des Buches aus und führt nur vier Argumente auf: „Lösung des Problems der geschnürten Politikpakete“, „Demokratisierung der Außenpolitik“, „Gegengewicht zur Kurzfristorientierung repräsentativ-demokratischer Politik“ und „Fehlerkorrekturfreundlichkeit“ (vgl. 133-145). Der extrem kurze Abschnitt ist auch deshalb mehr als problematisch, weil er sich nicht mit den institutionellen Überlegungen zur repräsentativen Demokratie befasst, mit denen direkte Entscheidungsverfahren immer verbunden sind und in die sie bei Einführung direktdemokratischer Verfahren eingebettet bleiben müssen. So diskutiert Lübbe-Wolff nicht, ob es in bestimmten Kontexten nicht kontraproduktiv wäre, das Problem der geschnürten Politikpakete zu lösen, womit sie die Auflösung der ausgehandelten politischen Kompromisspakete meint, obwohl diese eventuell die Befriedung der Gesellschaft erlauben. Die ausschließliche Betonung der Bedeutung der Selbstbestimmung der Wähler, die ihr als einziger und wahrer Wert gilt, verhindert dies, könnte sich aber als schwerwiegende Verkürzung erweisen.
Noch problematischer ist in diesem Kontext folgender Vergleich, der wohl in nuce das Demokratieverständnis der ehemaligen Verfassungsrichterin widerspiegelt – wortwörtlich: „Das Wählen wird immer schwieriger und zumutungsreicher – so als dürfte man im Supermarkt die benötigten und gewünschten Lebensmittel nicht einzeln kaufen, sondern nur in nach Art eines Geschenkkorbs fertig arrangierten Zusammenstellungen, bei denen Vieles den eigenen Bedarf und Geschmack nicht trifft.“ (136) Diese Aussage, die der Einsicht Max Webers, dass Parteien immer Parteien der Weltanschauung sind, grundlegend widerspricht, wirft weitere Fragen auf: Offensichtlich liegt der Vorteil der direkten Demokratie in einer weiteren Fragmentierung und Individualisierung der Demokratie, die einem „pick and choose“ individueller Präferenzen gleichkommt und als „Supermarktmodell“ alle Bindungen, die die Gesellschaft zusammenhalten, über Bord wirft. Politische Prozesse sind jedoch keine „pick and choose“-Prozesse, die keine soziale Rücksichtnahme oder Zugeständnisse gegenüber anderen Teilen der Bevölkerung verlangen und nur dazu dienen, den eigenen Nutzen zu maximieren.
Auslöser für Lübbe-Wolffs Studie zur Frage, ob Sachentscheidungen in einer direkten Abstimmung „dem Volk“ überlassen werden können, waren wohl einerseits das Brexit-Votum in Großbritannien und andererseits die Wahlerfolge populistischer Parteien und Politiker wie Silvio Berlusconi, Donald Trump, Victor Orbán, Recep Tayyip Erdogan, Boris Johnson, Mateusz Morawiecki, Giorgia Meloni, aber auch die populistischen Politiker der zweiten Reihe wie Geert Wilders, Marine Le Pen, Nigel Farage und Matteo Salvini. Diese Protagonisten hätten dazu beigetragen, dass alte, antidemokratische Vorurteile in die Debatte zurückgekehrt sind und sich das Blatt zu Ungunsten von mehr direkter Demokratie gewendet hat (vgl. 16), insbesondere „da eine Partei wie die AfD sich entschieden für Volksabstimmungen einsetzt“ (ebd.).
Trotz dieses von der Autorin manifestierten Stimmungsumschwungs gegen die direkte Demokratie müssten aber die Möglichkeiten und Grenzen der direkten Demokratie diskutiert werden. Das Buch richtet sich daher an ein breites Publikum und nicht nur an Juristen oder Politikwissenschaftler. Aus diesem Grund wurden Rechtssprechungshinweise wie bibliografische Angaben in die Fußnoten verwiesen. Gleiches gilt für ausführlichere Kommentare und Erklärungen, die vom Leser je nach Bedarf genutzt oder ignoriert werden können, ohne den Lesefluss zu stören. Nicht zuletzt wurde am Ende des Buches ein terminologisches Glossar angefügt, so dass auch Nichtfachleute die verwendete Fachterminologie leicht verstehen können.
Obwohl sich die langjährige Bundesverfassungsrichterin bemüht, ihre Gedanken einem breiten Publikum zugänglich zu machen, hat sie dem Buch einen Titel gegeben, der für Laien nur schwer verständlich ist: Demophobie – was so viel wie „Die Angst vor dem Volk“ bedeutet. Der Titel des Buches insinuiert, dass die Ablehnung der direkten Demokratie auf die Angst der herrschenden politischen Klasse vor dem Volk zurückzuführen sei. Hier lässt sich ein deutliches Fragezeichen setzen, denn eine Evidenz für diese steile These wird nicht genannt. Der Untertitel des Buches „Muss man die direkte Demokratie fürchten?“ fasst das Thema dagegen viel prägnanter, da er die Frage der kleinen Studie ergebnisoffen stellt. In dieser Hinsicht wirkt der Buchtitel Demophobie ein wenig gezwungen, da er programmatisch irreführend ist.
Die Argumentation von Lübbe-Wolff ist lesenswert. Sie beschreibt die direkte Demokratie als direkte Abstimmung der Bürger über Sachfragen (11), die in Deutschland auf kommunaler und Landesebene als Entscheidungsmöglichkeit vorgesehen ist, de facto aber, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht auf Bundesebene. Die letztgenannte Ebene, auf der die meisten Gesetze entstehen, basiert auf einer fast vollständig repräsentativen demokratischen Verfassung. Die Sinnhaftigkeit dieser Vorgaben der Mütter und Väter des Grundgesetzes bezweifelt die Autorin, indem sie fragt: „Ist es weniger schlimm, wenn unzureichende Folgenvoraussicht üble Autokraten an die Macht bringt, als wenn sie zu einer ‚falschen‘ Entscheidung in einer Rentenfrage oder einer Verfassungsfrage der EU führt?“ (22)
Diese Frage ist ebenso insinuierend, denn sie suggeriert, dass es einen „Trade-off“ zwischen an die Macht kommender Autokraten und der Ermöglichung direktdemokratischen Abstimmungen gibt. An diesem Punkt blitzt keine nüchterne Analyse auf, sondern vielmehr ein politisches Programm, das vor allem von linken Parteien vehement gewünscht wird, deren schwindende Mitglieder- und folglich Machtbasis die Wahrscheinlichkeit eigener Mehrheiten in Zukunft unwahrscheinlicher werden lässt. Die direkte Demokratie böte ein Instrument der politischen Agitation, indem sie durch Volksabstimmungen Kompromisse von der Regierung einfordert, aber auch die Möglichkeit, sich durch die Generierung von Vetomacht weiterhin als gestaltende Kraft innerhalb des Parteienspektrums den Wählern zu präsentieren.
In repräsentativen Demokratien spiegelt die direkte Demokratie nicht die Politik der Mehrheit wider, da diese bereits in den Parlamentswahlen ermittelt wurde und die Wähler der Regierung eine vorübergehende Handlungsbefugnis in allen Politikbereichen erteilt haben. Besonders paradox ist in diesem Zusammenhang, dass gerade Parteien, die die Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene befürworten, derzeit eine Wahlrechtsreform auf den Weg gebracht haben, die dazu führen kann, dass direkt vom Volk gewählte Abgeordnete nicht mehr in den Deutschen Bundestag einziehen. Leider wird dieser inhärente Widerspruch nicht erkannt.
Dies lässt sich damit erklären, dass die direktdemokratischen Verfahren diesen Parteien ein Vetorecht verschaffen, was die Bedeutung des Parlaments und der Parteien schwächt und stattdessen ein außerparlamentarisches Vetorecht ermöglicht. Neben Bürgerinitiativen, Verbänden und Interessenvertretungen treten dann auch die Gerichte als Veto-Akteure auf, alles neue Akteure, die durch einen Volksentscheid ermächtigt werden, der in einer auf Wettbewerb ausgerichteten parlamentarischen Demokratie die Parteien oft alt aussehen lässt. Ob dies die Demokratie fördert oder stärkt, müsste daher noch untersucht werden. In den USA scheint dies jedenfalls eine deutlich spaltende Wirkung auf die Gesellschaft zu haben.
Die Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene würde bedeuten, dass Regierungsparteien immer weniger in der Lage wären, den Regierten ihre eigene Handschrift aufzuzeigen, denn die Disruption der deutschen Politik, die durch ständige Landtagswahlen schon jetzt die Geschäfte des Deutschen Bundestages bestimmt, würde durch zusätzliche Volksentscheide noch ausgeprägter werden. Einer der Hauptvorwürfe in der aktuellen Debatte um Politikverdrossenheit lautet, dass die Profile der Parteien der repräsentativen Demokratie zunehmend verwischen. In dieser Hinsicht würde die Einführung der direkten Demokratie auf Bundesebene dieses Manko verschärfen. Angesichts der nächsten Bundestagswahl haben die Wählerinnen und Wähler jedoch das Recht zu erkennen, was die Handschrift einer Regierung ist und wie gut ihre Politik in Zukunft voraussichtlich sein wird.
Genau das können Volksabstimmungen kaum leisten, da komplizierte Fragen auf eine einfache Ja- oder Nein-Entscheidung heruntergebrochen werden müssen. Darüber hinaus führen solche binären Referendumsverfahren zu weniger Kompromissen zwischen den Parteien im Parlament. Dies kann zu einer Verhärtung der Fronten zwischen den parlamentarischen Parteien führen, wie dies seit Jahren in den USA zu beobachten ist, wo im dortigen Zweiparteiensystem ein so genanntes „bipartisanship“ kaum mehr möglich ist. Hierunter versteht man in den USA den Prozess der Kompromissfindung zwischen den beiden großen Parteien. Ähnliche Prozesse sehen wir in europäischen Ländern wie Ungarn und Polen, wo sich Regierung und Opposition intransigent gegenüberstehen.
Die Parteiendemokratie, die Gegenstand der repräsentativen Demokratie ist, ist aber auf parteiübergreifende Kompromisse angelegt und ausgerichtet (vgl. Gerhardt 2007, 373-421). Diese machen zwar die beste aller Entscheidungen unmöglich, verhindern aber zugleich, dass Entscheidungen zu einem archaischen Schwarz-Weiß-Denken mutieren, das die Gesellschaft in zwei Lager teilt. Kompromisse in der Grauzone des politischen Gebens und Nehmens sollen eine befriedende Wirkung auf die Gesellschaft zeitigen, da sie nicht die Maximalinteressen einer Gruppe durchsetzen, sondern jede Seite Zugeständnisse machen muss, so dass sich eine möglichst breite Bürgerschaft hinter dem Kompromiss versammeln kann.
Die Befriedung und der Ausgleich gesellschaftlicher Konflikte durch parlamentarische Kompromisse in der pluralistischen repräsentativen Demokratie, auch Gemeinwohl genannt, berücksichtigt in besonderem Maße die Interessen von Minderheiten, sofern diese nicht zu Lasten der Mehrheit gehen. Der Schutz der Minderheitenrechte ist eine der großen Stärken der parlamentarischen Demokratie, die durch ein Referendum in Frage gestellt werden können (vgl. Bobbio 1984). Lübbe-Wolff nennt selbst als einen solchen Fall einer Volksabstimmung den Schweizer Minarettstreit, der als Resultat populistische und nicht pazifizierende Züge trug (vgl. 58f.).
Die Polarisierung, die durch eine einfache Ja-/Nein-Abstimmung hervorgerufen werden kann, kann auch zu einer räumlichen Trennung innerhalb eines Staatsgebietes führen: So wäre ein völlig unterschiedliches Wahlverhalten zwischen den ost- und westdeutschen Bundesländern denkbar. Empirisch lässt sich so etwas sogar in der Schweiz beobachten: Betrachtet man die Abstimmung über die UNO vom 3. März 2002, so zeigen sich erhebliche Unterschiede in den verschiedenen Kantonen, die von Zustimmungsraten von 32,5% bis 66,9% reichten (vgl. Hirter 2002). Der UNO-Beitritt mag kein Thema sein, das zu anhaltenden Friktionen zwischen den Kantonen führt, aber bei anderen Abstimmungsthemen ist dies vorstellbar. Man denke an Themen wie Atommülllager oder ähnliches, wo die Gefühle innerhalb der Kantone der Eidgenossenschaft sicherlich stärker ausgeprägt wären. Es ist nicht auszuschließen, dass Volksabstimmungen innerhalb eines Staates Zerwürfnisse und neue Diskussionen auslösen und daher nicht das Ende einer Auseinandersetzung sein müssen.
Gleichzeitig stärken Volksabstimmungen automatisch diejenigen, die in der Lage sind, Themen zu formulieren, die dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden sollen, die über Geld und Ressourcen für Kampagnen verfügen, die eine besondere Leidenschaft für ein Thema haben (siehe z.B. Umweltschutz, Abtreibungen, Sterbehilfe etc.) und diejenigen, die Zugang zu den Medien besitzen. Da die Autorin vor allem Volksabstimmungen in den Einzelstaaten der USA bzw. in der Schweizerischen Eidgenossenschaft diskutiert, also in Territorien, die noch überschaubarer sind als manche Nationalstaaten, ergeben sich weitere Einwände: Für Bürgerinitiativen auf nationaler Ebene ist es in großen Ländern viel schwieriger als für professionelle Organisationen (sei es für Unternehmen, Lobbygruppen oder Industrieverbände usw.), Kampagnen zu finanzieren, in Personal, Organisation und Medienkommunikation zu investieren.
Aber auch abgesehen von der Frage der Ressourcen haben Desinformations- kampagnen, Verschwörungstheorien und die Einmischung von außen in nationale Wahlen in den letzten Jahren neue Gefahren für demokratische Volksentscheide aufgezeigt, die Lübbe-Wolff nicht diskutiert, abgesehen davon, dass sie sehr allgemein von der Notwendigkeit der richtigen Ausformulierung der Instrumente der direkten Demokratie spricht. Es wird nicht klar, wo sie die Grenzen der direkten Demokratie im Vergleich zur repräsentativen Demokratie sieht.
Unter den bundesrepublikanischen Umständen ist es denkbar, dass selbst in der Bevölkerung bestehende Mehrheitsmeinungen bei Abstimmungen nicht zum Tragen kommen. Auch hier führt Lübbe-Wolff selbst ein Beispiel an, das ihrer eigenen These widerspricht, und bekräftigt dies mit dem Hinweis auf das manipulierte Brexit-Votum, das auf falschen Tatsachen beruhte, aber nur deshalb schiefgelaufen sei, weil es dem Volk von oben aufgezwungen wurde. Dies ist jedoch kein Beweis dafür, dass ein Referendum von unten nicht ebenso manipulativ sein kann.
Letzteres ist auch unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass z.B. der Internetriese Amazon die Kalifornier 2011 darüber abstimmen ließ, ob sie Steuern auf Internetkäufe zahlen wollten (vgl. Brinkmann 2011). Zu diesem Zweck griff der internationale Internetriese auf eine Unterschriftensammelindustrie zurück, bei der nicht idealistische Aktivisten, sondern bezahlte Unterschriftensammler die für das Referendum benötigten Unterschriften besorgten. Wer dies nicht als Ungleichbehandlung gegenüber Privatpersonen ansieht, die dies in ihrer Freizeit erbringen müssen, könnte zu dem irrigen Schluss kommen, dass trotz solcher Ungleichheiten mehr Demokratie erreicht werden kann.
Bereits in dem von James Madison verfassten Federalist Paper Nr. 51 heißt es, dass die Wahrung der Bürgerrechte und der religiösen Rechte auf der Pluralität der Interessen und Meinungen beruht, was bedeutet, dass neben der Gewaltenteilung auch ein ausgewogener Wettbewerb zwischen allen gesellschaftlichen Kräften nötig ist, um ein effektives Gleichgewicht der Kräfte zu erreichen (Hamilton/Madison/Jay 2007, 319-323). Die unterschiedlichen Hürden aufgrund einer Unterschriftensammlungsindustrie sprechen nicht für einen solchen ausgewogenen Wettbewerb.
Der Vergleich ist auch in anderen Bereichen unzureichend:
• Die Schweiz ruht auf einem stärkeren Föderalismus als Deutschland auf. Ihre Parteien sind auf Bundesebene schwach, was auf die Mehrsprachigkeit und die kulturellen Grenzen innerhalb der Eidgenossenschaft zurückzuführen ist. Das Land ist neutral und reich, mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, das fast doppelt so hoch ist wie in Deutschland. Der Polarisierung durch Volksentscheide steht der auf Kompromiss und sozialen Ausgleich ausgerichteten Konkordanzdemokratie in Deutschland in dieser Form nichts entgegen, so dass das Schweizer Modell für das deutsche Regierungssystem wenig Relevanz hat. Und in den USA erleben wir seit Jahrzehnten einen tiefer werdenden Graben zwischen den beiden Parteien, so dass die dortigen Erfahrungen ebenso kein Vorbild sind. Ob Volksabstimmungen, wie sie in den US-Bundesstaaten u.a. zu Abtreibungspraktiken durchgeführt werden, zu diesem Antagonismus beitragen, bedarf zwar einer empirischen Untersuchung, aber es scheint wahrscheinlich zu sein.
• Die ehemalige Verfassungsrichterin geht leider nicht auf die Besonderheit der Schweizer Konkordanzdemokratie ein, die mit direktdemokratischen Verfahren besser vereinbar ist als eine repräsentative Demokratie, da sie auf einer Kultur des ständigen Kompromisses sowie der überparteilichen Zusammenarbeit zwischen allen Parteien basiert. Die Neigung der Schweizer Parteien zu Kompromissen und zur Aushandlung von Streit im überparteilichen lagerübergreifenden Kollegium des Bundesrates, der die Regierung der Schweizerischen Eidgenossenschaft darstellt, und als eine Art Allparteienregierung fungiert, wird durch die direkte Demokratie weiters befördert, entspricht aber nicht dem Wettbewerbscharakter des deutschen Parlamentarismus. Es ist daher kaum anzunehmen, dass nationale Volksabstimmungen in Deutschland so harmonisch verlaufen würden wie in der Schweiz.
• In einer parlamentarischen Demokratie ist jedes Mitglied des Parlaments nur seinem Gewissen verpflichtet. Es handelt sich nicht um eine Räterepublik und daher gibt es kein imperatives Mandat, sondern jeder Abgeordnete soll sich bewusst an seinem Gewissen orientieren. Lübbe-Wolff zeigt anhand der Todesstrafe, dass diese auch in Staaten mit einer repräsentativen Demokratie vollstreckt wird, so dass diese Staatsform keine Garantie für deren Abschaffung sei. Daraus folgert sie, dass sich kein Einfluss auf die Frage der Todesstrafe ableiten lässt. Gleichzeitig zeigt sie sich selbst widersprechend auf, dass es eine Wechselwirkung zwischen Plebisziten und Todesstrafe in den USA gibt. Denn wo immer in den Bundesstaaten Volksentscheide möglich sind, übt dies Druck auf die Politiker aus, sich nicht gegen die Volksmeinung und damit überwiegend nicht gegen die Todesstrafe zu stellen (vgl. 52ff.). Insofern beschreibt Lübbe-Wolff selbst ungewollt, wie Volksentscheide die individuellen Gewissensentscheidungen von Abgeordneten beeinflussen. Genau dies aber wollte das Grundgesetz verhindern, da die Ereignisse des Nationalsozialismus dazu Anlass gaben.
Die Grundannahme des Textes unterliegt einem schweren Missverständnis: „Im Übrigen kommt es auch nicht ausschließlich darauf an, dass die sachlich bestbegründete Entscheidung getroffen wird. Es geht um Selbstbestimmung, soweit diese eben in Angelegenheiten, über die allgemeinverbindlich kollektiv entschieden wird, möglich ist.“ (22) Letzteres lässt einerseits alles offen, macht aber andererseits auch alles möglich. Da die Autorin selbst die Außenpolitik nicht von Volksabstimmungen ausnehmen will, sondern explizit deren Demokratisierung fordert, die wohl dann auch die Diplomatie obsolet machen würde, bedeutet dies auch, dass Volksabstimmungen in Deutschland auch Entscheidungen über Krieg und Frieden umfassen könnten. Dies ist kaum mit der neutralen Schweiz vergleichbar. Aber will man wirklich keine „ausschließlich sachlich begründete Entscheidung“ für solche Entscheidungen?
Der Hinweis, dass bei einem Referendum zumindest die Entscheidungsträger selbst die Suppe ihrer selbst getroffenen Entscheidung auslöffeln müssten, ist ebenso wenig beruhigend, muss so nicht eintreten und ist nichts anderes als ein politisches Vabanquespiel. Der Schaden, der hier entstehen kann, ist so groß, dass die Zuweisung der Verantwortung an die Mehrheitsentscheider im Referendum als selbstverschuldetes Bürgerversagen diesen nicht heilen könnte – immer unter der Annahme, dass der Schaden direkt in der Generation entsteht, die für die Entscheidung verantwortlich ist. Die Klimaschutzdebatte zeigt aber, dass das „Auslöffeln der Suppe“ nicht zwangsläufig in der Generation der Entscheidungsträger stattfinden muss. Hierfür hält man in den Parlamenten neben wissenschaftlichen Diensten, Expertenanhörungen etc. auch bewusst Ausschüsse vor, die solche Sachentscheidungen aufwendig für die Parlamente vorbereiten. Darüber hinaus stehen die fachlich zuständigen Abgeordneten in einer arbeitsteiligen Welt in ständigem Kontakt mit den Gruppen, die sich außerhalb des Parlaments mit dem jeweiligen Politikbereich beschäftigen. Die Fachpolitiker haben in ihren Politikbereichen einen privilegierten Zugang zu Informationen, die Bürgerinitiativen in dieser Form kaum zur Verfügung stehen; alles Dinge, die bei Volksabstimmungen nicht gewährleistet sind und auch nicht sein können, weil die Arbeit in den Parlamenten nicht punktuell, sondern kontinuierlich ist und es kaum ständige Ausschüsse für einmalige Volksabstimmungen geben kann.
Auch hier reicht es nicht aus, wenn das Ergebnis von Volksabstimmungen darin besteht, dass sowohl das Informationsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger im Vorfeld steigt als auch das Volk durch die Abstimmung mehr Entscheidungskompetenz erlangt. So wünschenswert beides sein mag, die schnell aufbereiteten Informationen können eine gründliche Sachkenntnis sowohl der Politiker als auch der ihnen zuarbeitenden Stäbe kaum ersetzen. Es ist kein Zufall, dass moderne Gesellschaften auf Arbeitsteilung angewiesen sind, denn auch im politischen Bereich gilt es gewisse Spezialisierungsvorteile zu heben, zumal die Arbeitsteilung Politik erst möglich macht (vgl. Gerhardt 2007, 415), da die Bürger kaum die Zeit und Muße hätten, alle politischen Entscheidungen selbst zu treffen. Es kann durchaus sein, dass die Bürger selbst informierte Politiker als Vertreter bevorzugen, die in ihrem Namen Entscheidungen treffen.
Es stellen sich auch weitere Fragen zur Verantwortung, wie u.a. Görg Haverkate ausführt: „Das Parlament entscheidet, ist aber durch die Autorität des Volkes von eigener Verantwortung entlastet. Das führt zu Entscheidungen, die insgesamt nicht von der nötigen Entscheidungsverantwortung getragen sind.“ (1992, 370) Welche Verantwortung soll Mehrheitsentscheidungsträger bei einem Referendum zugewiesen werden? Wir wissen nicht, wer wie abgestimmt hat, so dass eine Zuordnung schon an der Anonymität des Abstimmungsprozesses scheitert, während in einem Parlament die Abgeordneten durch ihre Debattenbeiträge klar Farbe bekennen müssen.
Es gibt auch keine empirische Evidenz, dass sich der Grund der Politikverdrossenheit aus der repräsentativen Demokratie und der Entfremdung zwischen Politiker und Wahlvolk und dem Wunsch nach mehr direkter Demokratie speist. Hier werden zwei unterschiedliche Aspekte in unzulässiger Form vermischt. Ein Blick auf direktdemokratische Abstimmungen auf Kommunalebene verrät, dass dies kaum der Grund sein kann, denn die Lust an direkter Demokratie ist dort – vorsichtig formuliert – bei den Wählerinnen und Wählern äußerst überschaubar. Es mag gute Gründe für die direkte Demokratie geben, aber es gibt keinen Beweis dafür, dass mehr Volksabstimmungen zu besserer Politik und weniger Politikverdrossenheit führen.
Leider geht das Buch nicht auf die Gefahr ein, die in einer repräsentativen Demokratie, die weder über ein Präsidialsystem wie die Vereinigten Staaten noch über eine Konkordanzdemokratie wie die Schweiz verfügt, von Aufständischen ausgehen kann, die ein Referendum an sich reißen und es manipulieren. Eine pauschale Bevorzugung von Volksentscheiden, wie sie Lübbe-Wolff vornimmt, gibt hierauf keine Antworten. Die angeführten empirischen Befunde entsprechen nicht dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg sieht in der geeichten bundesrepublikanischen Staatsstruktur bei Einführung von Volksabstimmungen jedenfalls Unverträglichkeiten mit der Verfassungssouveränität (vgl. 2006), die es auszuloten gegolten hätte.
Obwohl die Autorin immer wieder betont, dass es auf die detaillierte Ausgestaltung einer direkten Demokratie ankommt, bleibt Lübbe-Wolff äußerst vage, wie eine sinnvolle Ausgestaltung aussehen soll. Es genügt nicht zu sagen, dass die Zahl der Volksabstimmungen überschaubar sein muss, dass Referendumsinitiativen von unten kommen sollten, dass ein „Abstimmungsbüchlein“ wie in der Schweiz ratsam und die Zusammenlegung von Wahlterminen wünschenswert wäre. Dies qualifiziert noch nicht als Ausgestaltung, zumal Manipulation, Desinformation, Aufstachelung zum Hass, gewaltsame Auseinandersetzungen usw. ausgeschlossen werden müssen – ganz zu schweigen von Fragen der Umsetzung, der Dauer einer Lösung, der Nachjustierung und der Korrekturmöglichkeiten usw.
Die ehemalige Verfassungsrichterin wurde zu diesem grundsätzlichen Plädoyer wohl durch den Wunsch nach einer anderen Politik und den Vergleich mit den Schweizer Erfahrungen angeleitet. Es bleibt jedoch zu befürchten, dass sie sich dann auch für eine neue Verfassung nach Schweizer Vorbild einsetzen müsste, da die von ihr primär referierte schweizerische Ausformung direkter Demokratie mit der eidgenössischen Konkordanzdemokratie eine Einheit bildet, die in Wechselwirkung miteinander stehen.
Gertrude Lübbe-Wolff hat eine Streitschrift verfasst, die als persönliches Credo für mehr direkte Demokratie zu verstehen ist, die aber die Gegenargumente nicht ausreichend berücksichtigt. Letzteres resultiert aus der Heranziehung empirischer Daten aus ganz anderen verfassungsrechtlich-situativen Kontexten, die nicht mit dem Regierungssystem in Deutschland einhergehen. Darüber hinaus ist der Blick auf die repräsentative Demokratie verkürzt, sowohl was deren Leistungsfähigkeit als auch der ihr zugeschriebenen Unzulänglichkeiten in Zeiten von Politikverdrossenheit anbetrifft. Die direkte Demokratie kann nicht die Antwort auf diese Kritik sein, da diese Defizite anderer Natur sind. Es ist zum Beispiel nicht die Selbstbestimmung, die die Wähler fordern, wie ein Blick auf mangelnde Beteiligung an Bürgerbegehren im Kommunalbereich indexiert.
Als Streitschrift kann das Buch als kritische Lektüre dienen und eine Debatte über die direkte Demokratie anregen, auch wenn dies nur ein erster Anfang sein kann. Der aufklärerische Duktus der Schrift sollte nämlich nicht unreflektiert mit Aufklärung gleichgesetzt werden.
Literatur
Bobbio, Norberto: „Die Mehrheitsregel: Grenzen und Aporien“, in: Bernd Guggenberger / Claus Offe (Hrsg.): An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie. Opladen: Westdeutscher Verlag 1984, 108-131.
Brinkmann, Bastian: „Amazon lässt Kalifornier abstimmen. Wollen Sie Steuern zahlen?“ in: Süddeutsche Zeitung, 15.07.2011 [letzter Abruf 15.02.2024: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/amazon-laesst-kalifornier-abstimmen-wollen-sie-steuern-zahlen-1.1119670].
Gerhardt, Volker: Partizipation. Das Prinzip der Politik. München: C. H. Beck 2007.
Hamilton, Alexander / Madison, James / Jay, John: Die Federalist Papers. Vollständige Ausgabe. Herausgegeben und übersetzt von Barbara Zehnpfennig. München: C. H. Beck 2007.
Haverkate, Görg: Verfassungslehre. Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung. München: C. H. Beck 1992.
Hirter, Hans: „Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 3. März 2002“, in: VOX – Analysen eidgenössischer Urnengänge, Nr. 76, hrsg. vom GfS-Forschungsinstitut in Zusammenarbeit mit den politikwissenschaftlichen Instituten der Universitäten Bern, Genf und Zürich, 1977ff., 2002.
Kielmansegg, Peter Graf: „Über direkte Demokratie – sechs Anmerkungen zu einer unbefriedigenden Debatte“, in: Uwe Backes / Eckhard Jesse (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie (E & D). Baden-Baden: Nomos 2006, 57-80.
Ulrich Arnswald
Privatdozent, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck / Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserlautern-Landau