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Ausgabe 1, Band 10 – Dezember 2020

Von der ‚jungen Historikerin‘ zur ‚streitbaren Stimme‘ der politischen Theorie

Hannah Arendt: Sechs Essays. Die Verborgene Tradition

Hannah Arendt, Kritische Gesamtausgabe. Druck und Digital, hrsg. von Barbara Hahn, Hermann Kappelhoff, Patchen Markell, Ingeborg Nordmann und Thomas Wild, Bd. 3. Göttingen: Wallstein, 2019. 503 S.

 

Dass Hannah Arendt tatsächlich zu einer der streitbarsten Stimmen innerhalb der politischen Theorie geworden ist, zeigt nicht nur ihr nahezu unerschöpfliches Gesamtwerk, sondern belegen auch ihre Perspektiven auf die gesellschaftlichen Entwicklungen im 20. Jahrhundert, von denen Teile der Sechs Essays und Die verborgene Tradition ein frühes Zeugnis liefern. Der dritte Band der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Hannah Arendts vereint – gleichermaßen in Deutsch und Englisch – den bereits bei Suhrkamp vorliegenden Band Die verborgene Tradition. Acht Essays mit umfassenden, kritischen Kommentaren sowie zeithistorischer Einordnung aller Texte. Der Band versammelt Texte, mit Ausnahme des 1932 in Deutschland erschienenen Aufsatzes „Aufklärung und Judenfrage“, die zwischen 1944 und 1946 zunächst im amerikanischen Exil, in der Partisan Review, im Menorah Journal und den Jewish Social Studies sowie später auch auf Deutsch in Dolf Sternbergers Wandlung abgedruckt wurden. Sie umfassen theoretische Reflexionen über den Nationalsozialismus und die jüdische Nationalbewegung ebenso wie Auftragsarbeiten und einen Essay über Franz Kafka, dessen literarisches Schaffen Arendt besonders daher schätzte, dass er „so leidenschaftlich sich weigerte, sich irgendwelchem Schicksal zu unterwerfen“ (111).

„Über den Imperialismus“ kann als wichtige Vorarbeit der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft verstanden werden und weist Übereinstimmungen mit der Analyse des Nationalsozialismus in Franz L. Neumanns Behemoth auf.1 Anders als bei Neumann spielt aber hier die Spezifik der nationalsozialistischen Expansionsideologe im Kontrast zu den Imperialismen anderer europäischer Staaten keine gesonderte Rolle, sondern die moderne Gesellschaft insgesamt neigt zur „Vergesellschaftung der Deklassierten in eine Mörderbande“ (S. 22).Und in dieser mörderischen Tendenz sind sich Imperialismen – ob faschistisch oder liberal – nach Arendt einig, sie laufen nicht nur darauf hinaus, Gewalt und Ausbeutung zu expandieren, sondern vice versa auch in einem innenpolitischen ‚Experiment‘, den „Mob zu organisieren und das Volk zu terrorisieren“ (S. 29).
„Organisierte Schuld“ steht dieser Interpretation des Nationalsozialismus auf den ersten Blick konträr gegenüber. Hebt Arendt zunächst den integrativen Charakter der deutschen Volksgemeinschaft hervor, der alle Deutschen zu „Komplizen von Mördern“ (S. 32) macht und die „Gesamtschuld des deutschen Volkes“ (S. 32) an den Verbrechen des Nationalsozialismus2 impliziert, dreht sie ihre Argumentation um, womit sie bereits auf problematische Implikationen ihrer umfangreichen Totalitarismusstudie hindeutet. Begriffe wie ‚Verwaltungsmassenmord‘, durchgeführt von ‚funktionierenden‘ ‚Spießern‘ und ‚Marionetten‘ suggerieren einen atomisierten, zur politischen Subjektivität unfähigen, „moderne[n] Typus Mensch“ (S. 38), der ohne persönliche Beteiligung nur Befehlen3 gehorcht, seinen ‚Job‘ macht und sich zum verantwortungslosen ‚Niemand‘ transformiert hätte. Zum Prototyp wird hier Heinrich Himmler, knapp zwanzig Jahre später Adolf Eichmann stilisiert, denen jedes verbrecherische ebenso wie ideologische Potenzial fehle.4
Wiederum im Kontrast gegen diese theoretische Position liest sich die Auftragsarbeit „Was ist Existenzphilosophie?“ , die, entgegen der eigentlichen Intention der Auftraggeber, kaum Hinweise auf den französischen Existenzialismus enthält (S. 354). Der Text liest sich als vernichtende Kritik an Heidegger, die bereits die völkischen Tendenzen in seiner Philosophie erkennt (S. 58). Während Arendt diese Erkenntnis in der amerikanischen Fassung umfangreich dargestellt und Heidegger als Profiteur der nationalsozialistischen Säuberung des Universitätswesens bezeichnet hatte, ist in der ursprünglichen deutschen Fassung die Stelle – unklar von wem – gestrichen worden (S. 356f.). Umso erstaunlicher, dass Arendts spätere Diagnose der Moderne ihre terminologische Äquivalenz mehr in Sein und Zeit und weniger in Jaspers‘ Werken findet. Es ist Heidegger, den sie – trotz der in der „Zueignung“ geäußerten Hochachtung gegenüber Jaspers – als eigentlichen Kerndenker der deutschen Existenzphilosophie betrachtet (S. 59).5

„Die verborgene Tradition“, „Juden in der Welt von Gestern“ und „Der Zionismus aus heutiger Sicht“ stellen Arendts Auseinandersetzung mit dem Schicksal des jüdischen Volkes, seinem Pariatum und dem Antisemitismus dar. Ersterer Text rekonstruiert den Paria als selbstbewussten Außenseiter, der zur „politischen Wirkungslosigkeit“ (S. 65) der nicht-jüdischen Welt im Widerspruch steht, anhand zentraler Persönlichkeiten – Heine, Lazare sowie Chaplin und Kafka – und extrahiert den humanistischen Anspruch, „auf der von uns allen bewohnten Erde eine von uns allen gemeinsam geschaffene und kontrollierte Menschenwelt zu konstituieren“ (S. 85).

Der zweite Text zeichnet fragmentarisch, Stefan Zweigs Erinnerungen Die Welt von Gestern von 1942 folgend, das Ausbleiben der politischen Emanzipation der Jüdinnen und Juden in Europa, die Entstehung des modernen Antisemitismus aus dem Imperialismus sowie den Umschlag der Revolutionen im 20. Jahrhundert in die „Vergötterung“ (S. 91) des Totalitarismus nach. Dieser modernen Tendenz hätten die Juden als ‚politisch Desinteressierte‘ kaum etwas entgegenzusetzen. Arendt diagnostiziert, dass es zwar für das soziale Pariatum innerhalb der europäischen Gesellschaften hätte Lösungen geben können, dass es aber gegen den globalen Antisemitismus „keinen individuellen Ausweg mehr im internationalen Ruhm gibt –sondern nur noch in politische[r] Gesinnung und Kampf für die Ehre eines ganzen Volkes“ (S.96).

Der letzte, starke Reaktionen provozierende‘ Artikel zeugt von einer elementaren Kritik am ‚jüdischen Nationalismus‘. Arendt betrachtet die allgemeine Gefahr des Nationalismus, von dem der Zionismus eine Spielart bilde, in Rassismus umzuschlagen. Daher könne der Nationalstaat, auch nicht ein jüdischer, „keine Lösung im Umgang mit Antisemitismus“ (S. 435) sein. Ihr Verhältnis zu Israel war somit tendenziell diffus-ablehnend, definitiv aber gespaltener und ambivalenter als jenes vieler anderer jüdischer Exil-Intellektueller, etwa eines Gershom Scholem oder Max Horkheimer. Auch wenn Arendt zwar heute im Nahen Osten existierende Krisenherde antizipiert, sucht sie doch pauschal einen Teil der Verantwortung für ein „erneutes Aufflammen von Judenhaß“ (S. 132) bei den Juden – nicht in erster und einziger Instanz bei den Antisemiten selbst – und wirft ihnen Ignoranz und Naivität gegenüber den „Ereignisse[n] von 1933“ (S. 137) vor.6

So antithetisch die Texte bisweilen wirken, fügen sie sich doch zumindest gebrochen wieder zusammen. Wie Herausgeberin Barbara Hahn treffend formuliert hat, handelt es sich um ein ‚Buch des Übergangs‘, das Positionen enthält, von denen einige im Laufe von Arendts theoretischer Entwicklung verworfen, andere radikalisiert werden. Die neue, kritische Gesamtausgabe knüpft an die ‚streitbaren Stimmen‘ an und zeigt, wie ungebrochen Arendts Denken für die philosophische, politik-und sozialwissenschaftliche Diskussion noch immer ist.

Optisch überzeugt der Band in Layout, Satz und Einband ebenso wie das inhaltliche Kernstück des Bandes, der knapp 200 Seiten lange Anhang mit Kommentaren in Deutsch und Englisch zu allen enthaltenen Texten. Bisweilen wünscht man sich, gerade für mit Arendts Werk Vertraute, eine kritischere Einordnung, die vielleicht schon Querverweise auf spätere Werke herstellt. Solche werden zwar mit dem Konflikt zwischen Arendt und Scholem angeführt, weniger aber als kritische Einordnung von Arendts Position, sondern eher als zeithistorisches Artefakt. Nichtsdestotrotz sind das hervorragende und eindrucksvolle Ergebnis der Kritischen Gesamtausgabe das akribische Nachzeichnen der Entstehungsgeschichte der Texte sowie die umfassenden, an Seitenzahl und Zeilennummer ausgerichteten Endnoten, die die Erläuterung von Begriffen besorgen, die Herkunft indirekter und nicht kenntlich gemachter direkter Zitate klären und auf redaktionelle Eingriffe und Veränderungen sowie auf Arendts institutionelle und ideelle Mitstreiter*innen hinweisen. Der Band ist ein weiterer imponierender Teil der Gesamtausgabe, wie er der prominentesten, politischen Denkerin des 20. Jahrhunderts, die stets von sich gewiesen hat, eine Philosophin zu sein, gebührt und der gleichzeitig Vorfreude auf das Studieren der folgenden Bände macht, die bis 2030 erscheinen sollen.

Stefan Vennmann

(Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung, promoviert am Institut für Philosophie der Universität Duisburg-Essen zur kritischen Theorie kollektiver Schuld)

1Dass Arendt das 1942 – und 1944 um einen ausführlichen Anhang ergänzt – erschienene Werk zur Gesellschaftsstruktur des Nationalsozialismus kannte, geht aus dem Kommentar zu „Organisierte Schuld“ hervor (S. 349). Umfassender auf Neumanns Analysen bezieht sich Arendt allerdings auch in ihrem Opus magnum nicht.

2 m Englischen verwendet Arendt den Begriff „collective guilt“ (S. 206), der weniger auf die Aggregation individueller Schuld, als „species of personal moral guilt“ (Tracy Isaacs, Moral Responsibility in Collective Contexts, New York 2011, S. 78), sondern vielmehr auf die Integration der Täter in den kollektiven Komplex der nationalsozialistischen Verbrechen verweist und so einen genuin kollektiven, nicht nur aggregiert-individuellen Zustand bedeutet. Später wird Arendt den Begriff der kollektiven Schuld mit aller Vehemenz zurückweisen (Hannah Arendt, Nach Auschwitz. Essays und Kommentare 1, Berlin 1989, S. 82).

3Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München/Zürich 2008, S. 39.

4Dass Arendt im Gerichtssaal den Lügen Eichmanns glaubt und ihn als Idealtypus des totalitären Verbrechers herausstellt, der nicht von einer antisemitischen Ideologie und deren eigenverantwortlicher Umsetzung, sondern nur von dem bürokratischen Zwang zur Bearbeitung von Akten geleitet war, ist umfangreich belegt und markiert den problematischen Kern ihrer Analyse des nationalsozialistischen Täters. Auch wenn seine Studie Arendt gewidmet ist, hat schon Herbert Jäger (Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität, Frankfurt 1967, S. 21) die Reduktion der nationalsozialistischen Verbrecher auf bürokratisch agierende ‚Schreibtischtäter‘ problematisiert. Gut dokumentiert ist die Debatte, die Arendt mit Kritik überhäufte, in Gary Smith (Hg.): Hannah Arendt Revisited. ‚Eichmann in Jerusalem‘ und die Folgen, Frankfurt 2000, auf die auch die Biographie Eichmanns von Bettina Stangneth, Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Hamburg 2011, Bezug nimmt.

5Ingo Elbe, Paradigmen anonymer Herrschaft. Politische Philosophie von Hobbes bis Arendt, Würzburg 2015, S. 458f.

6Es sei ihnen „teilweise selbst zuzuschreiben“, wie Arendt (Zur Zeit. Politische Essays, München/Zürich 1989, S. 16) bereits 1941 in „Wir Flüchtlinge“ konstatiert.