Ausgabe 1, Band 12 – Dezember 2022
Das Verhältnis von Sprache und Miteinandersein
Mit Hannah Arendt und Emmanuel Levinas im Dialog über die Horizonte eines sprachlichen Miteinanderseins
Vanessa Schmitz
Master Erasmus Mundus EuroPhilosophie (Charles University Prag/ Université Jean Jaurés Toulouse/ UCLouvain Louvain-La-Neuve), Masterthema: „Im Miteinandersein mit-ein-ander sprechen. Eine phänomenologische Annäherung an eine adäquate Sprache des Mit-ein-anders. Gedanken zu einer poetischen Vernunft.“
„Aber es konnten ja nicht einmal zwei Menschen wirklich miteinander sprechen,
dazu bedurfte es schon eines Glücksfalles, einer besonderen Freundschaft und Bereitschaft.“1
„Denn es ist ja das Gespräch mit anderen, das mich aus dem aufspaltenden Gespräch mit mir selbst herausreißt und mich wieder zu Einem macht – zu einem einzigen, einzigartigen Menschen, der nur mit einer Stimme spricht und von allen als ein einziger Mensch erkannt wird.“2
Einleitung
Sowohl für Hannah Arendt als auch für Emmanuel Levinas steht die politische Frage im Mittelpunkt ihres Denkens, die grob formuliert werden kann als Frage nach den menschlichen Möglichkeiten und Quellen eines von der Welt her gedachten Miteinanders. Dieses ist bei ihnen mehr als bloß der Gemeinplatz zweier Parteien, sondern als dieser etwas genuin Drittes jenseits der Differenz von Ich und Anderer, ohne dabei die Einzigkeit und Einzigartigkeit der mit einem jeden Menschen erscheinenden Standorte zu nivellieren. Im Folgenden werden Arendt und Levinas nicht in einen konfrontativen Vergleich, sondern – ganz im Sinne ihres jeweiligen Denkens – in einen fiktiven potentiell fruchtbaren Dialog 3geführt, um sich von der Sache her der Frage anzunähern, wie ein Miteinander möglich sein kann, das die Pluralität der Menschen wahrt, ohne diese in eine Situation der Singularität verfallen zu lassen. Dabei wird sich herausstellen, inwiefern diese trotz ihrer jeweiligen besonderen Verbundenheit mit dem jüdischen Denken ganz andere Wege des Denkens hinsichtlich der Frage des Miteinanders beschreiten und welche Rolle bzw. Haltung dem Einzelnen in dem jeweiligen Denken zukommt. Ebenso scheint es angebracht, darauf hinzuweisen, dass Gleichwertigkeit und Gerechtigkeit – wesentliche Kriterien dessen, was hier als ‚wahrer‘ Dia-log bezeichnet wird - keineswegs verwechselt werden sollte mit einer quantitativen Deutung dieser Begriffe, der zufolge sich beispielsweise die Gleichgestelltheit der Dialogpartner in der Länge ihrer Redeanteile auszeichnet. Vielmehr wird eine qualitative Deutung verwendet, bei der es um die Anerkennung und kritische Auseinandersetzung mit den jeweiligen Worten geht, um ein Zuhören, Wirken-Lassen und Ausloten dieser Worte hinsichtlich unseres Themas.4 Dass dabei der Begriff des Miteinanders selbst auf dem Prüfstand steht, ja, eigens thematisiert werden muss, erscheint für die Betrachtung dieser Frage unhintergehbar.
Obwohl Arendt sich nach eigener Aussage nicht als Philosophin verstand – jedenfalls nicht im Sinne der antiken Tradition Platons und Aristoteles, mit denen sie sich neben Kant5, Schelling, Hobbes und Montesquieu maßgeblich auseinandersetzt, ist nicht zu leugnen, dass ihre von Jerome Kohne betitelte Schrift Sokrates. Apologie der Pluralität, die als Ausgangspunkt der hier entwickelten Fragestellung herangezogen wird, geprägt ist durch philosophische und insbesondere auch durch phänomenologisch-ethische Implikationen. Sich trotz aller Abkehr von ‚der Philosophie‘6 den Gedanken einer neuen politischen Philosophie verpflichtet fühlend, mit der sie insofern ein kosmopolitischen Denken vorbereitet, als ihr Politikbegriff explizit im Gegensatz zum ontogenetisch-familiären Zusammenhang im Haus steht, denkt Arendt das Miteinander ausgehend von dem In-der-Welt-Sein, wobei es ihr gerade auf ein freundschaftlich-dialogisches Miteinander ankommt, in dem der Einzelne die Verantwortung zu übernehmen hat für sich, für den eigenen Standpunkt, damit aber eben auch für den Anderen. Hier trifft sie sich wiederum mit dem stark jüdisch-geprägten Emmanuel Levinas, der im Gegensatz zu Arendt die Beziehung des Menschen zu Gott über die Weltlichkeit des Menschen stellt.
Für Arendt ist es eine Welt, die wir teilen, eine Welt, auf der wir uns befinden, eine Welt, die wir auf je individuelle Weise für uns und mit anderen zusammen erfahren. Damit ist unser Verständnis von Welt fundamental kontaminiert von der Begegnung mit anderen Menschen, die uns gleichermaßen auf die Einzigartigkeit und die Gemeinsamkeit, und zwar sowohl im realen als auch im potentiellen Sinne, verweist. Uns auf eine Welt beziehend, und dabei doch nur der eigenen doxa, dem eigenen Verständnis von Welt – und nicht einmal diesem absolut – gewiss seiend, geht es ihr um ein einander verpflichtetes, aber dann doch möglichst herrschaftsfreies Miteinander, weswegen sich dieses im Werden begreifen muss. Das heißt, Grenzen und Möglichkeiten des Miteinanders müssen aufgrund der zeitlichen Bedingtheit der Bürger – ihr Bewusstsein konstituiert sich in einem konkreten Zeitfenster, in dem bestimmte Werte und Normen ‚am Werk sind‘ – und auch vor allem aufgrund der konstitutiven Rolle der Bürger für das Miteinander, immer wieder neu ausgehandelt werden. Dies kann nur von einem Denken geleistet werden, das nicht dogmatisch an bestimmten Handlungsanweisungen festhält und offen ist für das Andere, das sich aber auch verpflichtet fühlt – und zwar dem Humanen, wobei die Frage, was das jeweils heißt, immer wieder neu gestellt und aktiv dialogisch ausgehandelt werden muss. Wiewohl dies mit sprachlich bedingten Problemen des Verstehens einhergeht, soll gezeigt werden, inwiefern Arendts politisches Denken einen Ansatz liefert, der – so banal dies erscheinen mag, aber dann doch entscheidend ist – das Miteinander von einem spezifischen Miteinander aus zu denken versucht, den es weiterzudenken gälte, da hier eine Gerechtigkeit und Freundschaft dem konkreten Menschen gegenüber gedacht wird, die überhaupt erst dem konkreten Menschen selbst bzw. dem Humanen im Sinne einer Conditio Humana gerecht werden können und letztlich auf eine Welt des humanen Miteinanders zulaufen kann. Zugleich gilt es, die Möglichkeiten und Grenzen der Überführung ihres Denkens in die Praxis zu beleuchten, wo Arendt aufgrund einer fast schon naiven und gutmütigen Denkweise an ihre Grenzen stößt, es aber gerade auf das Verhältnis von Theorie und Praxis ankommt, da das Miteinander deswegen nicht im Begriff aufgeht, weil es letztlich nicht am Schreibtisch verhandelt, sondern im Konkreten, in der aktiven Auseinandersetzung der Menschen miteinander, ausgehandelt wird.
Politik, Welt und Freiheit bei Arendt
Für das Arendtsche Denken erscheint es kennzeichnend und keineswegs marginal, dass die Antwort auf die Frage „Was ist Politik“ beginnt mit dem 1. Grundsatz: „Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen. Gott hat den Menschen geschaffen, die Menschen sind ein menschliches, irdisches Produkt, das Produkt der menschlichen Natur.“7 Wie Arendt das politische Miteinandersein der Menschen versteht, in welcher ‚Form‘ sie es denkt und wie es in dieser um den einzelnen Menschen steht, deutet sich an in ihrem Sokrates. Apologie der Pluralität, der Teil ist einer von ihr im Frühjahrssemester 1954 an der Universität von Notre-Dame gehaltenen Vorlesung zum Thema „Philosophie und Politik. Das Problem von Handeln und Denken nach der Französischen Revolution“ und erstmals 1990 im Nachlass im Social Research herausgegeben wurde. Arendt hält den Vortrag zu einer Zeit, über die sie die ernüchternde Diagnose stellt: „Wir leben heute in einer Welt, in der nicht einmal der ‚gesunde Menschenverstand‘ verständlich geblieben ist“, weswegen es einer „neuen politischen Philosophie [bedürfe], aus der eine neue Wissenschaft der Politik hervorgehen könnte“8. Dabei kommt es ihr darauf an, dass die politischen Philosophen
die Pluralität des Menschen, aus der die ganze Vielfalt menschlicher Angelegenheiten hervorgeht, zum Gegenstand ihres thaumazein machen. Biblisch gesprochen, müssten sie den wundersamen Umstand hinnehmen – wie sie in sprachlosem Staunen das Wunder des Universums, des Menschen und des Seins hinnehmen –, dass Gott nicht ‚den Menschen‘ schuf, sondern er ‚schuf sie, einen Mann und eine Frau‘. Sie müssten hinnehmen, und zwar nicht lediglich in resignierender Akzeptanz der menschlichen Schwäche, dass ‚es nicht gut ist, dass der Mensch allein sei.9
Arendt denkt den Menschen ausgehend von der weltlichen Existenz, von seinem In-der-Welt-Sein, das für sie einhergeht mit der Pluralität und der Natalität, die, zusammengenommen, den sprachlichen Austausch der Menschen miteinander notwendig erscheinen lassen, da erst über diesen jene politische Dimension erreicht werden kann, durch die der Mensch zu der Bestimmung seiner selbst gelangen kann bzw. die Menschen zu der Bestimmung ihrer selbst gelangen können.10 Das Faktum der Natalität verweist für Arendt insofern auf die Freiheit des Menschen, die es scheinbar paradoxerweise „nur in dem eigentümlichen Zwischen-Bereich der Politik“ gäbe, als mit jeder Geburt ein „Neubeginn […] in die Welt kommt“, dem das Potenzial des freien Handelns eigne.11 Menschliche Freiheit könne erst im politischen Diskurs, dem „Zwischen-den-Menschen, also durchaus ausserhalb des Menschen“12 erscheinen, weil erst im Zusammenschluss der Menschen miteinander die Stärke des Einzelnen sich zu einer Macht der Vielen entfalten kann, in der freies Handeln durch freies Handeln möglich wird. Arendt denkt den einzelnen Menschen als „a-politisch“13, weswegen es auf die Haltung oder auch Stellung jedes Einzelnen zur Welt ankommt. Oder, anders gesagt: es ist das Gewissen, die individuelle Haltung eines jeden Einzelnen, mit der er die Verantwortung dafür übernimmt, dass Welt sich Arendt zufolge im Miteinander der Menschen ereignet, weswegen wir „Seiendes überhaupt nur im Plural erfahren“.14 Das Miteinander der Menschen, durch das eine Welthaftigkeit des Menschen überhaupt erst möglich wird, erwächst aus der praktischen Dimension der Menschen als handelnde Wesen, denn bei Arendt ist es „der weltliche Raum, der durch das Zusammenhandeln konstituiert wird“15; Welt also kein Ergebnis eines rein auf sich selbst zurückbezogenen Denkens, sondern verweist auf das reale Zusammenwirken von fühlenden, handelnden und denkenden bzw. sprechenden Menschen, die in der menschlichen „Bewegungsfreiheit“ ihren Ursprung haben und im Modus der Sichtbarkeit und der Hörbarkeit erscheinen, also in der visuellen Erscheinungsweise und im Dialog, die beide ihren Raum und ihre Zeit finden in der Öffentlichkeit.
Entgegen Heideggers letztlich auf eine singulär-egologische Existenz hinauslaufenden Begriff des Todes, von dessen Denken (und Existenz) Arendt stark beeinflusst ist, betont sie mit dem Begriff der Natalität die genuin politische Dimension der menschlichen Erscheinungsweise von ihren weltlichen Anfängen her, die mit dessen Zukunft zusammenhängt, da das Handeln, in dem die menschliche Freiheit zu ihrer Erscheinung gelangt, einer „Pluralität [bedarf], in der zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, daß keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird“16. Einhergehend damit, dass für Arendt menschliche Freiheit nicht im Widerspruch zu der Notwendigkeit, sondern dem Schicksal steht, das wiederum nur die Erfahrung der Auswirkungen freien Handelns sei, letztlich Notwendigkeit und Zufall der „eigentliche Gegensatz“ seien17, schreibt sie der der Gebürtlichkeit inhärenten Freiheit eine „Unvorhersehbarkeit“ zu – mit dem Neuanfang, den ein jeder Mensch qua Geburt ist, kommt das „immer […] unendlich Unwahrscheinliche“18 zu seiner Erscheinung. Im Anschluss an Schelling19, für den die menschliche Freiheit ihren Ursprung hat in der göttlichen Bestimmung des Menschen als sich selbst bestimmbares Wesen, dringt in Arendts Begriff der Natalität auch ihr Verhältnis zu Gott durch, denn:
Mit der Erschaffung des Menschen erschien das Prinzip des Anfangs, das bei der Schöpfung der Welt noch gleichsam in der Hand Gottes und damit außerhalb der Welt verblieb, in der Welt selbst und wird ihr immanent bleiben, solange es Menschen gibt; was natürlich letztlich nichts anderes sagen will, als daß die Erschaffung des Menschen als eines Jemands mit der Erschaffung der Freiheit zusammenfällt.20
Der Mensch ist das freie Wesen par excellence, da er qua seiner Existenz Erscheinungsform sowohl von der Freiheit Gottes, als auch Erscheinungsform der menschlichen Freiheit ist, die in der Bestimmung seiner selbst, wie auch praktisch in seinem Handeln zu ihrer Erscheinung kommen. Neben dem Handeln spricht Arendt der Sprache eine entscheidende Rolle hinsichtlich der Erscheinungsform menschlicher Freiheit zu21, was hieße, den qua Geburt potentiell gegebenen Neuanfang zu verwirklichen: „Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.“22 Sie geht sogar so weit, zu behaupten, ein „Leben ohne alles Sprechen und Handeln“ sei „buchstäblich kein Leben mehr, sondern ein in die Länge eines Menschenlebens gezogenes Sterben; es würde nicht mehr in der Welt unter Menschen erscheinen, sondern nur als ein Dahinschwindendes sich überhaupt bemerkbar machen“23. Handeln und Sprache seien die Erscheinungsformen menschlicher Freiheit, also der „Einzigartigkeit“24 des Menschen, denn
Handeln als Neufangen entspricht der Geburt des Jemand, es realisiert in jedem Einzelnen die Tatsache des Geborenseins; Sprechen wiederum entspricht der in dieser Geburt vorgegebenen absoluten Verschiedenheit, es realisiert die spezifisch menschliche Pluralität, die darin besteht, daß Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer Umgebung von ihresgleichen befinden.25
Arendt über das dialogische Miteinander
Dies führt uns zurück zum Sokrates. Denn hier verpflichtet Arendt den Menschen auf den Dialog der Menschen miteinander, durch den dieser insofern aus seiner ihm wesentlichen a-politischen Existenz26 heraustreten kann, als das Sprechen der Menschen miteinander jenes Medium ist, durch das sich der öffentliche Raum eröffnet, da sie sich hier gleichsam durch das Sprechen für jene Öffentlichkeit öffnen. Sprache, das ist für Arendt zwar das Miteinander-Sprechen in seiner genuin praktischen Dimension, weswegen sie, wie auch das Handeln, Ausdruck des Politischen ist und dieses zugleich eröffnet und konstituiert. Hier wird auf eindringliche Weise deutlich, dass Arendt, obwohl sie dem öffentlichen Raum eine entscheidende Bedeutsamkeit für die Welthaftigkeit des Menschen einräumt, dem inneren Zwiegespräch das Primat für das Politische zugesteht. Es ist die doxa, die sie im Affront zu Platons und Aristoteles Sokrates aufwertet, die den für Arendt fatalen Fehler begingen, doxa und Wahrheit einander gegenüberzustellen und sich mit dem Fürsprechen für die Wahrheit einem Absolutismus hingaben, der seinen Feind in der doxa wähnt und zugleich um die Unerreichbarkeit der absoluten Wahrheit für den Menschen weiß.27 Dieser antike absolute Wahrheitsbegriff habe keinen Bezug zu den des Politischen zugrundeliegenden Individuen, da ersterer dem Anspruch der Ewigkeit verpflichtet ist, wohingegen die Wahrheit des Individuums, das heißt des Menschen, wesentlich vergänglich, das heißt prozessual auf dem Hintergrund der Sterblichkeit, ist. Wiewohl die doxa „im Gegensatz zu unserer ‚Meinung‘ eine stark visuell gefärbte Bedeutung“28 habe, weswegen sie in den Schatten des Höhlengleichnisses erscheinen könne29, dürfe sie nicht verwechselt werden mit einer manifesten Weltanschauung, mit einem unverrückbaren Standpunkt, sondern wird von Arendt implementiert als etwas genuin Prozessuales.30 Doxa im Sinne Arendts kann vielmehr gedeutet werden als eine kritische Haltung „im Sinne Lessings“, also als eine „Gesinnung, die immer Partei ergreift im Interesse der Welt, ein jegliches von seiner jeweiligen weltlichen Position her begreift und beurteilt und so niemals zu einer Weltanschauung werden kann, die von weiteren Erfahrungen in der Welt unabhängig bleibt, weil sie sie auf eine mögliche Perspektive festgelegt hat“31 Sie steht also ganz im Dienste des freien Austauschs der Menschen miteinander, die sich qua Denken frei in der Welt bewegen und ihre Freiheit im auf die Welt bezogenen Handeln erfahren. Mit der kritischen Dimension schließt Arendt zugleich an ihre politische Auslegung der Kantischen Philosophie an, der zufolge „kritisches Denken“ die Antwort sowohl auf eine dogmatische Metaphysik als auch auf einen Skeptizismus sei, letztlich also ein Aufbegehren, „ein neuer Weg des Denkens und nicht Vorbereitung für eine neue Doktrin“, um „über diese Alternative hinauszugelangen.“32 Handeln und Sprechen werden als wechselweisend aufeinander verwiesen gedacht, verwirklichen sich also erst mit- bzw. durcheinander, sowie sie beide dem „Faktum menschlicher Pluralität“ entspringen. Dieses Faktum manifestiere „sich auf zweierlei Art, als Gleichheit und als Verschiedenheit“, wobei die Gleichartigkeit die „Verständigung unter Lebenden“ ermöglicht, wohingegen die „Verschiedenheit, das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen“ Sprache und Handlung als Verständigungsmedien notwendig erscheinen lässt.33
Mit der menschlichen Pluralität geht es Arendt nicht schlicht um die Existenz der Menschen in der Mehrzahl. Vielmehr verweise die doxa auf die innere Pluralität eines jeden Menschen, auf das „Zwei-in-Einem“34, das das ethisch gute Handeln vom Gewissen her gebietet, womit ihre Ethik letztlich primär vom individuellen Menschen her gedacht wird, der (sich) verantwortlich für das eigene Denken und Handeln in der Welt erscheint.35 Durch diesen „Dialog der Einsamkeit“, aus dem das Gewissen für das eigene Handeln und Sprechen erwächst, und der nichts anderes ist als der oben eingeführte innere Dialog, sei „ich doch nicht völlig getrennt von jener Pluralität, welche die Welt der Menschen bildet und welche wir im allgemeinsten Sinne Menschheit36 nennen“, und zwar weil mein Zwei-in-Eins-Sein auf die Pluralität der Menschheit verweise.37 Das (Wieder)Einführen des Gewissens zusammen mit der Betonung der „Stellung eines Menschen in der Welt“38, die auf dessen wesentlich intersubjektiv verflochtene Existenz verweist, und dem Insistieren auf den „gesunden Menschenverstand“39, der dem nach dem Heraustreten aus der Höhle desorientierten Philosophen abhandengekommen sei, kann als Angebot auf die Frage des Münchhausen-Dilemmas gelesen werden, wie der Mensch aus einem falschen Denken heraus dieses modifizieren und damit überhaupt noch legitimieren kann, und steht unter dem Motiv der Verantwortlichkeit des Menschen für die mehrdimensional plurale Existenz des Menschen im Großen und Kleinen.40
Wiewohl Sprache und Handeln sich erst in ihrer Wechselwirkung hervorbringen, gibt Arendt hinsichtlich des menschlichen Miteinanders dem Sprechen den Vorzug gegenüber dem Handeln, da in der doxa die Person zu ihrer sprachlichen Erscheinung kommt und die die doxa bedingende Sprache offenbarer als die Taten des Menschen Aufschluss „auf die Frage: Wer bist Du?“, also die Frage, „wer jemand ist“, gebe.41 Obwohl sie sich dessen bewusst ist, dass Kommunikation auch fehlschlagen kann, ja, ein vollständiges Verstehen sowohl des Selbst als auch des Anderen für den Menschen nicht zu haben ist, tut Arendt gut daran, hier der Innerlichkeit den Vorzug zu geben gegenüber der Äußerlichkeit, geht es ihr doch gerade – vor allem auf dem Hintergrund der politisch motivierten Frage, wie nach Auschwitz ein Denken und Leben noch gerechtfertigt werden kann – um die individuelle Verantwortlichkeit, auf deren Hintergrund ein jenseits von absolutistischem Dogmatismus stehendes gerechtes Miteinander der Menschen vom Menschen aus erwachsen soll. Genau dieses Denken der Verantwortlichkeit aus dem Innersten des einzelnen Menschen heraus ist auch das Motiv für ihre Bezugnahme auf Sokrates, sieht sie bei ihm doch den Gedanken des „Dialog[s] meiner selbst mit mir selbst als primäre Voraussetzung des Denkens“ ebenso angelegt wie auf das Empfinden einer „Verantwortung [des Philosophen] für die Polis“42. Sie verlängert damit das Motiv der Verantwortlichkeit auf das Feld des Philosophischen, denn für sie
scheint [es] ganz offensichtlich und geradezu banal (und wird doch allgemein vergessen), dass jede politische Philosophie zuallererst die Haltung des Philosophen gegenüber den ‚Angelegenheit der Menschen‘ ausdrückt, den pragmata ton anthropon, denen er selber zugehört, und dass diese Haltung in sich die Beziehung ausdrückt zwischen einer spezifisch philosophischen Erfahrung und jenen Erfahrungen, die wir machen, wenn wir uns unter Menschen bewegen. Es ist ebenso klar, dass jede politische Philosophie sogleich vor der Alternative steht, entweder die philosophische Erfahrung mit Hilfe von Kategorien aus dem Bereich der menschlichen Angelegenheiten zu interpretieren, oder im Gegenteil für die philosophische Erfahrung Priorität zu beanspruchen und die gesamte Politik in ihrem Licht zu beurteilen43,
was im besten Fall im Dialog der Bürger miteinander geschieht, die Bürger also miteinander sprechende Philosophen sind, oder schlicht: Menschen, die sich ihrer allumfassenden Grenzen im Handeln und Denken bzw. Sprechen bewusst sind und ganz im Sinne des gesunden Menschenverstandes diesem Selbstbewusstsein gemäß agieren.
Dialektik der doxa und das Motiv der Freundschaft
Mit der individuellen Verantwortlichkeit und der individuellen doxa ist es nicht getan. Ihre Ethik wird, um einen bereits angedeuteten Gedanken zu vertiefen, trotz aller Betonung der Innerlichkeit und des Zusammenstimmens des Menschen mit sich selbst, zurückgebunden an die weltliche Verflechtung der Menschen miteinander und steht damit zugleich in guter alter dialektischer Tradition, nach der das Gespräch als Raum erscheint, in dem ich zu mir selbst kommen kann. Denn für Arendt ist meine doxa nicht nur Grundlage eines Dialoges unter Gleichgestellten; sie wird mir erst und insbesondere im Dialog mit anderen Menschen überhaupt erst bzw. auf eine tiefergehende Weise verständlich. Im Dialog kommt also insofern auf eine besondere Weise die Unterschiedlichkeit und die Gemeinsamkeit der Menschen zusammen, als hier mit der Welt ein gemeinsamer Bezugspunkt aus dem Zwischen der Menschen miteinander gestiftet wird sowie hier meine doxa, also die Welt, wie sie mir erscheint, auf eine einzigartige Weise zu ihrer Erscheinung kommt, und zwar im Spiegel der Negation in der Auseinandersetzung mit dem Anderen.44 So ermöglicht der Dialog eine besondere Weise des Zusammenstimmens mit mir selbst, das für Arendt Grundlage eines menschlich-politischen Miteinanders ist, weil das Zusammenstimmen, kulminierend im Gewissen, Ursprung der Logik und der Ethik sei, sowie er das Aushandeln des Miteinanderlebens mit anderen Menschen eröffnet. Letztlich erscheint das Politische Arendt als der öffentlich-politische Bereich, „wo man seine ganze Menschlichkeit erlangt, die ganze Wirklichkeit als Mensch, weil man dort nicht nur einfach ist (wie im privaten Hauswesen), sondern in Erscheinung tritt“, wo wieder einmal deutlich wird, was für eine tiefgreifende Bedeutsamkeit Arendt dem In-Erscheinung-Treten des Menschen in Sprache und Handeln für die Verwirklichung der Menschlichkeit beimisst.45
Mit dem Dialog geht für Arendt eine spezifische Form des Miteinanders einher, das wiederum auf ein bestimmtes Miteinander-Sprechen verweist: das der Freundschaft. Sie geht so weit, die Freundschaft als Bestimmungsmerkmal des politischen Miteinanders zu setzen, wird das faktisch Politische für sie doch durch das Miteinander gestiftet und geht es ihr zugleich um ein „Miteinander, das nahe genug ist, um die Möglichkeit des Handelns ständig offen zu halten“, um eine von der Mitte ausgehende Macht zu ermöglichen, die sich im und aus dem Zusammenhandeln der Menschen miteinander konstituiert46. Wie auch Paul Ricœur47, argumentiert Arendt mit dem freundschaftlichen Fundament des Miteinanders explizit gegen die Liebe, wendet sich also nach einer Aufwertung der doxa entgegen der Wahrheit zugunsten der individuellen Verantwortlichkeit dem zweiten Teil der antiken Definition der Philosophie als Liebe zur Weisheit der Liebe zu, weil sie in der Freundschaft insofern jenen dialogischen Raum eröffnet sieht, als diese, im Gegensatz zur Liebe, ein adäquates Verhältnis von Distanz und Nähe eröffnet, durch das ein Aushandeln überhaupt erst möglich wird. Denn Freundschaft heißt, nicht bloß die Meinung des Anderen zu adaptieren, sondern ausgehend von der Erfahrung des inneren Dialogs48, die im gemeinsamen Dialog erscheinende doxa des anderen durch ein fiktives Hineinversetzen in dessen Haltung diese als Prüfstein meiner eigenen doxa zu nehmen, kritisch mit beiden umzugehen, was heißt, sich einem Verständnis ihrer anzunähern, ohne sie einfach hinzunehmen und letztlich zu erkennen, dass unsere Erwartungen voneinander „weitgehend bestimmt [sind] von den stets veränderlichen Möglichkeiten des Selbst, mit welchem ich [in mir] zusammenlebe“.49 Ganz im Sinne der sokratischen „Maieutik, Hebammenkunst“ geht es Arendt mit dem freundschaftlichen Dialog um eine Enthüllung der individuellen „doxa in ihrer eigenen Wahrheit“ infolge der Irritation über eine Versicherung der „Stellung des anderen in der gemeinsamen Welt“, letztlich also um ein Zusammendenken von doxa und Wahrheit im freundschaftlichen Dialog, womit sich hier so etwas wie eine wechselseitig-dialektische Anerkennungsstruktur andeutet, auf der das (politische) Miteinandersein gegründet wird.50
Der Dialog scheint also bei Arendt insofern auf eine verquere Weise im Dienst des Miteianders zu stehen, als dieses seinen Ursprung findet in der individuellen Verantwortlichkeit, das heißt im Gewissen des Einzelnen, weswegen der Dialog ebenjenes zugleich individuell- und intersubjektiv-gewachsene zu seiner Erscheinung bringen soll. Das individuell-gewachsene Gewissen samt der individuell-gewachsenen doxa sind aufgrund der Weltlichkeit des Menschen keine rein egologischen Strukturen. Vielmehr konstituieren sie sich im bzw. aus dem Miteinander der Menschen, womit der individuelle Mensch, der sich öffnet für ein Miteinander, was sich ihm aufgrund seiner Bedürftigkeit, das heißt Vulnerabilität her gebietet, genuin verflochten erfährt in ein Miteinander, das wiederum maßgeblich beeinflusst wird durch dessen Offenheit für ein Miteinander als solches und in aller konkreten Faktizität zugleich. Oder, anders gesagt: durch die Offenheit eines jeden Einzelnen eröffnet sich eine spezifische Form des Miteinanders, die ohne diese Offenheit des konkreten Einzelnen so nicht zu ihrer Erscheinung kommen würde, weil ein jeder Mensch aufgrund der Wirkkräfte seiner Handlungen und Sprache das, was als Welt zur Erscheinung kommt, mitbeeinflusst. Um noch einmal die Schleife zurück zur doxa zu drehen: jene Offenheit zeigt sich in der Sprache, das heißt in der Verlautbarung der eigenen doxa. Denn wenn das politische Feld nicht von einer Staatsgewalt reguliert, sondern vom Menschen eröffnet wird, „dann wäre die Voraussetzung hierfür, dass jeder Bürger sich artikulieren kann, um seine Meinung in ihrer Wahrhaftigkeit zu zeigen und deshalb auch seine Mitbürger zu verstehen“, weswegen sowohl das Kennen meiner selbst als auch das Zusammenstimmen meiner selbst mit mir von entscheidender Bedeutung sind.51
Freundschaft, das kann hier im Anschluss an Arendts Bezugnahme auf Platons und Aristoteles Anfang des Philosophierens in ihrer genuin praktischen Dimension gedeutet werden als ein thaumazein, ein Staunen – sowohl über die eigene doxa, als auch über jene des anderen Menschen, über das Faktum der Pluralität und wohl auch ein Staunen über das Faktum der Wirkkraft des menschlichen Handelns und Sprechens, oder auch ganz schlicht: „das Staunen über das, was ist, wie es ist“.52 Im Sinne ihrer politischen Philosophie bleibt die Freundschaft nicht bei dem Staunen stehen, sondern fordert ein Miteinanderhandeln und -sprechen, das – mit Ricœur gesprochen – im Dienste eines gerechten Miteinanders steht, also eines Miteinanders, das nicht bei einer gegebenen Wirklichkeit stehenbleibt, sondern in stetiger Aushandlung über die Wirklichkeit und der praktischen Umsetzung ihrer besteht, denn das„doxazein, also der Prozess, in dem sich die doxa konstituiert, sei ein
Formulieren von Meinungen über Gegenstände, zu denen der Mensch keine Meinung haben kann (weil die allgemeinen und allgemein akzeptierten Maßstäbe des gesunden Menschenverstandes nicht auf sie anwendbar sind). Doxa könnte mit anderen Worten insofern tatsächlich zum Gegenteil der Wahrheit werden, als dass doxazein wirklich der Gegensatz des thaumazein ist. Meinungen zu haben geht dann schief, wenn es um Dinge geht, die wir nur in sprachlosem Erstaunen über das, was ist, erkennen, 53
womit eine Artikulation der doxa in der Sprache unumgehbar erscheint, wenn nicht beim stummen Staunen stehengeblieben werden kann.
Arendts Dialog im Spiegel des Denkens von Emmanuel Levinas
Schlägt man in einem letzten Schritt die Schleife zu Emmanuel Levinas, um – ganz im Sinne von Arendts These der Erscheinung der doxa im Dialog – ihre Betrachtung des politischen Feldes von diesem fiktiven Dialog aus zu wagen, so erweist sich ihr Denken als eines, das trotz der Angegriffenheit Arendts durch Auschwitz und dem Zweiten Weltkrieg auf wundersame Weise getragen wird von einer Hoffnung und an einen Glauben an das menschliche und vor allem das zwischenmenschliche Vermögen, das zu guter Letzt an das Vermögen der Sprache und des Dialogs als sinnstiftende Medien für das Miteinander glaubt, und trotz aller Betonung des Zwischenbereiches dem Primat des Einzelnen verhaftet bleibt.
Nicht nur dort, aber besonders prominent in seinem Text Dialog setzt Emmanuel Levinas sich mit ebenjenem auseinander, mit jenem „Gespräch, das die Menschen von Angesicht zu Angesicht miteinander führen, indem sie sich in Rede und Gegenrede gegenseitig ansprechen und Aussagen und Einwände, Fragen und Antworten austauschen“54, wobei es ihm infolge der herrschaftlichen Struktur des Dialogs um eine Asozialität seiner geht, die dessen geschuldet ist, dass Levinas den Dialog hermeneutisch im Dienste des Wissens versteht, das im Anschluss an das Ich denke der egologisch-selbstgenügsamen Tendenz des innerlichen Denkens folge, das noch kein Dialog sei oder „höchstens der Dialog der Seele [âme] mit sich selber“, von dem aus sich der Weltbegriff konstituiere.55 Während Levinas Weltbegriff letztlich einer Wahrheitslogik im epistemologischen Sinne folgt56, wertet Arendt gerade deswegen die doxa gegenüber der Wahrheit auf, um den Dialog als Suche nach der Wahrhaftigkeit der doxa zu beschreiben, von der aus sich ihr Weltbegriff entgegen des Levinasschen-egologischen als genuin intersubjektiver Begriff aufspannt.57 Gerade die Deutung des jeweiligen Weltbegriffes wie auch das damit zusammenhängende Verhältnis von Wahrheit und doxa sind entscheidende Differenzen zwischen Arendts und Levinas‘ Denken. Denn dieser führt nicht nur dazu, dass Arendt das Miteinandersein vom inneren Zwiegespräch her denkt, das im Dialog der Menschen miteinander einen tieferen Sinn erhält, weil sich in diesem Zwischen Welt und ein Verstehen der eigenen doxa eröffnen, sie also die Ethik von der Verantwortlichkeit des Einzelnen her denken kann in der Betonung des individuellen Gewissens, wohingegen sich für Levinas ein derart egozentrischer Ethikbegriff verbietet, weil das ihm zugrundeliegende Denken als „Lernen“ ein „Ergreifen des Gelernten und ein In-Besitz-nehmen“ (30) eines Gegenwärtigen, letztlich also zu einer inadäquaten Verobjektivierung des Anderen durch den Arendtschen Dialog führen würde, ja, der Andere gerade nicht in der Welt erscheint, da diese bei ihm der exklusive Ort jener Objektivität ist, derer sich der Andere entzieht.58 Zugleich können sie beide, trotz ihrer Differenzen, die Ethik von der Haltung und der Verantwortlichkeit59 bzw. „Verpflichtung“ eines jeden Menschen aus denken, was bei Arendt heißt, dass der Mensch in der Artikulation seiner doxa, die auf diesem Weg eine tiefere Verständigkeit erhält, sprachlich mit einer Haltung erscheint und die Haltung des Anderen mich auf mein Gewissen zurückwirft, wohingegen der Dialog selbst Levinas zufolge auf eine der sprachlichen doxa vorgelagerten Haltung dem Anderen gegenüber verweist, einer Haltung, die vor aller Sprache insofern die „Ungleichheit – eine Dissymmetrie“ zum Ausdruck bringt, als „Ich als Ich Diener des Du im Dialog“ sei.60 Geht es Levinas in der kritischen Auseinandersetzung mit den jüdischen Philosophen Martin Buber, Franz Rosenzweig und Gabriel Marcel, die die Sprache auf ihre intersubjektivitätsstiftende Sinnfunktion hin betrachten und damit über ihre Vermittlungsfunktion, die unter der Logik einer allumfassenden Vernunft stünde, hinausgehen, darum,
ahnen zu lassen, dass der Dialog im Gegensatz zum Wissen und im Gegensatz zu gewissen Ausführungen von Philosophen des Dialogs, ein Denken des Ungleichen [inégal] ist, ein Denken, das über das Gegebene hinausdenkt; die Modalität zu zeigen, wie im Dialog oder besser in der Ethik des Dialogs – in meiner Diakonie angesichts des anderen [Herv. VS] – ich mehr denke, als ich begreifen kann [Herv. VS], die Modalität, wie das Unbegreifliche Sinn bekommt; oder wie man es noch ausdrücken kann: die Modalität, wie ich mehr denke, als ich denke61,
so könnte ihm eine Überbetonung der Differenz vorgeworfen werden. Im Anschluss an Bubers These, dass ich „den anderen Menschen als Du anrufen oder ansprechen“62 kann, ohne ein Wissen von ihm haben zu müssen, zusammen mit Rosenzweigs Idee der Einsamkeit, die insofern ein rein egologisches Moment sei, als ich diese rein phänomenal-ontologisch nicht mit anderen gemein habe, sie also nicht zur Stiftung von Miteinandersein taugt, geht es Levinas um eine „absolute Distanz zwischen dem Ich und dem Du“, die im Dialog zugleich vertieft und transzendiert wird, um eine „absolute Distanz, die sich der Synthese widersetzt“.63 Vielleicht geht es hier auch schlicht und einfach um das Motiv der Aufmerksamkeit, zu der ich mich qua der Existenz des Anderen angerufen fühle, die aber letztlich dann doch auch mir obliegt, sowie sie sich mir entzieht, weil ich nicht Herrin meiner Aufmerksamkeit bin. Das Zwischen des Dia-logs scheint sich jedoch genau auf dem Hintergrund dieser absoluten Differenz von Ich und Du aufzuspannen64, weswegen der Dialog mehr sein muss als das Sprechen der Menschen miteinander, um ein Miteinander zu stiften. Denn der Dialog selbst erscheint bereits als Ausdruck einer bestimmten Haltung zu dem, was als Welt erfahren wird, die genau auf dem Hintergrund dieser Haltung als Welt erfahren wird, während jeder einzelne Dialog ebenjene Haltung zu dem, was als Welt erfahren wird, zu kontaminieren scheint, was sich als Gesamtgefüge zugleich meiner Einflussnahme entzieht, und ich mich jedoch nichtsdestrotrotz letztlich verantwortlich erweise für ebenjene Erfahrung.
Arendt hingegen könnte insofern eine Naivität und Blindheit hinsichtlich der Grenzen des Dialogs, der Sprache und des menschlichen Verstehens vorgeworfen werden, kommen ihr zufolge diametral zu Levinas im Dialog die Gleichheit und die Differenz zusammen, weil sie das Miteinandersein von so etwas wie einem ‚gelingenden Dialog‘65 aus denkt. Dieser Vorwurf erspinnt sich aus der phänomenologisch anmutenden, letztlich aber idealistisch fundierten Beschreibung des Dialogs bei Arendt, der eine fundamental kritische Auseinandersetzung guttun würde, womit nicht der Dialog als solcher in seiner Intersubjektivität-stiftenden Dimension fraglich erscheint, sondern der Dialog in seiner genuin praktischen Dimension allumfassend-kritisch hinterfragt werden muss, um infolge des Aufzeigens von Grenzen und Gefahren des Denkens eines Miteinanderseins rein vom Dialog (und des Handelns) her zu weiteren Bestimmungsmerkmalen des Dialogs zu gelangen als dem des noch vage erscheinenden Freundschaftsbegriffs. Oder, mit Levinas Worten: es gälte, „einen Dialog finden, um in den Dialog hineinzuführen“66, was dem Einzelnen zu obliegen scheint, erscheint es doch paradoxal, intersubjektiv, das hieße dialogisch, die Grundlagen eines Dialoges zu finden, der überhaupt erst in den angestrebten Dialog hineinführen soll. Ausgehend davon stellt sich auf eine besonders dringliche Weise die Frage des Übergangs, den Arendt wenig überzeugend dahingehend beantwortet, dass sich in dem individuellen Zwei-in-Einem die Pluralität der Menschheit andeutet. Es scheint hier, für ein Miteinander aus dem Zwischen heraus ginge es darum, weder, wie Arendt, den inneren Dialog an den Anfang des Miteinanders zu setzen, noch, wie Levinas, den inneren Dialog deswegen für unmöglich zu erklären, weil er „ohne vorgängigen Dialog, ohne die Begegnung mit dem Anderen nicht möglich gewesen wäre“67.
Nimmt man das In-der-Welt-Sein des Menschen ernst, so kann nicht die historische Dimension der menschlichen Sprachlichkeit außenvorgelassen werden und damit die Tatsache, dass Sprache immer in einem spezifischen sozio-kulturellen Kontext erlernt und angewandt wird. Stattdessen bietet sich vielleicht ein Denken an, das nur insofern metaphorisch bzw. hypothetisch-konstruierend formuliert werden kann, als hier die genuine Verflochtenheit von etwas zum Ausdruck kommt, das sich aufgrund eben jener Verflochtenheit einem Dualismus entzieht, zugleich aber weder das eine im anderen noch beides in einem aufgehen lässt, wobei es uns hier vor allem um das Verhältnis von innerem und intersubjektivem Dialog geht, das mit dem Wir das Zwischen des Miteinanderseins aus dem Zusammenwirken vermeintlich peripherer Strukturen stiftet. Dieses – mindestens vorerst – als metaphorisch formulierte Denken scheint anschlussfähig an den von beiden Philosophen eingeführten Begriff der Haltung, mit dem sich überhaupt erst das Feld des Ethischen eröffnet; die Ethik sich also als vorrationales Feld erscheint.68 Zugleich ließe sich damit anschließen an die gestalterische Kraft der Menschen im Dialog der Menschen miteinander, die Arendt auch auf der Handlungsebene stark macht, und sich bei Levinas formal wiederfindet in dem einem fiktiven Überschreiten der absoluten Ich-Du-Differenz im Dialog implizierten „Überschuss [surplus]“, den er beschreibt als „das Bessere [le mieux] eines Jenseits seiner selbst, ein[] Überschuss und das Bessere der Nähe des Nächsten, welche ‚besser‘ ist als die Koinzidenz mit sich selbst, und dies trotz oder gerade wegen der Differenz, die sie trennt.“69 Levinas geht sogar so weit, den Dialog, der erst dann „einen Sinn“ bekommt, „wenn ein Ich Du sagt“, als ursprünglichen Modus der Transzendenz über jede mögliche Form der Transzendenz zu stellen, der Dialog also die Transzendenz sei und als solche seine „Bedeutung […] von allgemeiner Tragweite“, weswegen er auf den Dialog mit Gott verweise.70 Wie schon Wilhelm von Humboldt schrieb, bedingen Sprache und Denken einander, weswegen der Sprache letztlich schon dann auf der individuellen Ebene eine gestalterische Kraft zukommt, wenn sie das Mittel ist, durch das wir über die Frage des Miteinanderseins nachdenken und unser Denken maßgeblich unsere Haltung zu dem, was als Welt erfahren wird, prägt.71 Mit Arendt ginge es vornehmlich um die individualistisch geprägte, aber dann doch intersubjektiv erscheinende Wirkkraft der Sprache in ihrer genuin praktischen weltstiftenden Dimension, da der Dialog das Handeln der Menschen miteinander bedingt und das individuelle Sprechen erst im Horizont des intersubjektiv möglichen Handelns zu seiner Erscheinung kommt. Dass der Dialog kein rein individualistisches Unterfangen ist und das Sprechen weder im Dialog aufgeht noch auf diesen reduzierbar ist, wird mit Levinas deutlich, wenn man seine These mitnimmt, dass es aufgrund der Nicht-Indifferenz von Ich und Du im Dialog ein vorrationales „‚Zwischen‘ [l’entre-les-deux]“ gibt, das als der Ursprung, der das Ich als Ich und das Du als Du bestimmt“72 die, oder wenigstens eine, Determinante des Dialogs aufzeigt. Ob man so weit gehen muss, den Dialog auch hinsichtlich einer theologischen Implikation zu deuten, wie sie unterschwellig bei Arendt73, besonders deutlich aber bei Levinas74 zu finden ist, soll hier nicht entschieden werden, sehr wohl aber die ethische Dimension des Dialogs betont werden, die nicht nur darin besteht, die Verantwortlichkeit für das eigene Sprechen zu übernehmen, sondern auch für die Haltung, die ich dem Anderen gegenüber einnehme, da das Miteinandersein maßgeblich beeinflusst wird von meiner Offenheit, die als etwas vorrationales so etwas wie ein Verstehen-Wollen und ein Denken von der Mitte samt ihrer kritischen Ränder überhaupt erst eröffnet. Der Dialog artikuliert nicht bloß eine individuelle doxa, ist nicht auf das Sprachliche zu reduzieren, sondern Ausdruck einer vorsprachlichen Haltung, die sich dem Anderen öffnet und damit zugleich sich selbst in die Waagschale legt. Oder, erteilen wir Levinas das Wort, um den hier bloß eröffneten Dialog – jedenfalls vorerst und daher explizit ohne ein abschließendes Fazit – zu schließen:
Aber bedeutet nicht die Unmittelbarkeit der Relation selbst und ihre Exklusivität, mehr noch als die bloße Negation von Vermittlungen und Ablenkungen, eine gewisse Dringlichkeit in der angesichts des anderen Menschen einzunehmenden Haltung, eine gewisse Dringlichkeit der Intervention? Ist die Eröffnung des Dialogs selbst nicht schon für das Ich eine Weise, sich zu enthüllen, sich preiszugeben, eine Weise für das Ich, sich dem Du zur Verfügung zu stellen? Warum sollte es sprechen? Weil der Denkende etwas zu sagen hat? Aber warum hätte er es zu sagen? Warum genügte es ihm nicht, dieses Etwas, das er denkt, zu denken? Sagt er nicht das, was er denkt, gerade weil er über das hinausgeht, was ihm genügt, und weil die Sprache [la langage] diese Grundbewegung trägt? Über die Selbstgenügsamkeit hinaus in die Indiskretion des Duzens und des Vokativs, die zugleich Anspruch einer Verantwortung und Huldigung bedeuten.75
Literatur
Arendt, Hannah (1958): Vita activa. Oder Vom tätigen Leben. München/ Berlin 1967.
Arendt, Hannah (1959): „Gedanken zu Lessing: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“. In: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten. Herausgegeben von Ursula Ludz. München/ Zürich 1989.
Arendt, Hannah: Das Urteilen: Texte zu Kants Politischer Philosophie. München 1985.
Arendt, Hannah: Sokrates. Apologie der Pluralität. Eingeleitet von Matthias Bormuth und mit Erinnerungen von Jerome Kohn. Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Berlin 2016.
Arendt, Hannah: Denktagebuch. 1950-1973. München/ Berlin 2020.
Hesse, Hermann (1930): Narziß und Goldmund. Frankfurt am Main, 1975.
Levinas, Emmanuel: Zwischen Uns. Versuche über das Denken an den Anderen. München 1995.
Levinas, Emmanuel: Dialog. Ein kooperativer Kommentar. Herausgegeben von Burkhard Liebsch. Freiburg/ München 2020.
Ricœur, Paul: Liebe und Gerechtigkeit. Amour et Justice. Mit einer deutschen Parallelübersetzung von Matthias Raden. Herausgegeben von Oswald Bayer. Tübingen 1990 (frz. 1990).
von Humboldt, Wilhelm (1783): Über die Sprache. Reden vor der Akademie. Tübingen 1994.
1 Hesse, 1930/1975, 97.
2 Arendt 2016, 57.
3 Der wahre Dia-log im Sinne des dias logos erscheint als ein Ereignis, das sich aus dem Zwischen zweier füreinander offenen Menschen heraus konstituiert, also als ein der Weltbezüglichkeit bedingter intersubjektiver Ort, wo das Miteinander sowohl aus der Mitte und der Peripherie heraus gestiftet wird.
4 Auf dem Hintergrund dessen dürfte es legitim erscheinen, dass im Folgenden vornehmlich Arendt als Referenzpunkt herangezogen wird, deren Gedanken in der Referenz auf Texte von Levinas – so die Hoffnung – an Schärfe gewinnen. Zugleich mag dem aufmerksamen Leser mit dem Versuch eines Dialogs einhergehend mit einer erfahrbaren Asymmetrie zwischen den Dialogpartnern eine praktische Referenz auf die jeweiligen Ansätze selbst auffallen. Letztlich sollte nicht unterschlagen werden, dass es nicht um eine reine Reproduktion der Ansätze von Arendt und Levinas geht. Ganz im Sinne eines Ansatzes von der Sache aus, die das Thema dieses Textes ist, dient die hier gewählte Bezugnahme einem a-dogmatischen Ansatz, einem Weiterdenken, wobei aus Platzgründen auf eine explizite Ausarbeitung jeglicher Grenzen des jeweiligen Denkens ebenso verzichtet werden muss wie eine stringent-analytische Verwendung eindeutig definierbarer Begriffe, wenn dies der Sache selbst nicht angemessen erscheint (Bspw. Welt).
5 Wie im Denktagebuch nachzulesen, bezieht sie sich explizit auf die politische Philosophie Kants, die sie aus dessen Kritik der Urteilskraft und nicht aus seinen moralischen Schriften herausliest, weil letztere eine unantastbare „Moral der Ohnmacht“ beschrieben, die nur in „‚Grenzsituationen‘“ legitim erscheine, das heißt „wenn man für die Welt Verantwortung nicht mehr übernehmen kann“ (Arendt 2020, 818).
6 Der Philosoph befinde sich ihr zufolge „in doppeltem Konflikt mit der Polis. Da seine wichtigste Erfahrung eine der Sprachlosigkeit ist, hat er sich außerhalb des politischen Bereichs gestellt, wo die höchste Fähigkeit des Menschen ja eben gerade die Rede ist – logon echon ist der Umstand, der den Menschen zu einem zoon politikon macht, einem politischen Wesen. Der philosophische Schock erfasst im Übrigen den Menschen in seiner Singularität, das heißt: weder in seiner Gleichheit mit allen anderen noch in seiner absoluten Verschiedenheit von ihnen. […] Schlimmer noch ist der andere Konflikt, der das Leben des Philosophen bedroht. Das pathos des Staunens ist auch den anderen Menschen nicht fremd, es stellt, im Gegenteil, einen der allgemeinsten Züge der menschlichen Existenz dar. Für die große Menge besteht der Ausweg aus diesem Leidenszustand darin, dass man sich Meinungen bildet, wo diese gar nicht angemessen sind. Und deshalb wird der Philosoph unweigerlich mit diesen Meinungen in Konflikt geraten, die ihm unerträglich sind. Und da seine eigene Erfahrung mit der Sprachlosigkeit sich lediglich durch das Aufwerfen von nichtbeantwortbaren Fragen äußert, hat er in der Tat einen entscheidenden Nachteil, sobald er in den Bereich des Politischen zurückkehrt. Er ist der Einzige, der tatsächlich nichts weiß, der Einzige, der keine klar definierte und deutliche doxa hat, die mit den anderen Meinungen konkurrieren könnte, keine Meinung, über deren Wahrheit oder Unwahrheit dann der gesunde Menschenverstand entscheiden kann. Das heißt: ihm fehlt jener sechste Sinn, den wir nicht nur alle gemein haben, sondern der uns auch in eine gemeinsame Welt stellt und so diese überhaupt erst möglich macht“ (Arendt 2016, 80f), also jene erst doxa, deren Erscheinung in der Sprache eine „gemeinsame Welt“ stiftet.
7 Arendt 2020, 15.
8 Arendt 1967, 84f.
9 Ebd., 85.
10 Mit dem Begriff des Politischen hebt sie ab auf den „politischen Bereich[] im weitesten Verstand“ (ebd., 12), womit sie die Erscheinungsweise des Menschen im Leben, Bewegen, Handeln und Sprechen meint.
11 Arendt 2020, 17; Arendt 1967, 18. Faktum im Sinne der Gegebenheit bezieht Arendt auf das menschliche Leben, das sie nicht verwechselt wissen möchte mit einer von der Natur vorgegebenen Gegebenheit (vgl. Arendt 2020, 810.
12 Ebd., 17 [im Original unterstrichen].
13 Ebd., ebd. Bereits hier deutet sich das Primat des Individuums bei Arendt an, wobei der einzelne Mensch zunächst a-politisch sei, was er erst in der Öffentlichkeit der Gemeinschaft überwindet, und dadurch wiederum human im Sinne der Conditio humana wird.
14 Arendt 1967, 214. So schreibt sie in ihrer Dankesrede anlässlich des Lessingpreises: „Aber die Welt und die Menschen, welche sie bewohnen, sind nicht dasselbe. Die Welt liegt zwischen den Menschen, und dies Zwischen – viel mehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch – ist heute der Gegenstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterung in nahezu allen Ländern der Erde“ (Arendt 1989, 18). Ursache der Sorge ist das Zurückziehen der Menschen aus dem öffentlichen Raum, das insofern mit einem „Weltverlust“ einherginge, als durch das Zurückziehen „der spezifische und meist unersetzliche Zwischenraum, der sich gerade zwischen diesem Menschen du seinen Mitmenschen gebildet hätte“, verhindert wird (ebd., ebd.).
15 Ebd., 23, Herv. VS; Ebd., 24.
16 Arendt 1967, 17. „Das Handeln ist die einzige Tätigkeit der Vita activa, die sich ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt. Die Grundbedingung, die ihr entspricht, ist das Faktum der Pluralität, nämlich die Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern“ (ebd., ebd.).
17 Arendt 2020, 175.
18 Arendt 1967, 217.
19 Vgl. Arendt 2020, 175.
20 Arendt 1967, 216.
21„Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen“ (ebd., 215).
22 Ebd., ebd.
23 Ebd., ebd.
24 Ebd., 214. Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart. Dies aktive In-Erscheinung-Treten eines grundsätzlich einzigartigen Wesens beruht, im Unterschied von dem Erscheinen des Menschen in der Welt, durch Geburt, auf einer Initiative, die er selbst ergreift“, ohne dass er sich entschlossen hat, denn „kein Mensch kann des Sprechens und des Handelns ganz und gar entraten“ (ebd., ebd.).
25 Ebd., 217.
26„[…] als ob es im Menschen etwas Politisches gäbe, das zu seiner Essenz gehöre. Dies stimmt gerade nicht; der Mensch ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus ausserhalb des Menschen. Es gibt daher keine eigentlich politische Substanz. Politik entsteht im Zwischen und etabliert sich als der Bezug“ (Arendt 2020, 17 [im Original unterstrichen]).
27 Laut Arendt besteht der Fehler des vor den Richtern stehenden platonischen Sokrates darin, dass er an seiner eigenen Sprachform festhielt, indem er sie dialektisch zu überreden versucht, obwohl sie nicht in der Dialektik geschult sind und infolgedessen an der Effektivität des Zweifelns selbst zweifelt, was so weit führt, dass er für den Philosophen keinen sicheren Ort in der Polis sieht, was, wie Arendt gegen Ende behauptet, begründet ist in der Haltung des Philosophen gegenüber der Polis, „der Konflikt zwischen der Philosophie und den profanen Angelegenheiten des Menschen am Ende ein Konflikt in ihm selbst ist. Diesen Konflikt hat Platon verallgemeinert und als einen Streit zwischen Körper und Seele erklärt“ (Arendt 2016, 68).
28 Ebd., 71.
29 Wir belassen es hier dabei, lediglich darauf hinzuweisen, dass Arendt im Sokrates-Text wiederholt die Notwendigkeit des menschlichen Erscheinens für das Politische betont.
30 S.a. Vita activa, wo es ihr darum geht, „daß Handeln und Sprechen im wesentlichen Virtuositäten sind“ und daß „Handeln und Sprechen in der Aktualität des Tätigseins selbst besteht“ (Arendt 1967, 263).
31 Arendt 1989, 22. Es ginge bei Lessings Nathan darum, mit der „Fermenta cognitionis […] ein Gespräch zwischen Denkenden in Ganz zu bringen. Das Lessingsche Denken ist nicht ein Sprechen mit sich selbst, sondern ein vorweggenommenes Sprechen mit anderen“ (Ebd., 24, Herv. VS).
32 Arendt 1985, 53.
33 Arendt 1967, 213.
34 Arendt 2016, 56.
35 Würde ich jemanden töten, so würde ich mich selbst „auf Lebenszeit zum Zusammenleben mit einem Mörder verurteilen“, was für Arendt im Anschluss an Sokrates zu wollen nicht denkbar sei. Entgegen „totalitären Massenorganisationen“, in denen das für das eigene Mit-sich-selbst-Zusammenstimmen notwendige „Mit-sich.selbst-Alleinsein“ nicht mehr möglich ist, plädiert Arendt überraschenderweise für das „Alleinsein“, da sich erst hier so etwas wie ein Gewissen konstituieren kann: „Niemand, der nicht fähig ist, mit sich selbst einen Dialog zu führen, kann sein Gewissen bewahren. Denn ihm fehlt, was für alle Formen des Denkens notwendig ist: das Alleinsein“ (Ebd., 63). Sie scheint damit die wesentlich egologische Struktur des Gewissens bei Heidegger (vgl. Arendt 2020, 814) dahingehend überwinden zu wollen, als das Gewissen das Feld der Intersubjektivität eröffnen soll, und zwar, weil – wie sie es im Denktagebuch mit Referenz auf Jaspers betont – eine Handlung ihren moralischen Wert nur hinsichtlich der intersubjektiv erscheinenden Welt, in der sie ausgeübt wird (vgl. ebd., 823), erhält.
36 Dass Arendt hier bloß vorsichtig im allgemeinsten Sinne von Menschheit spricht, scheint ihrem Misstrauen dem Begriff der Menschheit geschuldet, in dem philosophiegeschichtlich „die Vielheit der Menschen in ein Menschenindividuum zusammengeschmolzen“ (Arendt 2020, 17) worden, ergo das genuin menschliche verkannt worden sei.
37 Arendt 2016, 59. Laut Arendt habe die „platonische Aufteilung des Menschen in zwei Teile die ursprüngliche Erfahrung des Denkens als eines Dialogs der Zwei-in-Einem, des eme emauto“ (ebd., 69) überlagert, worin Arendt auch das Verkennen des politischen Ursprungs der Philosophie begründet sieht, denn: „Während der Körper die Stadt der Menschen bewohnt, wird das Göttliche der Philosophie von etwas erblickt, das selbst göttlich ist, von der Seele. Diese bleibt irgendwie von den lediglich menschlichen Angelegenheiten getrennt“ (Ebd., 68). Daher schreibt sie gegen Ende: „Die Einsamkeit mit sich selbst, der Dialog des Zwei-in-Einem ist integraler Bestandteil des Zusammenseins und Zusammenlebens mit anderen“ (Ebd., 81). Hier treffen sich Philosoph und Mitbürger, wobei: „Der Unterscheid zu seinen Mitbürgern besteht nicht darin, dass er irgendeine besondere Wahrheit besitzt, von welcher die Menge ausgeschlossen wäre, sondern dass er immer bereit bleibt, sich dem pathos des Staunens auszusetzen, und darum dem Dogmatismus derer entgeht, die lediglich über Meinungen verfügen“ (Ebd., 82).
38 Ebd., 71. Laut Arendt ist es eben jene Stellung des Menschen in der Welt, von der die doxa ebenjenes Menschen abhängig ist, ergo hätten im Höhlengleichnis die Menschen ihre Stellung zu ändern, um sich eine neue doxa bilden zu können (vgl. ebd., ebd.).
39 Arendt 2016, 72. Der gesunde Menschenverstand fungiert bei Arendt als praxisbezogene Gegenfolie zum weltfremden philosophischen Verstand.
40 Das Motiv der Pluralität geht bei Arendt so weit, dass sie zu dem für den Leser möglicherweise unbefriedigenden Umstand führt, dass sie keine eindeutigen Bestimmungen liefert, sondern unter anderem eine pluralistische Bestimmung oder vielmehr Beschreibung der doxa liefert, sei sie doch „Meinung, Glanz, Ruhm und eigene Welt für ihn [hier: Ödipus] selbst“ (ebd., 64). Hier können auch wieder Verschiedenheit und Gleichheit zusammengedacht werden, als diese Phänomene auf etwas verweisen, ohne in diesem schlichten Verweisungscharakter aufzugehen, sowie auch der Ursprung nicht in diesen Phänomenen aufgeht.
41 Arendt 1967, 218. In der Sprache teile der Mensch nicht nur etwas mit, „sondern in all dem auch immer zugleich sich selbst“ (ebd., 214).
42 Arendt 2016, 62; 66.
43 Ebd., 67.
44 Vgl. ebd., 53ff.
45 Arendt 2016, 58. S.a.: „Reden und Handeln (lexis und praxis) „die beiden politisch bedeutsamsten Wörter zur Bezeichnung menschlicher Aktivität“ (ebd., 73). Dieses Insistieren auf das Erscheinen des Menschen für dessen Verwirklichung ist auch der Grund dafür, dass Arendt entgegen der Antike dem Schönen den Vorrang gegenüber dem Guten einräumt, was zusammengeht mit ihrer Bestimmung der doxa als Glanz, denn der Glanzcharakter des Schönen ermöglicht das (annähernde) Erscheinen der Ideen, die wiederum „definiert [werden] als das, dessen Erscheinung uns erleuchtet“ (ebd., 42). Ob das Schöne eine niedrigere Stufe der Ideen ist oder vielmehr eine Annäherung an die Ideen ermöglicht, erscheint hier unklar.
46 Ebd., 253. „Macht aber besitzt eigentlich niemand, die entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln“ (ebd., 252).
47 Liebe kann nach Ricœur im Anschluss an Kant nicht Grundlage der Ethik sein, sondern nur poetisch, nicht aber moralisch geboten werden (vgl. Ricœur 1990, 21), da diese nicht zum verpflichtenden Gesetz, werden könne. Während Gerechtigkeit selbst aufgrund seiner Argumentationsstruktur wesentlich dialogisch ist, kann Liebe nicht begründet werden (vgl. ebd., 29), sowie sie sich einer Ethik entziehe, weil, wie Ricœur mit LK 6, 23-34 einführt, auch die Sünde geliebt werden könne (vgl. ebd., 51) und er die Ethik zusammendenkt mit einer mit der Liebe unvereinbaren Logik (vgl. ebd., 53f.). Das Gebot der Gerechtigkeit komme auf in der „Unterscheidung zwischen Freunden und Feinden“ (ebd., 49), womit die Ethik durch ebendiese Supraethik negiert wird. Aufgrund der Dialektik von Liebe und Gerechtigkeit, dass Liebe „nur unter der Leitung der Gerechtigkeit Zugang zum praktischen und ethischen Bereich“ habe, sei die „Gerechtigkeit das notwendige Medium der Liebe“ (ebd., 63). Für Ricœur besteht anschließend an seine Gegenüberstellung von Eros und Agape in Referenz zu Scheler ein Widerspruch von Liebe und Mitgefühl: „Das Mitgefühl ist reaktiv in dem Sinne, den Nietzsche diesem Ausdruck gegeben hat, wohingegen die Liebe ein spontaner Vorgang ist“ (ebd., 73), durch den der Wert des geliebten ‚Objektes‘ gesteigert werde (vgl. ebd., 75).
48„Nur jemand, der die Erfahrung gemacht hat, dass er mit sich selbst redet, ist in der Lage, ein Freund zu sein, sich ein anderes Selbst zuzulegen“ (Arendt 2016, 56).
49 Ebd., 60.
50 Ebd., 48f. S. a.: „Für uns ist es entscheidend, die doxa wahrhaftig [im Sinne des Erscheinens] werden zu lassen, in jeder doxa Wahrheit zu erkennen und so zu reden, dass die Wahrheit der eigenen Meinung sich uns selbst und den anderen erschließt“ (Ebd., 54).
51 Ebd., 53.
52 Ebd., 76. Da das Staunen ein sprachloser Vorgang sei und das Philosophieren aufgrund des menschlichen Scheiterns an dem Wahrheitsanspruch in einer „Sprachlosigkeit“ (ebd., 78) ende, fielen laut Arendt Anfang und Ende der Philosophie zusammen. Ohne es explizit zu schreiben, hebt Arendt mit dem Staunen das Erfahrungsmoment des philosophischen Denkens hervor, das zu einem „Bewusstsein“ (ebd., 77) des letztlich auf die Welt bezogenen Philosophen über sein Nichtwissen führt, eine strikte Trennung von Mensch und Philosoph, folglich auch von Politik und Philosophie letztlich unsinnig erscheint, denn „[i]ndem er die letzten, unbeantwortbaren Fragen stellt, erweist sich der Mensch als fragendes Wesen“ (ebd., 78).
53 Arendt 2016, 79.
54 Levinas 2020, 28.
55 Ebd., 34. „Doch dass es kein Denken ohne Sprache gibt, bedeutet somit nur die Notwendigkeit einer inneren Rede [discours intérieur]. […] Es [das Denken] reflektiert auf sich selbst, indem es sein spontanes Fortschreiten unterbricht, bleibt aber noch demselben ich denke verpflichtet. Es bleibt dasselbe“ (ebd., 34).
„Das Sprechen der Sprache realisiert sich in einer empirischen Vielheit von denkenden Menschen, die in ihrem Dienste stehen. Aber selbst da lässt sie sich in ihrer Unterordnung unter das Wissen begreifen, das darin besteht das jeder Gesprächspartner in das Denken des anderen eintritt, mit ihm in der Vernunft übereinstimmt, sich in ihr verinnerlicht“, stünden folglich im Dienste eines „‚Ideenaustausches‘“, der den Dialog der Seele mit sich selbst reproduziere und inszeniere (ebd., 34; 35).
56„Was das Denken weiß oder was es im Laufe seiner ‚Erfahrungen‘ lernt, ist zugleich das Andere [l’autre] und das Eigene [le propre] des Denkens. Man lernt nur das, was man schon weiß und was sich in die Innerlichkeit des Denkens als eine abrufbare, zu vergegenwärtigende Erinnerung einfügt. […] Es ist immanentes Denken und immanentes Seelenleben, Selbstgenügsamkeit. Gerade das macht das Phänomen der Welt aus: die Tatsache, dass es zwischen dem Gedachten und dem Denkenden eine Übereinstimmung gibt, dass ihr Erscheinen zugleich ein Sich-Geben, ihre Erkenntnis eine Befriedigung ist, als stillte sie ein Bedürfnis“ (Ebd., 30f.).
57„Die Wahrheit kann also die doxa zerstören; sie kann die spezifische politische Wirklichkeit der Bürger vernichten“ (Arendt 2016, 64).
58 Aus der Inbesitznahme des Denkens, das dem Dialog zugrunde liegt, weil ich dadurch versuche, den Anderen zu verstehen, schlussfolgert Levinas: „Die Tätigkeit des Denkens vereinnahmt jede Andersheit [altérité]“ (Levinas 2020, 31). Und an späterer Stelle: „Man kann dieses Gespräch Dialog nennen, in dem die Teilnehmer gegenseitig in ihr Denken eintreten, bei dem die Teilnehmer durch den Dialog zur Vernunft gebracht werden. Und man kann die Einheit der mannigfaltigen Bewusstseine, die in dasselbe Denken eingetreten sind, indem ihre wechselseitige Andersheit unterdrückt wird, Sozialität nennen. Dieser Dialog des „westlichen Humanismus“ (ebd., 35), bei dem Einheit durch Berufung auf die Vernunft gestiftet wird, „wäre nur möglich in der reinen Liebe zur Wahrheit und zur Intelligibilität eines spinozistischen Universums. Das Sich-Verbeugen vor der Wahrheit kann sich aber auch als Macht der Beherrschung und als Möglichkeit zur List erweisen. Dies zeigt sich in der Erkenntnis des anderen als eines Gegenstandes, absehend von jeder Sozialität mit ihm. Ist einmal die Macht über ihn wie über ein Ding erworben, erwachsen gerade aus der Sprache, die zur Vernunft führen soll, alle Versuchungen der trügerischen Rede, der Werbung und der Propaganda“ (Ebd., 35).
59 Vgl. Arendt 1985, 66.
60 Levinas 2020, 50. Diese Dienerschaft des Ich für das Du sei im Sinne einer „Ethik des Empfangens [éthique de l’accueil], der erste religiöse Dienst […]. […] nicht so, dass der andere Mensch für Gott gehalten werden muss oder dass Gott, das Ewige Du, sich nur in einer Verlängerung des Du findet. Was hier zählt, ist, dass von der Beziehung zum anderen her, vom Grund des Dialogs her, dieses unermessliche Wort für das Denken Bedeutung gewinnt, und nicht umgekehrt“ (ebd., ebd.). Um das noch einmal zu betonen: während Arendts Ethikbegriff sich vom Gewissen des Einzelnen her gebietet, findet Levinas Ethikbegriff seinen Anfang in der Existenz des Anderen, zu dem ich mich in einem Angesicht-zu-Angesicht in einer Relation der Wahrheit vorgelagerten „Nicht-Indifferenz [non-indifférence]“ (ebd., 36) befinde, die überhaupt erst die „Möglichkeit einer Begegnung mit dem anderen als anderem“ (ebd., ebd.) stifte. Der Begriff der ‚non-indifférence‘ meinte „das direkte Von-Angesicht-zu-Angesicht, in dem sich die Verantwortung des Anderen ‚ohne Gemeinsamkeit‘ soll abzeichnen können (vgl. Levinas 1995, 85; 165). Während in Arendts Verantwortlichkeitsbegriff Gleichheit und Einzigartigkeit zusammengedacht werden, sie also ein symmetrisches Verhältnis der Menschen miteinander beschreibt (bzw. idealisiert), steht Levinas Begriff der Verantwortlichkeit streng gesehen im Dienste der Verantwortlichkeit für den Anderen, weil er von einer Asymmetrie von Ich und Anderer ausgeht.
61 Levinas 2020, 50.
62 Ebd., 40.
63„Einerseits vertieft sich [se creuse] im Dialog eine absolute Distanz zwischen dem Ich und dem Du, die durch das unaussprechbare Geheimnis ihrer Intimität absolut voneinander getrennt sind, da jeder der Partner als Ich und als Du einzigartig [unique] dem anderen gegenüber absolut anders ist, ohne jedes gemeinsame Maß, ohne jeden Raum für eine etwaige Koinzidenz; andererseits aber entfaltet sich hier- oder tritt das Ich als Ich und das Du als Du bestimmend dazwischen – die außerordentliche und unmittelbare Beziehung des Dia-logs, der diese Distanz transzendiert, ohne sie abzuschaffen, ohne so zu vereinnahmen, wie es der Blick tut, der dadurch die Distanz zurücklegt, die ihn von einem Gegenstand in der Welt trennt, dass er sie umfasst, sie einschließt“ (ebd., 41). Hier ließe sich kritisch anmerken, ob nicht auch die Sprache in dem gleichen Sinne wie der Blick einschließend vereinnahmend fungieren kann, und zwar indem der Klang den Raum überwindet, der zwischen den Menschen besteht, also bereits das auditive Angesprochen-Werden als Gewaltakt gedeutet werden kann.
64„Gerade weil das Du absolut anders ist als das Ich, gibt es, von einem zum anderen, Dialog“ (Ebd., 43).
65 Es ist allerdings fraglich, ob wir je wissen können, ob ein Dialog gelungen ist oder auch gelingen kann.
66 Levinas 2020, 36.
67 Ebd., 44.
68 So scheint Levinas sich in einem gewissen Sinne mit Arendt zu treffen, wenn er schreibt, die Nicht-Indifferenz von Ich und Du eröffne als „Chance für das […], was man – vielleicht mit Vorsicht – mit Liebe und der Liebe Ähnlichem benennen muss“ (Ebd., 45) überhaupt erst das Feld des Ethischen und der Liebe, weswegen Liebe nicht ethisch gefordert werden kann, sondern das ethische Frage bedingt. Das, was Arendt mit dem Terminus eines freundschaftlichen Miteinanders anzeigt, lässt Parallelen zu Levinas Erscheinung der „Brüderlichkeit“ in der „Gnade des Auf-mich-zu-Kommens des Anderen“ zu, die eine „unentgeltliche Gabe [don graduit]“ sei (ebd., 44). Während Levinas jedoch an einem Denken der Ethik vom Guten her festhält, betont Arendt das Schöne, weil es ihr um das Erscheinen und ein Denken des Eigenwerts von der Erscheinung des Menschen her geht.
69 Ebd., ebd.
70 Levinas 2020, 45.
71 Vgl. Humboldt 1783/ 1994.
72 Ebd., 46.
73 Die Philosophen müssten mit dem thaumazein „[b]iblisch gesprochen, den wundersamen Umstand hinnehmen […], dass Gott nicht ‚den Menschen‘ schuf, sondern er ‚schuf sie, einen Mann und eine Frau‘“ (Arendt 2016, 85). Deutlicher wird ihre Bedeutung von Gott im Denktagebuch, wo sie den Anfang des Menschen in Gottes Schöpfung zusammendenkt mit der menschlichen Weltlichkeit, d.h. Freiheit: „Gott hat den Menschen geschaffen, die Menschen sind ein menschliches, irdisches Produkt, das Produkt der menschlichen Natur“ (Arendt 2020, 15), was Ausgang der Politik sei, handele diese doch „von dem Zusammen- und Miteinander-sein der Verschiedenen. Politisch organisieren sich die Menschen nach bestimmten wesentlichen Gemeinsamkeiten in einem absoluten Chaos oder aus einem absoluten Chaos der Differenzen (ebd., 16), was ihnen nur möglich sei, wenn sie nicht versuchen „Gott zu spielen, nämlich so zu tun, als ob man naturaliter aus dem Prinzip der Verschiedenheit herauskommen können“ (ebd., ebd.). […] „In der absoluten Verschiedenheit aller Menschen voneinander, die grösser ist als die relative Verschiedenheit von Völkern, Nationen oder Rassen, ist in der Pluralität die Schöpfung des Menschen durch Gott enthalten. Hiermit aber hat Politik gerade nichts zu schaffen. Politik organisiert von vornherein die absolut Verschiedenen im Hinblick auf relative Gleichheit und im Unterschied zu relativ Verschiedenen“ (Ebd., 18), womit das Umgehen der theologischen Implikationen des Dialogs für unsere politisch motivierte Frage des Miteinanderseins legitim erscheint.
74 Levinas zufolge sei „die Beziehung zum Du in ihrer Reinheit die Beziehung zum unsichtbaren Gott“, denn „das Du wird angerufen als ‚Exklusivität‘ und als nicht zur Welt zugehörig, wenn auch die Begegnung in der Welt stattfindet, während die Intentionalität den Gegenstand immer nur im Horizont der Welt angeht“ (Levinas 2020, 46).
75 Levinas 2020, 49.