Ausgabe 1, Band 10 – Dezember 2020
Judith Shklar über Hannah Arendt
Judith N. Shklar, Über Hannah Arendt, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Hannes Bajohr, aus dem Amerikanischen übersetzt von Hannes Bajohr und Tim Reiß, Berlin: Matthes & Seitz (Fröhliche Wissenschaft, 158), 2020. 187 S. 14,00 €.
Das Bändchen wird eingeleitet von einem durch den Herausgeber und Übersetzer „stark gekürzten“ Auszug aus dem Kapitel „The Romanticism of Defeat“ in Shklars 1957 erschienenem Buch After Utopia. Arendt erscheint hier als eine unter vielen, die einem „Romantizismus“ anhängen, der eine „Geschichte der Niederlage“ erzählt und keinen Beitrag zur politischen Theorie im Sinne demokratischer Praxis leistet. Arendt wird gesehen in der Gesellschaft von Martin Heidegger und der französischen Existenzialisten. Shklar stellt sie als „Jaspers-Jüngerin“ vor und bezieht sie als Verfasserin des Buches The Origins of Totalitarianism in ihr Gesamtbild ein, wobei oft nicht klar wird, ob sie (oder nur sie) gemeint ist, wenn vom Totalitarismus gehandelt wird. Doch fest steht, so Hannes Bajohr: „Für Shklar war Arendt eine Epigonin des deutschen Existenzialismus und damit der romantischen Tradition.“ (127) Die weiteren fünf Texte in dem Bändchen sind chronologisch angeordnete, ins Deutsche übertragene Einzelveröffentlichungen zu Arendt, die Shklar zwischen 1963 und 1984 in amerikanischen Zeitschriften publizierte.
Mit der Zusammenstellung dieser Einzelveröffentlichungen ist, so betont der Herausgeber, das ganze Ausmaß der Auseinandersetzung Shklars mit Arendt nicht erfasst. Den großen Werken von Arendt lasse sich „meist eines von Shklar gegenüberstellen“, so zuletzt Arendts On Revolution (Über die Revolution) das Buch American Citizenship, das Shklar 1991 veröffentlichte, also fast dreißig Jahre nach Erscheinen von Arendts Werk (1963) und sechzehn Jahre nach Arendts Tod (1975). Andererseits kann Bajohrs Edition insofern Vollständigkeit beanspruchen, als alle Einzelveröffentlichungen Shklars zu Arendt berücksichtigt wurden und als in ihnen vermutlich so gut wie alle von Shklars Argumenten für oder gegen Arendt in der einen oder anderen Weise zur Sprache kommen. Es sind, „gelegentlich grelle, nicht immer gerechte, aber dadurch oft aufschlussreiche Schlaglichter“ (124), die hier auf Arendt geworfen werden. Dieser Gesamteinschätzung Bajohrs kann durchaus zugestimmt werden, doch beim Blick auf Details ist sie verbesserungswürdig.
Insbesondere der Text „Hannah Arendt als Paria“ („Hannah Arendt as Pariah“) von 1983, der sich in der Verkleidung (Tracy B. Strong) einer Besprechung von Young-Bruehls Arendt-Biografie präsentiert, ist zutiefst irritierend in seinen Aussagen über Arendt. Um nur einige zu nennen: Hannah Arendt wollte eine „repräsentative“ Frau sein, „ein Mensch, der den Geist seines Volkes sowohl verkörpert als auch der ganzen Welt kundtut“ (79), wobei „Volk“ offenbar nicht für das jüdische Volk steht, sondern lediglich für das deutsche Judentum; sie „war mehr als zwanzig Jahre damit beschäftigt, dieses Lieblingsbuch unter ihren eigenen Werken [die Biografie der Rahel Varnhagen] zu redigieren“ (ibid.); sie stand „im Widerspruch zu allen Lagern der amerikanischen zionistischen Bewegung“ (89); ihre Darstellung dessen, was in den Konzentrationslagern tatsächlich passierte, sei „eine Illustration der postnietzscheanischen Welt des ‚Nichts‘“ (93f.). Weiterhin, sie habe sich bei Emil Lederers Theorie der Massengesellschaft „bedient“, in dessen Schuld zu stehen sie sich geweigert habe (96), und ein ähnliches Argument, das das Buch The Human Condition herabwürdigt. Es orientiere sich „stark an Hegels Phänomenologie“ und schulde „viel seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“, aber diese Schuld werde von Arendt „stillschweigend übergangen“ (99f.). NB: Auch Young-Bruehl selbst bekommt ihr Fett: Es sei viel zu früh für eine Biografie der 1975 verstorbenen Autorin (84f.).
„Der Triumph Hannah Arendts“ („Hannah Arendt’s Triumph“), eine eher zwiespältige Hommage, ist der Nachruf, den Shklar 1976 in The New Republic veröffentlichte. In ihm stellt sie ihre Lesart von Arendts „Trilogie über politische Philosophie“, womit die Werke The Origins of Totalitarianism, The Human Condition und On Revolution gemeint sind, vor. Er endet mit den Worten, die den Titel erklären: „Anderen schlüssig und verständlich zu machen, was sie sah, war ein großer geistiger Triumph – für sie persönlich, aber auch für die Tradition des offenen politischen Diskurses.“ (56f.) Wer sind diese „Anderen“? Zählte sich Shklar selbst zu ihnen? Fragen dieser Art sind berechtigt angesichts der zahlreichen Arendt verfehlenden Behauptungen und Interpretationen, die in dem Nachruf verbreitet werden (Beispiel, S. 56: „Niedergang und Korruption bildeten den Kern von Hannah Arendts politischem Denken.“)
Es empfiehlt sich, den Nachruf im Zusammenhang mit dem zwei Jahre später veröffentlichten Essay „Rethinking the Past“ („Die Vergangenheit neu denken“) zu lesen. Er wurde in dem von Social Research dem Andenken Hannah Arendts gewidmeten Heft im Frühjahr 1977 veröffentlicht. Shklar stellt Arendt hier als „Monumentalhistorikerin“ im Sinne Nietzsches vor: „ Es gehörte […] zu Hannah Arendts großen Stärken, dass sie in der Lage war, Monumentalgeschichte sowohl zu analysieren als auch selbst zu schreiben. In Zwischen Vergangenheit und Zukunft vollbrachte sie die kritische Arbeit, in Über die Revolution die schöpferische.“ (60) Doch macht Shklar keinen Hehl daraus, dass ihrer Meinung nach die Monumentalhistorie in der eigenen Gegenwart nichts mehr zu suchen hat. Was als Lob, ja Bewunderung formuliert ist, wird also schnell wieder zurückgenommen. Und dass eine Arendt grundsätzlich infragestellende Haltung, eine Weigerung, sich auf sie einzulassen, sie zu verstehen, überwiegt, wird deutlich, wenn man hinzuzieht was Shklar in anderen Texten über die beiden genannten Werke Arendts zu sagen hat.
Es sind in der Tat „Schlaglichter”, die in diesen Texten auf Hannah Arendt geworfen werden, mit unterschiedlichen Helligkeiten. Ein als ganzes erkennbares Bild entsteht dabei nicht, ist auch nicht zu erwarten, da Shklar vor allem Besprechungen verschiedener Werke wählte, um ihren Gedanken über Arendt Ausdruck zu verleihen. Das hat zur Folge, dass nicht nur die abwertend-kritischen und verfälschenden Aussagen über Arendt und zu ihren Werken eher zufällig bleiben, sondern auch die einsichtsvollen, die Shklars Texten zu entnehmen sind. Für letztere sei ein zusammenfassendes Urteil über das Totalitarismusbuch aus der Besprechung von Young-Bruehls Biografie genannt: „War der letzte Abschnitt der Elemente und Ursprünge eine Übung in postnietzscheanischem Philosophieren, leistete das Buch auch einen ernsthaften Beitrag zur politischen Theorie in der Tradition Montesquieus und Tocquevilles. Arendts Analyse des Totalitarismus als neuer und einzigartiger Herrschaftsform war eine wirkliche Bereicherung in der Theorie der Regimetypen. Die Bedeutung überflüssiger Bevölkerungen trägt ebenfalls viel zur Erklärung von Genoziden bei.“ Da fragt man sich: Werden Genozide von Arendt in diesem Zusammenhang thematisiert?, merkt aber schnell, dass Shklar den Arendt-Orbit schon wieder verlassen hatte. Denn gleich anschließend, schon im nächsten Satz begibt sich die Rezensentin in die eigene Gedankenwelt: „Man denke nur an die amerikanischen Ureinwohner.“ (95)
Eine umfassende Gegenüberstellung der Denkweisen und Positionen von Shklar und Arendt steht noch aus. Sie ist auch nicht ohne weiteres zu leisten, sieht sie sich doch vor ein grundsätzliches Dilemma gestellt. Die „Gegenspielerin“ ist stumm, sie ist eine von der Spielerin imaginierte Gegnerin; denn, wie schon gesagt, Arendt hat eine Gegnerschaft nie explizit zu erkennen gegeben. Das bedeutet für die analysierenden Interpreten, stets der Gefahr, fehlgeleitet zu werden, ausgesetzt zu sein und eine umfassende Arendt-Lektüre einbringen zu müssen. Wie dem auch sei, Hannes Bajohr ist es zu danken, dass mit dem Bändchen Über Hannah Arendt einschlägige Dokumente von Seiten Shklars nun in guter deutscher Übersetzung mit einem angemessenen wissenschaftlichen Apparat und Kommentar verfügbar sind.
Ursula Ludz
1Hervorgegangen ist es aus einem Beitrag, den Bajohr in HannahArendt.net, Bd. 8, 2016, veröffentlichte.
2Zu den wenigen persönlichen Begegnungen siehe Bajohr in seinem Nachwort, S. 177f.
3Ursprünglich veröffentlicht in Deutsche Zeitschrift für Philosophie 56, 2008, Heft 6, S. 976-981.
4Auf diese „überraschende“ Rezeption hat seinerzeit Axel Honneth mit einem ausführlichen erläuternden Kommentar hingewiesen: „Flucht in die Peripherie“, in: Ibid., S. 982-986.
5Siehe etwa Shmuel Lederman, „The Actor Does not Judge: Hannah Arendt’s Theory of Judgement“, in: Philosophy and Social Criticism 42, 2015, Nr. 7, S. 727-741.
6„Bildung“ übernimmt Shklar als deutsches Fremdwort in ihre englischen Texte.
7Ca. 120 Seiten im Klein-Oktavformat der Reihe Fröhliche Wissenschaft.
8Dieses Etikett stammt von Axel Honneth.
9Arendt, Denktagebuch, Heft XXVII/45, S. 770ff.