header image

Ausgabe 1, Band 13 – Dezember 2023

Editorial

Angesichts dramatischer Ereignisse wie die gegenwärtigen Kriege in der Ukraine und in Israel, haben die zivilen Protestaktionen der letzten Monate an medialer Aufmerksamkeit verloren. In dieser Ausgabe möchten wir daher diese Aufmerksamkeit für die zivilen Formen des politischen Widerstandes als wichtige Erscheinungen unserer gemeinsamen Welt wiederbeleben und daran erinnern, dass Straßenproteste als ein Mittel, um politische Kritik zum Ausdruck zu bringen, in den letzten Jahren erneut eine hohe öffentliche Sichtbarkeit erlangt haben. Menschen erheben ihre Stimme und gehen auf die Straße, nicht nur in den Ländern, die oft als Verfechter einer demokratischen Zivilgesellschaft – und damit als Unterstützer politischer Meinungsvielfalt – gelten, sondern auch in Regionen, die historisch von verschiedenen Formen politischer Unterdrückung geprägt sind und in denen man eher Zurückhaltung oder Gleichgültigkeit gegenüber der Politik im Allgemeinen erwarten würde. Diese Menschen protestieren nicht nur gegen seit langem bestehende Formen von Rechtswidrigkeit, Ungerechtigkeit und Ausbeutung, sondern auch gegen aktuelle Gefährdungen der Bürger- und Menschenrechte, die von populistischen Regierungen weltweit ausgehen. Diese Proteste sind Reaktionen auf verschiedene politische Krisen unserer Zeit.

Hannah Arendt könnte sehr wohl als eine Denkerin der Krise (oder vielleicht mehrerer Krisen) bezeichnet werden – und die Häufigkeit, mit der sie den Begriff „Krise“ in den Titeln ihrer Schriften verwendete, ist vielleicht der beste Beweis für ihre dementsprechende Sensibilität. Dies scheint einer der Gründe zu sein, warum das akademische und öffentliche Interesse an Arendts Schriften in den letzten Jahren stark zugenommen hat, denn so viele politisch akute Herausforderungen verlangen heute nicht dogmatische, sondern kritische und praktische Perspektiven. Nicht nur ihre Werke, die sich explizit mit revolutionären Praktiken und zivilem Ungehorsam befassen, sondern auch ihre Überlegungen zu Gewalt, Ideologie, gemeinsamem Handeln und nicht zuletzt zu reflektierendem Urteilen erweisen sich als fruchtbar für theoretische Reflexionen der Straßenproteste und verhelfen uns zu einem besseren Verständnis dessen, was tatsächlich geschieht, wenn Menschen auf die Straße gehen.

Straßenproteste haben vielfältige Ursachen. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer politischen Ziele, ihrer Ausdrucksformen und ihrer Auswirkung. Bewegungen wie Black Lives Matter, #RhodesMustFall, die Klimaproteste von Fridays for Future, die Frauenproteste in Iran, Lateinamerika und Polen, die regierungskritischen Straßenproteste in Hongkong, Israel, Peru und Weißrussland, oder der massenhafte öffentliche Widerstand gegen den Militärputsch in Myanmar (aber auch ihre Gegenstücke wie die Querdenker-Spaziergänge in Deutschland, der Angriff auf das Kapitol am 6. Januar 2021 in den USA oder der Trucker-Konvoi in Kanada) sind nur einige Beispiele dafür, wie Massenproteste im öffentlichen Raum in Erscheinung treten. Obwohl sie in einer Vielzahl von kulturellen, sozialen und politischen Kontexten stattfinden, haben diese Proteste als Phänomene eine Gemeinsamkeit: Sie sind öffentliche Versammlungen verkörperter politischer Subjekte, die in ihrer Pluralität handeln und eines der wichtigsten Merkmale demokratischer Politik zum Ausdruck bringen: Dissens als unveräußerliches politisches Recht.

2023 jährt sich die Erstausgabe von Hannah Arendts On Revolution zum 60. Mal. In diesem Buch entfaltet sie ihre kontroverse Idee aus Vita Activa weiter, die Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens in der Sphäre des Sozialen, das alles, was privat ist, entblößt und alles, was politisch ist, seines Sinnes entkleidet. Die prima facie -Lektüre des Buches, das in einer erweiterten Fassung auf Deutsch 1965 unter dem Titel Über die Revolution bei Piper erschien, lässt es als eine Gegenüberstellung zweier Arten von moderner Revolution erscheinen: der „sozialen“ Französischen Revolution und der genuin politischen Amerikanischen Revolution. Eine solche oberflächliche Interpretation ist aber längst nicht alles, was Arendt-Forscher*innen in On Revolution finden. Das Buch wird bis heute diskutiert, kritisiert und neu gedeutet; Arendts Beurteilung der beiden genannten Revolutionen wird verhandelt, ihre Figur der revolutionären Räte wird neu interpretiert und in einen weiteren wichtigen Aspekt gegenwärtiger Krisen gestellt, den der Repräsentation. In dieser Ausgabe veröffentlichen wir einen Bericht des diesjährigen Treffens des Arendt Circle, in Verona, dessen Eröffnungspanel sich mit On Revolution befasste.

Wir haben in dieser Ausgabe Beiträge versammelt, die diesen revolutionären Geist aufgreifen. Unser Schwerpunkt liegt auf den Formen des Protestes in der heutigen Welt. Unsere Autor*innen stellen hierzu ein breites Spektrum von Protestpraktiken vor, wobei sie sich auf vielfältige aktuelle Beispiele beziehen. Wir wollen den Blick auf die Ursachen der Krisen lenken, um die theoretische Reflexion über die Gründe, Erscheinungsformen und politische Implikationen der Proteste zu stärken.

Das Thema der Ausgabe 13 stammt von der Konferenz „People on Streets. Critical Phenomenologies of Embodied Resistance“, die im Mai 2022 an der Uni Paderborn von Marieke Borren (Open University Netherlands), Katja Čičigoj (Universität Klagenfurt), Sara Cohen Shabot (Universität Haifa) und Maria Robaszkiewicz (Universität Paderborn, HannahArendt.net) organisiert. Obwohl die Konferenz nicht explizit Hannah Arendt gewidmet wurde, ungefähr ein Drittel der Beiträge hat auf ihr Denken referiert. Einige dieser Beiträge sind in dieser Ausgabe publiziert. Auf unseren Call for Papers haben wir als Reaktion eine erfreulich große Anzahl von Manuskripten erhalten. Wir veröffentlichen einen Teil von ihnen in dieser Ausgabe von HannahArendt.net, die übrigen Beiträge erscheinen in der kommenden Ausgabe 1, Band 13 (2) im Februar 2024.

Die Redaktion