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Ausgabe 1/2, Band 6 – November 2011

Carl Schmitt über Eichmann in Jerusalem

 

Am 18. November 1963 schrieb Carl Schmitt aus Plettenberg an seinen Schüler und Kolle­gen, den Staatsrechtslehrer Ernst Forsthoff, nach Heidelberg:

Als ich Hannah Arendt’s „Eichmann in Jerusalem“ las, hätte ich beinahe etwas dazu geschrieben. Das Buch ist derart aufregend, dass ich einige Wochen davon krank war; nicht etwa, weil ein Giftspritzer gegen mich darin vorkommt (der Assistent des Verteidigers Servatius, ein Dr. Dieter Wechtenbruch, den ich übrigens nicht kenne und von dem ich bisher nichts wusste, wird p. 129 als „disciple of Carl Schmitt“ ge­kennzeichnet), sondern weil ich wieder auf mein Gutachten vom August 1945 zurück­kam, besonders auf dessen Schluß-Bemerkung. Aber ich will lieber schweigen.

Schmitt hatte das genannte Gutachten im Auftrag eines Rechtsanwalts in der Phase der Vorbereitung auf die Verteidigung des Industriellen Friedrich Flick und seiner Mitbe­schuldigten bei den Nürnberger Prozessen verfasst. Der „Schluss“ lautet:

Für die rechtlichen Begriffe des Staatsbürgers und des ordinary business-man eines europäischen Staates konnte der Angriffskrieg als solcher im Sommer 1939 nicht als ein kriminelles, einer internationalen Strafgerichtsbarkeit unterstehendes Unrecht gelten. Der Gedanke der Kriminalisierung und Pönalisierung des Angriffskrieges hat­te sich in den schwierigen Verhältnissen der Zeit von 1919 bis 1939 noch nicht zu ei­nem Rechtssatz positiviert. Der loyale, nicht an der politischen Führung beteiligte Staatsbürger konnte das neue internationale Verbrechen eines Angriffskrieges mit dem bisherigen Verbrechen des nationalen Strafrechts, mit Hochverrat, Landesver­rat, Sabotage gegen die eigene Regierung, im Sommer 1939 noch nicht auf dieselbe Ebene stellen. Die Vorstellungen des Staatsbürgers von seinen Loyalitätspflichten im Kriege beruhten auf einer säkularen Tradition, derselben Tradition, welche die hohen Strafen wegen Hochverrats und Landesverrats rechtfertigte. Bisher hatte die Organi­sation der Kriminal-Justiz rein innerstaatlichen und nicht internationalen Charakter. Sowohl Strafgesetze wie Strafverfolgung und Strafgericht waren nationale, nicht in­ternationale Einrichtungen und Begriffe. Werden solche, bisher ausschließlich natio­nale und innerstaatliche Einrichtungen und Begriffe aus dem nationalen in den inter­nationalen Bereich verlagert, so wird die gesamte Rechtsstellung des einzelnen Staatsbürgers fundamental verändert. Handlungen, die bisher Erfüllung einer inner­staatlichen Pflicht waren, werden jetzt zu Verbrechen, und Handlungen, die bisher innerstaatlich kriminell waren, z. B. als Hochverrat, Landesverrat, Widerstand und Sabotage, bestraft wurden, jetzt zur Erfüllung internationaler Pflichten gehören, de­ren Nichterfüllung den loyalen Staatsbürger zum internationalen Verbrecher machte. Es entsteht ein Konflikt der Pflichten, wie er in solcher Schärfe und Grausamkeit sonst nur in Situationen furchtbarster Bürgerkriege denkbar war. Einen normalen Staatsbürger, der nicht zur politischen Führungsschicht gehört, in einen solchen Konflikt zu bringen, noch dazu mit rückwirkender Kraft für die Vergangenheit, würde jede equity verletzen. Angesichts der Schaffung eines nicht nur neuen, sondern auch völlig neuartigen internationalen Verbrechens steigert sich die Kraft des Grundsatzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“. Er ist nicht nur ein Satz des geltenden positiven Rechts, sondern auch eine naturrechtliche und moralische Maxime, auf die sich der nicht an den atrocities beteiligte Staatsbürger unbedingt berufen kann.

Das Gutachten ist zu Schmitts Lebzeiten (er starb 1985) nur in Abschriften und Vervielfäl­tigungen verbreitet worden – „ein deutsches Samisdat der Nachkriegsjahre“ (Helmut Quaritsch). Schmitts Bemerkung in seinem Brief an Forsthoff bezeugt einmal mehr, dass der Eichmann-Prozess und Arendts Buch für diejenigen, die im nationalsozialistischen Deutschland in herausragender Position gewirkt und sich in der Bundesrepublik mehr recht als schlecht eingerichtet hatten, von erheblicher Brisanz war.

Quellen:

Ernst Forsthoff und Carl Schmitt, Briefwechsel 1926-1974, hrsg. von Dorothee Mußg­nug, Reinhard Mußgnug und Angela Reinthal in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler und Jürgen Tröger, Berlin: Akademie Verlag, 2007, S. 198f.

Carl Schmitt, Das internationale Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz „Nullum crimen, nulla poena sine lege“, hrsg., mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Helmut Quaritsch, Berlin: Duncker & Humblot, 1994, S. 79f.

W.H. / U.L.