Ausgabe 1, Band 10 – Dezember 2020
Die Neuausgabe 2018 von Hannah Arendts Der Liebesbegriff bei Augustin in der Philosophischen Bibliothek des Meiner-Verlages
Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretaion [1929), mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. von Frauke A. Kurbacher, Hamburg: Felix Meiner Verlag (Philosophische Bibliothek, Band 688), 2018. XLVIII, 174 S.
Nachdem Hannah Arendts Dissertationsschrift Der Liebesbegriff bei Augustin vor vielen Jahren, 2003 und 2006, in inzwischen vergriffenen Neuauflagen bei Philo und Olms erschienen war (siehe die Besprechung in HannahArendt.net, Band 4, Mai 2008), entschloss sich Frauke A. Kurbacher, die Herausgeberin der Olms-Veröffentlichung, zu einer erneuten, diesmal einer Studien-Ausgabe im Rahmen der Philosophischen Bibliothek des Meiner Verlags. Bei dem neuen hier anzuzeigenden Band handelt es sich nicht einfach um einen Wiederabdruck der früheren Ausgabe, sondern um eine umgestaltete Version. Die Studienausgabe reproduziert Arendts Original nicht mehr als Faksimile-Druck mit Anhängen, außerdem hat die Herausgeberin ihren einleitenden Essay überarbeitet und aktualisiert.
Die Veröffentlichung im Olms Verlag zeichnete sich dadurch aus, dass ihr ein umfangreicher „Apparat“ zu Arendts Schrift von 1929 beigegeben war: mit deutschen Übersetzungen der von Arendt in den Originalsprachen eingebrachten lateinischen und griechischen Zitate von Kirsten Groß-Albenhausen sowie einem Personen- und einem Sachverzeichnis von Christine Albrecht. Personen- und Sachregister wurden mit den notwendigen Seitenkorrekturen in die Studienausgabe übernommen, doch die Übersetzungen als a-, b-, c-Fußnoten in Arendts Text integriert. Arendts eigene Fußnoten einschließlich der hierher gehörenden Übersetzungen dagegen wurden als Endnoten gedruckt – arabisch durchnummeriert, wobei die Nummern nicht in den Text eingefügt, sondern am Seitenrand angezeigt sind. Diese Zugeständnisse an den heutigen Leser, bei dem Kenntnisse des Lateinischen und Griechischen, wie sie Arendt voraussetzte, nicht mehr gegeben sind, sind sehr zu begrüßen.
Haben die deutschen Neuauflagen in den frühen 2000er Jahren einschließlich der amerikanischen Edition Love and Saint Augustine von Joanna V. Scott und JuJia C. Stark (1996) bereits dafür gesorgt, dass der Dissertationsschrift im Arendt-Diskurs erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt wurde, so dürfte dieser Trend mit der neu gestalteten Studienausgabe anhalten, wenn sich nicht gar verstärken. Unter diesem Gesichtspunkt hat die Herausgeberin auch ihre Einleitung zu dem Meiner-Band überarbeitet.
Frauke A. Kurbacher kann eine lange Literaturliste im Umfeld von Arendts Reflexionen zum Liebesbegriff bei Augustin vorlegen. Diese ist der in der Studienausgabe eingefügten „Auswahlbiographie“ (S. LXI-LXVI) sowie verschiedenen Fußnoten in der „Einleitung“ (besonders S. IXf.) zu entnehmen. Dem Leser teilt Kurbacher mit (S. LVII), dass sie für die Studienausgabe die Einleitung von 2006 „überarbeitet, aktualisiert und erheblich auf das Format der Philosophischen Bibliothek gekürzt“ habe. Man kann nur ahnen, was zusammen mit dem Titel („Liebe zum Sein als Liebe zum Leben“) diesem Prozedere bedauerlicherweise zum Opfer gefallen ist. Doch bietet die Einleitung auch in ihrer Kurzfassung vorzügliche Hilfen zum Verständnis von Arendts Dissertationsschrift und deren Rezeption sowie viel Anregung zum Nach- und Weiterdenken.
Die erklärte Absicht der Herausgeberin ist es, „die Eigenständigkeit der Frühschrift“ von Hannah Arendt herauszuarbeiten, und zwar in einem Diskurs, der „das Interesse Arendts am Liebesbegriff ernst [nimmt] und die mit ihm verknüpften Thesen des Lebens und der Welt, des Anderen respektive der Gemeinschaft und des Selbstbezugs, vor philosophiehistorischem Hintergrund in einem systematischen Kontext [betrachtet]“ (S. IX). Das gelingt in überzeugender Weise. Einleuchtend ist auch, dass die Frage, ob Arendts „Versuch einer philosophischen Interpretation“ (so der Untertitel der Schrift) dem Augustinus gerecht wird, nicht explizit thematisiert wird. Für die Absichten der Herausgeberin genügt der allgemeine Hinweis, Arendt verfahre „in kritischer Ablösung von Augustinus“ (S. XXXII). Ja, mehr noch, es sei gerade die „eigenwillige“ Arendtsche Rezeption, die entscheidende Impulse liefere. Das wird deutlich, wenn Kurbacher in ihren Reflexionen die Diskussionen mit einbezieht, die sich in den letzten Jahrzehnten zu Arendts Dissertationsschrift und Augustins Liebesbegriff, zum Teil unter eigener Mitwirkung, entwickelt haben (explizit genannt werden Arbeiten von Johannes Brachtendorf, Martin Frank, Tatjana N. Tömmel, Hauke Brunkhorst, Peter Trawny, Christian Volk). Sie kann herausarbeiten, dass Arendt mit Der Liebesbegriff bei Augustin – auch „wenn sie selbst dies nicht explizit formuliert“ (S. XIII) – einen Beitrag zur Subjekt- und Intersubjektivitätsphilosophie geleistet hat, der anschlussfähig ist.
Besonders wertvoll für das Verständnis von Arendts Werk ist Kurbachers These, dass „produktive Widersprüche“ methodisch bei Arendt eine große Rolle spielen (siehe den letzten Abschnitt der Einleitung). Die Herausgeberin ist zudem der Meinung, dass Arendt, indem sie Widersprüche in Augustins Liebesphilosophie aufdeckt, eine „frühe Fundamentalkritik“ formuliert, in der „ein grundsätzliches Bedenken gegenüber der gesamten Philosophie auf den Plan [tritt]“ (S. XLIII). Damit deutet sie eine Perspektive an, die den Blick auf Arendts Gesamtwerk öffnet. Doch nicht nur dies. Frauke A. Kurbacher gibt zu erkennen, dass es allgemein sinnvoll ist, mit Hannah Arendt „ohne Geländer“ zu philosophieren und beispielsweise im Diskurs einer Subjekt- und Intersubjektivitätsphilosophie „produktive“ Widersprüche zuzulassen. Wer entsprechenden weiterführenden Gedankenwegen der Herausgeberin folgen will, sei auf ihre Habilitationsschrift verwiesen, die 2017 im Verlag Königshausen & Neumann erschien: Zwischen Personen. Eine Philosophie der Haltung.
Ursula Ludz