Ausgabe 1, Band 13 – Dezember 2023
Verstehen heißt, die Fremdheit annehmen
Rezension: Barbara von Bechtolsheim: Hannah Arendt und Heinrich Blücher. Biografie eines Paares. Berlin: Insel Verlag 2023. 280 Seiten
Die Ehe von Hannah Arendt und Heinrich Blücher ist nicht zu Letzt durch den veröffentlichten Briefwechsel der beiden zum Fixpunkt einer idealen und romantisierten intellektuellen Beziehung worden. Nun ist jüngst ein neues Buch über dieses berühmte, gleichwohl ungleiche Paar von Barbara von Bechtolsheim erschienen, das verspricht neue Quellen und neue Dokumente heranzuziehen. Die große Frage ist, inwieweit es zur Erhellung der Beziehung und eines sich daraus entsponnenen Denkens beiträgt, insbesondere, weil Blüchers amerikanische Lehrtätigkeit seit einigen Jahren für Forschungszwecke verfügbar ist. Doch solch einen systematischen Anspruch verfolgt Barbara von Bechtolsheim nicht, sondern legt ihren Fokus – wie schon Bernd Neumann fünfundzwanzig Jahre zuvor – vor allem auf die Biografie des Paares. Auf diese Weise ist es ihr trotzdem ausgesprochen gut gelungen, eigene Recherchen sowie Interviews mit Zeitzeugen mit einem sehr einführenden Gestus in das Denken des Ehepaares Hannah Arendt und Heinrich Blücher zu verbinden.
Damit bin ich auch gleich bei den Vorzügen dieses kleinen, wohlkomponierten und wunderbar angenehm zu lesenden Bandes. Barbara von Bechtolsheim vermag es, uns die Geschichte von Hannah Arendt und ihrem Heinrich „wie ein warmes Tuch über die Schultern“ zu legen. Sie bedient sich dabei vielen bekannten Zitaten und führt die Eingeweihten auf diese Weise zurück in das vertraute Gebäude des Arendtschen Denkens. Von Bechtolsheim wirft jedoch aus dem Blickwinkel Blüchers ein neues Licht in diese Räume, indem sie die veröffentlichten Blücher-Vorlesungen der New School for Social Research und des Bard Colleges in ihre Biografie einbezieht. Diese Beachtung der überlieferten Vorlesungen hebt das Buch aus allen anderen biografischen Schriften insbesondere zu Hannah Arendt heraus.
Dabei verlässt sich von Bechtolsheim zunächst auf die immer wieder tradierten Quellen und Erzählungen, die Elisabeth Young-Bruehl oder Bernd Neumann zusammengestellt oder jüngst in den Veröffentlichungen zu Heinrich Blücher herausgearbeitet worden sind. Mitunter geht von Bechtolsheim mit dem Nachweis ihrer Quellen leider ziemlich frei um und neigt zu erstaunlicher Nähe im Duktus und der Wortwahl ohne nachweislich zu zitieren.1 Damit schreibt von Bechtolsheim grundsätzlich auch die schon bekannte, wiederholt tradierte und romantisierte Geschichte des intellektuellen Ehe- und Liebespaares Arendt-Blücher fort.
Ungewöhnlich an dieser Doppelbiografie ist aber dessen Komposition. Schon nach den ersten vier Kapiteln (von neun) sind die Biografien zu Ende erzählt. In den folgenden zwei weiteren Kapiteln widmet sich von Bechtolsheim zwei systematischen Aspekten, die in dem Denken von Arendt und Blücher auftreten: Das ist zum einen das Handeln und die Freiheit, zum anderen das „Denken ohne Geländer“ als ein Denken gegen die totalitäre Versuchung.
Es ist der große Vorzug des Buches diesen Vergleich von Arendt und Blücher nicht zu scheuen, wenngleich er eingespannt in die biografische Erzählung der jeweiligen Hochschulkarrieren verbleibt. Obwohl von Bechtolsheim, insbesondere das Denken von Heinrich Blücher betreffend, auch nur an der Oberfläche schürft, gelingt ihr im Vergleich die Herausarbeitung eines für den Denkprozess Hannah Arendts nicht zu unterschätzenden Aspektes: Denken ist ein dialogisches Vorgehen und muss Widersprüche anerkennen. Obwohl Arendt selbst sagt, das Denken „ein Durchsprechen einer Sache mit sich selbst ist“, verdeutlicht von Bechtolsheim, dass das Durchsprechen ihrer Gedanken mit Heinrich Blücher für Arendt „als das wesentliche Mittel, Trugbilder zu vermeiden oder zu erkennen“ war (S. 138). Gleichzeitig deutet von Bechtolsheim daraufhin, dass das damit einhergehende Verstehen, vor allem das Aushalten von Konflikten meint und unabdingbar mit einer Geste der Versöhnung verbunden ist: „In einem offenen Verstehen, das Fremdheit nicht etwa aufhebt, sondern annimmt, kommen wir in der Gegenwart wirklich an.“ (S. 139) Die gemeinsame und oft beschriebene (laute) Debatte zwischen Arendt und Blücher galt also nie der Sache allein wegen, sondern der Herausstellung und der gleichzeitigen Anerkennung verschiedener Perspektiven. Erst vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, welch Verlust Blüchers Tod 1970 für Arendt bedeutet haben muss: Von da an fehlte ihr nicht allein der Ehepartner, sondern ein im Denken anzuerkennender Widerpart.
Aus diesem Grund ist vermutlich bemerkenswert, dass Arendt zumindest versuchte, andere Beziehungen ähnlich zu führen. Dem geht auch von Bechtolsheim nach, indem sie die zwei folgenden Kapitel den Beziehungen des Ehepaares zu anderen Menschen widmet. Auf Seiten Hannah Arendts werden die Verhältnisse zu Martin Heidegger und Günther Stern (Anders) rekapituliert. In diesen Skizzen kann man zumindest erahnen – obwohl das von Bechtolsheim nicht herausarbeitet –, dass das Denken zu zweit weder Heidegger noch Stern besonders Nahe lag und diese Herren sich auf einen ebenbürtigen Dialog gar nicht einlassen konnten. Von Arendt selber wissen wir, dass sich Heidegger in seiner eigenen Fuchsfalle verfangen hatte und Günther Sterns Schilderungen seiner Gespräche mit Arendt berichten eher von gegenseitigen Überzeugungsbemühungen statt von einem die Widersprüche anerkennenden Dialog (vgl. Günther Anders: Kirschenschlacht. Dialoge mit Hannah Arendt, München 2011).
Interessant und befreiend ehrlich ist die Schilderung der Beziehung Heinrich Blüchers zu Charlotte Beradt. Hier zeigt sich, dass Charlotte Beradt zum „Eheglück“ von Arendt und Blücher unweigerlich gehörte. Wie von Bechtolsheim beschreibt, kann durchaus zweitweise von einer Ménage-à-Trois die Rede sein, obwohl Arendt die Nebenbuhlerin eher tolerierte als in das Eheleben explizit mit einzubinden. Leider entgeht von Bechtolsheim eine wichtige Kleinigkeit: Blücher und Beradt kannten sich nicht einfach so seit den KPD-Zeiten in Berlin, wie von Bechtolsheim formuliert, sondern Beradts erster Ehemann war Heinz Pol(lack) – einer der längsten, mit nach New York City emigrierten und noch auf Blüchers Trauerfeier erschienenen konstanten Freunde. Das Beziehungsdreieck Charlotte Beradt, Heinz Pol und Heinrich Blücher ist eines, in dem vermutlich ein wichtiger Schlüssel zur Biografie Blüchers und deshalb auch Arendts Tolerierung dieser Beziehung versteckt ist.
Das vorletzte Kapitel rekapituliert die bekannten gemeinschaftlich gepflegten Freundschaftsbeziehungen zu Karl Jaspers, Walter Benjamin, Robert Gilbert, Alfred Kazin, Helen und Kurt Wolff, Hermann Broch sowie Randall Jarrell. Abschließend wendet sich von Bechtolsheim der Kontroverse um die Veröffentlichung des Eichmann-Buches zu. Grundsätzlich fügt von Bechtolsheim der Interpretation des Geschehens und der damit verbundenen Theorie Arendts nichts Neues hinzu, dennoch gelingt ihr mit dem Schluss des Kapitels und damit des Buches ein durchaus beachtlicher Gedankenanstoß: Die Frage, wie man den Fängen des Totalitarismus entgehen und dem Zusammenbruch der Tradition etwas entgegenhalten kann, beantwortet von Bechtolsheim mit Arendt und Blücher als eine Hinwendung zur Kunst. Es sind die Künste, die immer wieder Neues hervorbringen. Es sind die Künste, die das Urteil der Öffentlichkeit und Pluralität herausfordern und es sind die Künste, die dauerhaft sind, wenn die „Tradition der zivilisierten Welt und unser Verständnis von Geschichte zusammenbrechen.“ (S. 242) Viel wurde über Arendts dichterisches Denken geschrieben, aber tatsächlich steht eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Kunst in Arendts und Blüchers Denken bisher aus. In diesem Sinne kann man von Bechtolsheim sehr dankbar sein, zum Ende ihres Buches die Künste als Anker in Arendts und Blüchers Denken betont zu haben.
Fazit: Im Gegensatz zur Bernd Neumanns Doppelbiografie von 1998 besticht von Bechtolsheims Buch in der Nutzung weiter neuer Quellen und aktueller Forschungsstände und ist damit durchaus eine gute Aktualisierung. Interessant sind die herausgearbeiteten Aspekte des Verstehens als Anerkennung von Widersprüchen sowie die Rolle der Kunst im Denken Arendts und Blüchers. Von Bechtolsheim schreibt ungemein angenehm und als Leser:in gleitet man durch die Zeilen und durch das Denken. Auf dieser Weise bleibt das Buch jedoch auch hauptsächlich eines für Fans und Interessierte, die nicht in den wissenschaftlichen Diskursen in der politischen Theorie oder zu Hannah Arendt stehen, sondern eher biografische statt systematische Literatur lesen. Ein systematischer Vergleich zwischen Arendt und Blücher steht bisher noch aus, genauso wie ein Buch über Blücher als Hochschullehrer. Ringo Rösener, Universität Leipzig
1 Auffallend ist das besonders in der Darstellung, wie Heinrich Blücher Lehrer an der New School wird. Vergleiche dazu Bechtolsheim Seite 107 mit Ringo Rösener (2021): „Einführung in die Sources of Creative Power. Zum Vermächtnis Heinrich Blüchers“, Leipzig. Universität Leipzig: https://doi.org/10.36730/2021.1.scp.4, S. 7. Dergleichen nicht zitierte Überschneidungen lassen sich aber auch mit Young-Bruehl oder Neumann anstellen.