Ausgabe 1, Band 10 – Dezember 2020
Hannah Arendt und Dolf Sternberger
Einige Anmerkungen zu dem kürzlich veröffentlichten Briefwechsel
Hannah Arendt und Dolf Sternberger, »Ich bin Dir halt ein bißchen zu revolutionär« Briefwechsel 1946 bis 1975, hrsg. von Udo Bermbach, Berlin: Rowohlt Berlin Verlag, 2019. 477 Seiten
Dolf Sternberger ist in Vergessenheit geraten. Darüber täuscht auch nicht der gerade erschienene Briefwechsel mit Hannah Arendt hinweg. Die von ihm begonnene und bis Band IX fortgeführte Ausgabe der eigenen Schriften einschließlich der posthumen Bände X und XI, die im Insel Verlag, dann bei Suhrkamp erschien, ist vergriffen. Wer mehr über den Schriftsteller Sternberger erfahren will, der muss sich auf eine komplizierte Reise durch die Bibliotheken aufmachen. In Stadtbibliotheken ist er nicht zu finden und in den Universitätsbibliotheken ist oft nur ein Teil seines Werks vorhanden. Das gilt auch für Frankfurt am Main – die Stadt, in der er hauptsächlich lebte und wirkte. Doch es war nicht immer so. Nach Kriegsende und während der ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik war Sternberger sowohl als Schriftsteller als auch als Herausgeber der Wandlung (bis 1949) und der Gegenwart (bis 1958), als Journalist bei FAZ und Rundfunk ein bekannter Publizist. Man las seine Leitartikel, Feuilletons und Bücher. Er war eine bekannte öffentliche Stimme der Demokratie und Begründer der politischen Wissenschaft an der Universität Heidelberg. Und er war neben Jaspers einer der Förderer von Hannah Arendt.
Hannah Arendt dagegen stand nach 1945 bis zu ihrem Lebensende (1975) nicht im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit in Deutschland. Erst nach der 1968er Studentenbewegung, in der zwar ihr Totalitarismusbuch gelesen, aber aufgrund der Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus als unhistorisch kritisiert worden war, begann sich das Interesse auch auf ihre anderen Werke zu richten: auf die Biographie über Rahel Varnhagen, auf die Vita activa und das Revolutionsbuch. Mit der Veröffentlichung des nachgelassenen Denktagebuchs 2002 rückte ihr ungewöhnlicher Denkstil in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Posthum wurde sie auch zunehmend als Briefschreiberin bekannt. Noch zu Lebzeiten Sternbergers (er starb 1987) erschien ihr Briefwechsel mit Karl Jaspers. Es folgten Briefwechsel mit Kurt Blumenfeld, Mary McCarthy, Heinrich Blücher, Gershom Scholem und zuletzt mit den Freundinnen Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff. Ihre Werke waren und sind in zahlreichen Buch- und Paperbackausgaben zu Lebzeiten und danach stets zugänglich gewesen. 2018 erschien ein erster Band der kritischen Gesamtausgabe im Wallstein Verlag.
Die gegenwärtig unterschiedliche Präsenz der beiden Schriftsteller spiegelt sich bereits in der Aufmachung des bei Rowohlt Berlin vor kurzem erschienenen Bandes mit den zwischen Arendt und Sternberger von 1946 bis 1975 gewechselten Briefen wieder. Der Umschlag zeigt lediglich ein Foto von ihr, keines von ihm. Doch noch in anderer Hinsicht ist eine Schieflage festzustellen. Sternberger, nur ein Jahr jünger als Arendt, hat sie um mehr als ein Jahrzehnt überlebt und sich nach ihrem Tod verschiedentlich, nicht nur in dem bekannten Nachruf, über ihre Idee der Politik geäußert. Die entsprechenden Veröffentlichungen sind nicht in den Briefband aufgenommen worden. Stattdessen werden zwei Artikel, die Arendt für Die Wandlung 1946 und 1948 schrieb, nachgedruckt, von Sternberger nichts weiter als die Rede „zum Lobe der Freundschaft“, die er im Jahr seines 50. Geburtstags bei einem Sommerfest gehalten hat. Mit einer Widmung hatte er sie Hannah Arendt übersandt: „Der lieben Hannah, die beim Feste fehlte, die aber mitgemeint war.“ (S. 443)
Dolf Sternberger und Hannah Arendt waren Freunde. Ihre Freundschaft ruhte auf einem Konsens, den er in der genannten Rede in die Worte fasste: „Mit wem sollte man sich eigentlich streiten, wenn nicht mit Freunden.“ (S. 445) Es war ein Streiten im Geiste der Freundschaft. Streitobjekte waren: Heidegger, Machiavelli, Heine und, unter Einbeziehung von Sternbergers Veröffentlichungen über Arendt nach deren Tod, „das Politische“ – letzteres von besonderer Bedeutung, weil beide, Arendt in den USA und Sternberger in der Bundesrepublik, akademische Lehrer der Politikwissenschaft waren. Weniger gestritten als kritisch geurteilt wird in den Briefen auch immer wieder über die aktuellen Veröffentlichungen des jeweils Anderen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass Sternberger enthusiastischer auf Arendts Texte reagiert als umgekehrt sie. 1949 bemerkt er anlässlich ihres Beitrags „Parteien und Bewegungen“ in Die Wandlung (S. 116): „Es ist mir - wenn ich nicht missverstanden werde mit dieser anmaßlichen Wendung -, als hätte ich ihn selbst geschrieben. Das ist genau die political science, die ich betreiben will.“ Doch Arendt bestätigt eher zurückhaltend (S. 118), „dass wir auf benachbarten [!] Spuren gehen“. Ihre Kommentare zu Sternbergers Publikationen, selbst wenn lobend und zustimmend („der Heine Aufsatz hat mich so gefreut […] Sehr schön!“, S. 168), nutzt sie des öfteren, um Aspekte, die ihr besonders wichtig erscheinen und von ihm vernachlässigt werden, einzubringen. Im Falle des genannten Heine-Aufsatzes etwa weist sie auf eine „unbezwingbare Froehlichkeit“ bei Heine hin. Und diese Fröhlichkeit hatte für sie eine politisch revolutionäre Bedeutung.
Obwohl Sternberger Hannah Arendt alle Möglichkeiten zu publizieren, die er hatte, zur Verfügung stellte, ist sie auf viele seiner Wünsche nicht eingegangen. Seiner wiederholten Bitte, sein Buch Heinrich Heine und die Abschaffung der Sünde (1972) zu rezensieren, hat sie sich hartnäckig verweigert, wie sie auch eine Diskussion über Machiavelli immer wieder hinausgezögert hat. Udo Bermbach, der Herausgeber des Briefwechsels, wird nicht müde, die „verblüffenden Parallelen“ zwischen Arendt und Sternberger zu betonen (der Bezug auf Aristoteles; beide verstanden sich als Grenzgänger zwischen Literatur und Philosophie). Doch woher kommt Arendts Weigerung, mit Sternberger zum Beispiel durch Besprechungen in eine öffentliche Debatte einzutreten? Streiten hin, Streiten her – wollte sie die Freundschaft nicht gefährden, indem sie veröffentlicht, was sie denkt? Andererseits: auch Sternberger lässt öffentlich (und in den Briefen) die Katze nicht wirklich aus dem Sack. Er schreibt zwar eine von Arendt mit Freude aufgenommene Besprechung der Vita activa (auch sie ist in der Briefedition nicht abgedruckt), aber seine grundsätzlichen Gedanken zu ihrer politischen Philosophie veröffentlicht er erst nach ihrem Tod.
Die ersten Briefe zeigen eine vorsichtige Annäherung, man siezt sich, aber schon bald gehen beide zum Du über, wahrscheinlich, wie der Herausgeber anmerkt, nach einem Besuch Sternbergers in New York. Es entsteht eine Vertrautheit, die immer von einer gewissen Distanz begleitet bleibt. Ein erster Misston wird hörbar bei der ganz und gar nicht zu vereinbarenden Einschätzung von Heidegger, von dem Arendt schreibt: „Ich bin ehrlich gesagt der Meinung, dass das echte Philosophie ist.“ (S. 128) Was sie damit meint, will Sternberger nicht verstehen und merkt nicht, dass er mit seinen Argumenten auch das Miteinander-Denken und -Sprechen zwischen sich und der Freundin erschwert. Hier geht es nicht darum, dass die Haltung des anderen mehr oder weniger kritisiert wird. Es zeigt sich vielmehr eine tiefe Differenz, was Heideggers Philosophieren angeht. An einer Stelle, Brief vom 14. Dezember 1953, wird Arendt sehr deutlich, belehrt Sternberger, verteidigt Heidegger allerdings nur bedingt. Seine philosophischen Anstrengungen ordnet sie ideengeschichtlich der Vätergeneration zu: „sobald man versucht, moderne Erfahrungen mit den Begriffen der Tradition zu fassen“. Zugleich deutet sie an, dass sie selbst darüber „hinausmuss“ (S. 163). Eine Antwort Sternbergers hierauf ist nicht überliefert, wie überhaupt das Thema Heidegger in den Briefen nicht mehr zur Sprache kommt. Keine Reaktion Sternbergers auf Arendts Würdigung Heideggers anlässlich seines 80. Geburtstags (1969), keine Reaktion Arendts auf Sternbergers „Bekenntnis an Heideggers 80. Geburtstag“! Oder vielleicht gibt der Meister der verdeckten Sprache doch einen Hinweis? „Liebste Denkerin“ ist die ungewöhnliche, sonst nicht gebrauchte – ironische – Anrede in Sternbergers Brief an Arendt vom 30. August 1975. Tage zuvor, am 13./14., war Arendt bei Sternberger und seiner Frau zu Gast gewesen, nachdem sie, aus ihrem Urlaubsort Tegna kommend, am 12. in Freiburg Heidegger besucht hatte. Ihre besorgten Eindrücke von dem gealterten Heidegger, die aus Briefen an Mary McCarthy und J. Glenn Gray später bekannt wurden, dürfte sie Sternberger nicht verschwiegen haben. In Gesprächen, so könnte man lesen, ist Heidegger durchaus gegenwärtig geblieben.
Was die jeweils aktuelle Politik betrifft, ist Arendt überwiegend mit Sternberger d’accord. Was er aber nicht versteht, ist, dass daneben noch etwas Anderes existiert, etwas von unverlierbarer Bedeutung, das sich der Debatte entzieht. Und dieses Etwas markiert für Hannah Arendt die Grenzen eines möglichen Dialogs mit dem Freund. Alle Versuche Sternbergers, nach der politischen Katastrophe wieder so etwas wie einen selbstverständlichen „common sense“ herzustellen, sind davon betroffen. Und so entgegnet Arendt: „Wer immer sich heute auf den Boden des gesunden Menschenverstandes stellt und sich auf ihn verlässt, kann nichts mehr verstehen.“ (S. 160) Doch Sternberger versteht nicht, trägt immer wieder Ansichten an Arendt heran, denen sie nicht zustimmen kann. Zum Beispiel dass seine Entdeckungen bei Machiavell ihr „gerade sympathisch“ sein müssten (S. 380). Zweimal hatte er ihr seine Veröffentlichung über den Principe zugesandt, bis sie schließlich halbherzig einlenkt mit den Worten: „Du wirst ja nicht erwarten, dass ich Dir im Essentiellen zustimme -- wohl aber in sehr vielen Details“. Eines dieser Details, das gleichwohl ins Zentrum von Machiavells politischer Theorie führt, ist der Begriff der Gründung: „Ich bin ganz Deiner Meinung, dass für M[achiavell] der Begriff der Gründung zentral ist, […] und von Aristoteles hat er vermutlich keine Ahnung gehabt. Was Du meiner Meinung nach nicht siehst, ist dass mit diesem Akzent auf den Anfang bereits eine gewisse Glorifizierung der Gewalt und das Lob der Ein-Mann-Herrschaft gegeben sind.“ (S. 377) Damit hat sie das Herzstück von Sternbergers Machiavell-Apologie auf den Punkt gebracht, nämlich dass er dessen Begriff des Politischen als „aristotelisch“ bezeichnet: „es ist der Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung“ (Sternberger, „Machiavells ‚Principe‘ und der Begriff des Politischen“ [1974], in: Schriften III, S. 78). „Du schiebst ihm viel in die Schuhe […] was nicht ihm, sondern der Staatsräson geschuldet ist, von der er noch keine Ahnung hatte“ (S. 378), kritisiert sie, zugegebenermaßen recht allgemein und – erfolglos. Das „Verfahren in Sachen Machiavelli“, so Sternberger, bleibt unerledigt.
Der Kern der Machiavell-Interpretation Sternbergers ist eine Apologie der Gewalt im Gewande der verfassungsmäßigen Ordnung. Man kann Gewalt nicht identifizieren und kritisieren, weil sie Teil der verfassungsgemäßen Ordnung ist. Diese diskrete Gewalt war nach Sternberger bedingungslos zu akzeptieren. Das ganze Spektrum an spontanem politischen Engagement hat in dieser politischen Vorstellungswelt keinen Platz, fällt unter das Verdikt illegitimer Gewalt. Arendts Feststellung: „Ich bin Dir halt ein bisschen zu revolutionär“, weist scherzhaft darauf hin. Aber Sternbergers Ressentiment ist eindeutig und unumkehrbar: die Studentenbewegung habe gezeigt, dass die Theorie, wenn sie auf die Straße geht, zur „vulgären Fratze“ wird.
Während Sternberger durch die Ethisierung Machiavells zum Aristoteliker die Elemente von Gewalt in dessen Theorie neutralisiert, wird Arendts „Traumweltherrscher“ Heine von ihm entpolitisiert. Hannah Arendt hatte gerade im Pariadasein Heines die „Garantien der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“, entdeckt. „Die ungeheuere Inkongruenz zwischen der geschaffenen Natur, Himmel und Erde und Mensch, vor deren Erhabenheit alles gleich gut ist, und den gesellschaftlich fabrizierten Rangunterschieden […] hat etwas unmittelbar einleuchtend Komisches. Plötzlich dreht sich alles um, und nicht mehr der Paria, der von der Gesellschaft Verachtete, ist der Schlemihl, sondern die, welche in festen Rangordnungen leben“ (Arendt, Die verborgene Tradition, 1976, S. 51). Die Unwirklichkeit des Pariadaseins in ein „real wirkendes Prinzip“ umzuwandeln, gelang Heine durch seine künstlerische Tätigkeit. Und das heißt für Arendt, dass Heine realistische politische Einsichten vermittelte. Dagegen ist Heine für Sternberger ein Denker, dessen eschatologische und ästhetische Spielereien im Vagen bleiben: „Das genaue Denken war Heines Sache nicht“ (Sternberger, Heinrich Heine und die Abschaffung der Sünde, 1972, S. 228). Heine schreibe in Gleichnissen; sie zeigen „Geschichte in ihrer Lächerlichkeit“, aber tragen „nichts zur Politik bei“ (Ibid., S. 21).
Heidegger, Machiavelli, Heine sind als, wenn auch nur bruchstückhafte, Gegenstände des freundschaftlichen Streitens in den Briefen gut erkennbar. Das lässt sich nur sehr bedingt von einem weiteren Themenbereich sagen. Begriff und Gegenstand von „Politik“, sozusagen das professionelle Herzstück der politischen Theoretikerin und des Politikwissenschaftlers, kommen nicht oder nur verdeckt zur Sprache. Arendt war des öfteren in Heidelberg und/oder an der Universität Heidelberg zu Gast. 1952 hielt sie einen Vortrag über „Ideologie und Terror“, 1955 reiste sie nach einer Veranstaltung in Frankfurt (Vortrag über Autorität) dorthin, 1958 kündigte sie einen Aufenthalt in der Stadt an (Näheres ungewiss – hatte Reinhart Koselleck sie eingeladen?), 1961 berichtete sie in Sternbergers Forschungsseminar über ihre Beobachtungen vom Eichmann-Prozess. Außerdem ist im Briefwechsel Arendt-Sternberger dokumentiert, dass Sternberger 1958 bei Arendts Münchner Vortrag „Kultur und Politik“ zuhörte. Nur im Fall von „Was ist Autorität?“/“What Was Authority?“ knüpft sich an die Begegnungen, allerdings zeitverzögert, ein briefliches Gespräch, wobei leider ein entscheidender Brief Arendts verloren gegangen ist (S. 185f.).
In seiner grundlegenden Vorlesung Begriff des Politischen, die Sternberger im November 1960 bei Antritt seiner Heidelberger Professur hielt und die 1961 veröffentlicht wurde, stellt er seinen Politikansatz durchaus im Sinne der Tradition politischen Denkens mit dem „Staat als das Modell des Politischen“ vor. Gegen Carl Schmitt und mit Marsilius von Padua betont er: „Der Friede ist der Grund und das Merkmal und die Norm des Politischen, dies alles zugleich.“ Zwei Jahre zuvor hatte Arendt in Zürich ihren grundsätzlichen Vortrag „Freiheit und Politik“ gehalten, den Sternberger in Die neue Rundschau veröffentlichte. Darin wird von ihr, aus der Erkenntnis des Traditionsbruchs im 20. Jahrhundert und in dem Bestreben, politisches Denken neu zu begründen, ein Staatsbegriff zugrunde gelegt, der weniger die Institution Staat im Blick hat, als vielmehr den Staat als „ein Produkt des Handelns“ entwirft. Ganz explizit stellt sie sich dem Traditionsbruch entgegen mit ihrer Botschaft: „Der Sinn von Politik ist Freiheit“. Im Briefwechsel nun sucht man vergebens nach Hinweisen zu diesen unterschiedlichen Akzentsetzungen. Sternbergers Broschüre Begriff des Politischen findet sich zwar mit Widmung im Katalog der Arendt Library des Bard College, doch es sind keine Lesespuren („marginalia“) von Arendt verzeichnet. Wie genau hat sie eigentlich seinen Politikansatz, wie genau er den ihren, zur Kenntnis genommen? Auf dem weiten Feld der damaligen Politikwissenschaft in den USA und der BRD mögen ihre gedanklichen Wege „benachbarten Spuren“ gefolgt sein, aber Streitpunkte sind nicht zu übersehen. Gab es in der Freundschaft neben der Freude am Streiten auch so etwas wie ein praktiziertes Streitvermeiden? Der Gedanke drängt sich auf, wenn man aus Arendts Feder (S. 155) liest: „Wir sind das letzte Mal in Frankfurt umeinander herum und aneinander möglichst vorbeigegangen.“ Das war 1953, konkret im Heidegger-Streit. Könnte es nicht auch für andere Streitthemen gegolten haben?
Ähnlich unbefriedigend wie im Falle der „ta politika“ ist der Briefwechsel, wenn man nach Auskünften über Sternbergers Reaktion auf die Veröffentlichung von Arendts Eichmann in Jerusalem (1963/64) und die sich daran anschließende Arendt-Kontroverse sucht. Darauf macht Udo Bermbach in seiner Einleitung zu dem Briefband aufmerksam, wenn auch in einer Interpretation mit zu engem Blickwinkel. Sternberger war früh informiert. Er hatte, wie im Briefwechsel nachzulesen und oben bereits erwähnt, Arendt 1961, als sie sich nach ihren Besuchen im Jerusalemer Prozess in Europa aufhielt, zur Berichterstattung eingeladen. So ist davon auszugehen, dass er um die Brisanz der Arendtschen Thesen wusste (übrigens auch gesprächsweise durch Karl Jaspers), und er hatte, was dem Herausgeber entgangen ist, Kenntnis von Arendts Gespräch mit dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Einig war er sich mit ihr, das geht aus den Briefen hervor, in der Ablehnung zweier prominenter Kritiken an Eichmann in Jerusalem: derjenigen, die Judge Musmanno in der New York Times veröffentlichte (in Sternbergers Worten: „Der edle Judge Muselmano [sic] hats ja gründlich in die falsche Kehle bekommen“, S. 220), und der „maliziöse[n], unsolidarische[n] Besprechung“ von Golo Mann (S. 228). Was das Buch selbst angeht, so erfährt man lediglich, dass Sternberger es erhalten hat und liest – und schweigt. Doch in Gesprächen hat er sich offenbar sowohl gegenüber Arendt wie auch gegenüber Jaspers erklärt. Beide wissen, dass Sternberger „keineswegs mit ‚Eichmann‘ einverstanden“ ist, stellt Arendt im Brief an Jaspers vom 25. Oktober 1964 fest und fügt hinzu: Er „versteht im Grunde nicht, warum ich mich in so was eingelassen habe“. Diese nüchterne Einschätzung leuchtet ein. Arendts „daring mind“ wird von Sternberger zwar bewundert, so 1964 (!) in einem Gedicht zu ihrem 58. Geburtstag (S. 244). Aber es kann wohl behauptet werden, dass ihre Kühnheit, ihre „geistige Furchtlosigkeit“, die nicht „gedämpft“ war durch „Rücksicht“ und durch „Barmherzigkeit“ (so wird er später in seinem Nachruf auf sie formulieren), ihm wesensmäßig eher fremd war – ihm, der eine „beherrschte Prosa“ (nach W. J. Dodd) pflegte und zur „Präferenz für eine mittlere Position“ (H. Münkler) neigte. Arendt kann allerdings ihrerseits nicht verstehen, warum er sich „in der Eichmann-Affäre zweimal geweigert“ hat, sich öffentlich für sie einzusetzen. Das teilt sie Jaspers im Brief vom 19. Februar 1965 mit – einerseits, aber andererseits: Wir, er und ich, „sind in einer Reihe von Dingen wirklich einer Meinung“. Im Oktober/November 1964 hatte Sternberger auf Vermittlung Arendts einige Wochen an der University of Chicago gelehrt und dort dicht neben ihr im Faculty Club gewohnt. Sternberger resümiert nach seiner Rückkehr nach Frankfurt: „Ich rechne es mit Dankbarkeit als einen großen Glücksfall, daß sich unsere Freundschaft dort in Chicago so wunderbar erneuert, erweitert, befestigt hat“ (S. 245). Arendt antwortet, sendet „einen Gruss fürs neue Jahr und ein herzliches Gedenken an die letzten Monate des alten, die wir in so freundschaftlicher Nachbarschaft verbrachten. Es war eine schöne Zeit und unsere Party war auch nicht von schlechten Eltern.“ So ist letztendlich doch eine klare Aussage möglich: Eichmann stand der Freundschaft nicht im Wege.
Die Freundschaft dominierte auch in anderer Hinsicht. Sternberger hatte Arendt im Laufe der Jahre viele seiner Veröffentlichungen zugesandt. Alle Hefte von Die Wandlung, in denen er eine Reihe von Beiträgen selbst verfasst hatte, dürfte sie zur Kenntnis genommen haben, zu einem, „Aspekte des bürgerlichen Charakters“ (1949), scheint sie sich in einem nicht erhaltenen Brief geäußert zu haben. Aber darüber hinaus? In Arendts Bibliothek im Bard College sind insgesamt 13 Sternberger-Titel verzeichnet, so gut wie alle mit handschriftlicher Widmung („inscribed by author“), zwei mit Lesespuren, wobei sowohl das Machiavelli- wie das Heine-Buch fehlen. Zu den Titeln ohne Lesespuren gehört auch das Lesebuch Kriterien, das „Hannah Arendt in Freundschaft gewidmet“ ist. Über die Widmung hatte sich Arendt seinerzeit „außerordentlich gefreut“ („fühle mich gebummfidelt, gebauchklatscht und hochgeehrt“, S. 259). Sie las in dem Band „mit großer Bewunderung“ den Marlene-Dietrich-Essay (S. 266), fühlte sich, so ist zu vermuten, gut unterhalten. Aber sonst? Wie ernst hat sie das genommen, was er schreibt? Im Austausch mit Jaspers wird deutlich, dass sie Sternberger eher für eine „journalistische Begabung“ hält. „Er schreibt ausgezeichnet […]. Er ist keineswegs professoral“, so steht es in einem Brief an Kurt Wolff (3. Mai 1962). Zu den Autoren aber, mit denen sie sich im eigenen Werk beschäftigt, gehört er nicht. Das mag Sternberger schmerzlich bewusst gewesen sein. Sein Drängen in Sachen Machiavelli und Heine ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Doch er übte sich in Geduld.
Nach Arendts Tod dann hatte Sternberger freie Bahn. Er verfasst einen Nachruf mit dem Titel „Die versunkene Stadt. Über Hannah Arendts Idee der Politik“ (zuerst erschienen 1976 im Merkur), in dem er beispielhaft das Spezifische ihrer Sprache und ihres Denkens darstellen will: Es sei Arendt nicht um Klarheit und die Fähigkeit zu differenzierter Gedankenführung gegangen, sondern um „philosophische Erweckung“. Ihre Hervorhebung des Primats des Handelns sei unweigerlich nur eine „philosophische Bestrebung“ geblieben : „Hannah Arendt hat keinen Staat gegründet, keine Verfassung entworfen, keine Revolution entfacht, sondern sie hat das Wesen der Staatsgründung, das Wesen des freien Verfassungslebens, das Wesen der Revolution zu erkennen, in Begriffe zu fassen, der Wirrniss der Geschichte und dem Labyrinth der Erfahrung zu entreißen unternommen – und so ist sie Philosophin geblieben. Das ungefähr ist es, was ihr vor allem verdankt wird. Ihr Name bezeichnet eine ebenso radikale wie originale Erneuerung der politischen Philosophie, nämlich des Begriffs, der Vorstellung, des Ethos und des Pathos des Politischen.“ (Sternberger, Schriften IV, S. 173f.)
Sternberger unterstellt Hannah Arendt die Inszenierung einer Pseudorealität. Mehr noch: wir werden entführt in die märchenhafte Atmosphäre einer „versunkenen Stadt“. Und wie im Märchen ist Arendts Traum vom politischen Handeln fern von allen Zwängen: Acting is fun. Hier nun muss Sternberger mit aller Entschiedenheit einschreiten und die Träumerin auf den Boden der Tatsachen zurückholen: Was Arendt völlig außeracht lasse, sei die Tatsache, dass alles politische Handeln schließlich zu einer Entscheidung führen muss. Hatte die Träumerin Hannah Arendt alle Erfahrungen der politischen Verfolgung, der Flucht in letzter Minute, der mühseligen Existenz in den ersten Jahren der Emigration in den USA vergessen? Und waren nicht die Räte, die sie als einzige demokratische Form des Miteinanderhandelns anerkannte, in der Geschichte immer wieder gescheitert? Was der wissende Sternberger nicht weiß, ist, dass ein Realismus ohne Traum zum „eisernen Band“ der Notwendigkeit wird, wie Arendt am Beispiel des Totalitarismus eindrucksvoll beschrieben hat: „Aneinandergepresst, aber auch gehalten von dem eisernen Band des Terrors, vorwärtsgetrieben, aber auch ständig aufrechterhalten von der nie versagenden Folgerichtigkeit eines ganz abstrakten logischen Räsonierens, bleiben ihnen [den modernen Menschen] in ihrem Marsch in die Zukunft alle Begegnung mit der wirklichen, daseienden Welt versagt, aber auch alle Erfahrungen eines menschlichen Lebens erspart.“ (Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Ausg. 1986, S. 724) Das einzige Gegenprinzip gegen diesen „Zwang“ hatte sie in dem menschlichen Vermögen „eine Reihe von vorn anfangen zu können“ erkannt: „Alle Freiheit liegt in diesem Anfangenkönnen beschlossen.“ (Ibid., S. 723) Wenn Arendt daher politisches Engagement als „produktiven Müßiggang“ akzentuiert, so hält ihr Sternberger entgegen, dass sie außer acht lasse, dass politische Tätigkeit ohne die Entscheidung undenkbar ist, die Entscheidung sozusagen des Pudels Kern darstellt. Damit hat er aber nicht auf eine sinnvolle Korrektur ihres Denkens aufmerksam gemacht. Er hat vielmehr die Dynamik des Handelns, wie Arendt sie entwickelt hat, zum Stillstand gebracht. Hannah Arendts Traum von der versunkenen Stadt in der Version Sternbergers besteht in der Inszenierung einer Pseudorealität, in der die Worte wie handelnde Personen auftreten. Damit wird Arendts Konzeption vom Handeln zu einem Ausdrucksmedium. Die derart entkörperlichte Politik verliert jede Gegenständlichkeit, sie wird zu einer märchenhaften Existenz, der „versunkenen Stadt“, auf die Sternberger seine Arendtvisionen projizieren kann. Als schönes Bild, jenseits der politischen Realität des Handelns, möchte Sternberger darauf keineswegs verzichten und fällt damit weit hinter Arendts Intention zurück, ein Politikverständnis wieder zu beleben, das in der zweitausendjährigen abendländischen Geschichte überlagert worden ist.
Soweit der Nachruf. Viele Jahre später wendet sich Sternberger in seiner Studie „Politie und Leviathan. Ein Streit um den antiken und den modernen Staat“ erneut Arendt zu. 1987 wird er den ihr gewidmeten Teil aus dieser Studie herauslösen und gesondert als „Hannah Arendt: Der antike und der moderne Staat“ in den Band VIII seiner Schriften aufnehmen. Dieser Band trägt den Titel „Gang zwischen den Meistern“. Arendt wird hier als einer der „Meister“ vorgestellt. In Sternbergers Leben habe sie deshalb eine Ausnahmestellung eingenommen, weil er „mit keinem anderen der Meister, die in diesem Buch vorkommen […] für so lange Zeit und so nahe verbunden gewesen“ sei wie mit ihr und weil ihm die Auseinandersetzung mit ihren Gedanken „am meisten am Herzen gelegen“ war (Schriften VIII, S. 463f.). In dieser späten Veröffentlichung resümiert Sternberger sein Urteil über das, was „Hannah Arendts Sinn und Geist gefangen hielt und […] ihren Blick […] in die Richtung der Antike zwang“ als „gleichsam die Nachtseite der ‚Moderne‘“ und stellt ihr die eigene „Tagseite“, den „gleichfalls ‚modernen‘ Verfassungsstaat“, entgegen (Schriften VIII, S. 396f.). Die angesprochenen kontroversen Auffassungen (siehe dazu den einschlägigen Essay von Sibylle Tönnies im Februarheft 1999 des Merkur) wären es wert gewesen, zu Arendts Lebzeiten verhandelt worden zu sein.
Diese selbstbezogene letzte öffentliche Würdigung der Freundin steht in leerem Raum. Denn ab Mitte der 1980er Jahre hatte in Ost und West eine Arendt-Rezeption eingesetzt, welche ihre eigene Dynamik entfaltete und über Sternbergers zum Teil feinsinnige und berechtigte Positionsbestimmungen hinwegrollte. Offenbar hatte er die neue Entwicklung nicht zur Kenntnis genommen. In der Sache Arendt-Sternberger hat damals das Publikum eine eindeutige Entscheidung getroffen. Die Wiederentdeckung Arendts stand unter dem Motto: Alle Freiheit liegt im Anfangenkönnen. Von vornherein war klar, dass es nicht nur um bestimmte Inhalte geht, sondern um eine spezifische Denkweise, die den Inhalten eine für Arendt charakteristische Offenheit gibt. Sie wurden als Denkkonstellationen verstanden, die weiter gedacht werden sollten. Dagegen wurde Sternberger, gemäß seiner Selbstdarstellung, als Verwalter kanonischen Wissens wahrgenommen. Dabei sind seine Erkenntnisse keineswegs uninteressant, und im Gegensatz zu Joachim Fest, mit dem er befreundet war und der ein Porträt seines Wirkens geschrieben hat, hat Sternberger trotz seiner Anschauung, dass Handeln nur im Rahmen des Verfassungsstaats legitimiert sei, die Studentenbewegung zu verstehen versucht (Fest sprach nur von „Krawallen“; aber in dem Punkt, dass Politik unweigerlich eine „vulgäre Fratze“ annimmt, wenn sie auf die Straße geht, waren sich beide einig). Mit seinem Standpunkt, dass allein der „Verfassungspatriotismus“ eine akzeptable politische Haltung sei, hat die geschichtliche Entwicklung Sternberger hinter sich gelassen, weil beinahe alle lebenswichtigen Fragen der heutigen Politik – Schutz der Umwelt, nachhaltiges Wirtschaften, Erderwärmung ̶ ohne die Stimme der öffentlichen Demonstration hoffnungslos ins Hintertreffen geraten würden.
Der Briefwechel ist lückenhaft, worauf der Herausgeber in seinen „Editorischen Bemerkungen“ hinweist. Es fehlen nachweislich Briefe, aber es gibt auch schlichtweg Schreibpausen, und so manches dürfte mündlich verhandelt worden sein. Sein Ton wird von dem zurückhaltenden, kontrollierten, „vernünftigen“ (J. Fest) Sternberger bestimmt. Die spontane Arendt, wie wir sie aus anderen Korrespondenzen kennen, ist nicht allzu oft präsent. Das schränkt die Lesefreude an dem Band ebenso ein wie die nachlässige Arbeit des Herausgebers. Keinesfalls jedoch ist es müßig, die Briefe zur Kenntnis zu nehmen und ihnen folgend mit Hilfe anderer Zeugnisse den Lebensumständen von Hannah Arendt und Dolf Sternberger, ihrem Gedankenaustausch und ihrer Freundschaft nachzugehen. Ganz im Gegenteil.
Ingeborg Nordmann & Ursula Ludz