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Ausgabe 1, Band 11 – Dezember 2021



Editorial

Natur und Politik sind in der westlichen Ideengeschichte für lange Zeit – wenn  auch nicht unbestrittene – Gegensätze gewesen. Heute gilt es, diesen Dualismus zu überwinden und Natur auch als politischen Begriff zu verstehen.

Hannah Arendt ist, was Natur und Politik angeht, weitgehend eine Vertreterin dieser westlichen Tradition. Wir finden bei ihr einen Naturbegriff, der die Natur als „physis“ objektiviert und der menschengemachten „Welt“ sowie der Politik gegenüberstellt. Ihre verstreuten Reflexionen zu Natur und Politik, die wir – einem von Helmut König erarbeiteten Manuskript folgend – in einem „Document“ zusammengestellt haben, bieten dennoch eine Reihe von Anregungen, um die Gegenüberstellung wenn nicht zu dekonstruieren, so doch produktiv in dem Sinne zu wenden, dass Natur nicht als etwas außerhalb der Politik Stehendes begriffen wird.

HannahArendt.net macht sich mit dieser Ausgabe auf die Suche nach solchen Anregungen – mit Hannah Arendt und über Hannah Arendt hinaus.

Antonio Campillo bietet mit Hilfe der Analysen von Husserl, Arendt, Lovelock, Margulis und Latour einen grundlegenden Überblick über das Naturverhältnis der Menschen von der naturwissenschaftlichen und philosophischen Revolution zu Beginn der Neuzeit bis zu der Ermöglichung einer nuklearen und ökologischen Selbstzerstörung seit dem 20. Jahrhundert.

Toni Cerkez zeigt anschließend, dass Arendts Überlegungen zur Moderne und zu den Verflechtungen von Kapital, Wissenschaft und Technologie eine Fülle von kritischen Einsichten in die Bedingungen der Entstehung des Anthropozäns und seine politischen Merkmale bieten. Die jüngsten Schriften von Dipesh Chakrabarty mit ihrer Hoffnung auf eine Wiederbelebung von Staunen und Ehrfurcht als Merkmale einer neuen Wissenschaft und eines „neuen Universalismus“ oder einer neuen „globalen Politik“ können Arendts Konzept des Handelns um den Aspekt einer nicht mehr anthropomorphen Politik erweitern.

Jonathan Wrens Beitrag bietet jenseits einer romantischen oder technokratischen Reaktion auf die Umweltkrise eine Perspektive auf das Arendtsche Verhältnis zur Welt als gemeinsamem komplexen Raum, in dem auf der Grundlage der Pluralität dem Dissens als Schlüsselelement politischer Intersubjektivität eine besondere Bedeutung zukommt.

Marie Wuth fragt angesichts der unmittelbaren Bedrohungen durch die Umweltkrise nach den Grundlagen eines nachhaltigen Verhältnisses zwischen Natur und Politik im Rahmen des Arendtschen Verständnisses von Handeln und Politik. Um die Bedingungen und den Sinn von Politik im Einklang mit der Natur zu ermöglichen, schlägt sie vor, Arendts begriffliches Instrumentarium im Sinne von „Circular Politics“ und „Planetary Boundaries“ zu erweitern.

Ari-Elmeri Hyvönen bietet aus der Perspektive der Beziehung zwischen Mensch und Natur eine „materielle Kultur der Fürsorge“ an, die auf Arendts Kommentar zum römischen Begriff des colere, der Kultivierung der Natur, zurückgreift und einen Begriff der Fürsorge vermitteln kann, der in die materiellen Interdependenzen im „Netz des Lebens“ eingebettet ist.

Veronika Vasterling weist den Wandel nach, den Arendt hinsichtlich der Konzepte von Welt und Pluralität von „Vita activa“ zu „Vom Leben des Geistes“ vornahm. Sie definiert Welt nicht mehr als die Tierwelt ausschließende menschliche Behausung, sondern als Menschen und Tiere gemeinsam hervorbringende Natur, und Pluralität als ein nicht mehr nur auf die Menschen, sondern alle Lebewesen bezogenes Phänomen.

Mit Agambens extremer Reaktion auf die politischen Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie setzen sich Florian Pistrol und Melanie Mayerhofer auseinander. Sie stellen fest, dass er sich in seinen Thesen zur Biopolitik zu Unrecht auf Arendt stützt und in seiner Untergangsvision den Verschwörungstheorien nahesteht. Indem Arendt auf die Interaktion menschlichen Handelns mit der Natur verweist und ein positives Konzept politischen Handelns anbietet, lässt sich eine positive Alternative zur Ohnmacht Agambens entwickeln.

Werner Bätzing schließlich befasst sich mit der praktischen politischen Überwindung des neuzeitlichen, auf Beherrschung und Ausbeutung beruhenden instrumentellen Naturverhältnisses und beschreibt am Beispiel der Alpen und der alpinen Kulturlandschaften, wie es vormoderne Gesellschaften vermochten, Natur zu nutzen und zu verändern, ohne sie zu zerstören. Daraus lassen sich Folgerungen für die heutigen Umweltprobleme ziehen.

Wir danken Maike Weißpflug für ihre inspirierende Mitarbeit als Gastredakteurin bei der Erstellung dieser Nummer.

Die Redaktion





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