Ausgabe 1, Band 10 – Dezember 2020
Über Wahrheit und Lüge im politischen Sinn. Arendts Konzept der Meinungsbildung
Georg Zenkert
Professor am Institut für Philosophie und Theologie der Pädagogischen Hochschule Heidelberg
Abstract:
Arendts Essay irritiert in Zeiten von Fake-News mit der These, dass der Anspruch auf Wahrheit im Kontext der Politik abzuweisen sei. In der Tat leistet Arendt mit ihren Überlegungen einen Beitrag zur fälligen Rehabilitierung der Meinungen in ihrer praktischen, handlungsleitenden Funktion gerade durch die Abgrenzung von Meinungen gegenüber dem in politischen Verhältnissen unangemessen Anspruch auf unbedingte Wahrheit. Im Horizont von Meinungen erschließen sich die Möglichkeiten des Handelns. Vernunftwahrheiten erweisen sich dagegen auf dem Feld des Politischen, das sich für Arendt durch den Pluralismus der Meinungen konstituiert, als tyrannisch.
Aus dieser Perspektive ergibt sich eine analytisch schärfere Diagnose der politischen Lüge, als es die auf Moral abgestellten Invektiven zu leisten vermögen. Lüge unterminiert, für alle Beteiligten, die Orientierungsfunktion der öffentlichen Meinung.
Arendt's essay irritates in times of fake news with the thesis that the claim to truth in the context of politics must be rejected. In fact, Arendt's reflections contribute to the due rehabilitation of opinions in their practical, action-guiding function precisely through the differentiation of opinions from the claim to absolute truth that is inappropriate in political circumstances. In the horizon of opinions the possibilities of action open up. In contrast, truths of reason prove to be tyrannical in the field of the political, which for Arendt is constituted by the pluralism of opinions.
From this perspective, an analytically sharper diagnosis of the political lie emerges than the invectives based on morality can provide. Lies undermine, for all participants, the orientation function of public opinion.
Zugleich aber zeigen Kant und Arendt, dass das Verständnis von Theorie und Praxis, das den jeweiligen Annahmen zugrunde liegt, unzureichend ist, dass das Verhältnis von Theorie und Praxis ganz anders interpretiert werden muss, als dies in den Gemeinplätzen vorgegeben. Hier gehen Kant und Arendt unterschiedliche Wege. Für Kant gilt, dass es, richtig verstanden, eine Theorie gibt, die praktisch von Bedeutung ist, nämlich die Moralphilosophie. In diesem Sinne, im Namen einer Metaphysik der Sitten, reklamiert Kant den Wahrheitsanspruch der Theorie der praktischen Vernunft auch für die moralische Praxis. Es gibt keinen Substanzverlust beim Übergang vom praktischen Wissen zum Handeln, weil sich der Maßstab der Vernunft nicht relativieren lässt.
Verkompliziert wird die Situation durch die poststrukturalistische Dekonstruktion von Normen und die konstruktivistische Verflüssigung von Tatsachen, die dann in der Tat, im Gegensatz zu ihrer ursprünglichen Intention, delegitimierende Wirkung entfalten. Eine desillusionierte Moral, die sich in ihren unterschiedlichen und teils widersprechenden Ausprägungen darauf verständigt hat, dass Politik ohne Werte und Wahrheitsbezug agiert, bricht sich an der konzedierten Pluralität von Normen und quittiert auch diesen Umstand mit der Diagnose, dass Politik heillos sei. Gleichzeitig droht sich der stabilisierende Bezug auf Tatsachen in sein Gegenteil zu verkehren, indem die Inanspruchnahme alternativer Fakten politisch hoffähig wird. Hier offenbart sich die Ohnmacht einer Aufklärung, die im Namen einer liberalen Praxis ihre eigenen Voraussetzungen untergräbt. Ihr Wahrheitsanspruch verkümmert zum bloßen Gestus derer, die auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen meinen.
I.Meinung als Form praktischen Wissens
Fundamental ist die Frage, was unter Politik zu verstehen sei. Arendts Konzeption von Politik setzt nicht, wie in der politischen Wissenschaft üblich, mit Herrschaftsbeziehungen oder der institutionellen Infrastruktur an, sondern geht von der Idee gemeinsamen Handelns aus. Der neuralgische Punkt ist dabei der Modus der Verständigung. Nach Arendt sind es die Meinungen, die den politischen Diskurs und damit die Politik selbst entscheidend prägen. Darin folgt Arendt dem Modell von Politik, das maßgeblich Aristoteles entwickelt hat. Dieses geht vom Prinzip der Orientierung durch Meinungen aus. Unter dieser Prämisse zeigt sich der rhetorisch geprägte Austausch von Meinungen als Daseinsform einer dem Gemeinwohl verpflichteten politischen Verfassung.
Kants fundamentale Unterscheidung des theoretischen und des praktischen Gebrauchs der Vernunft stellt hier insofern eine Zäsur dar, als damit die pauschale Unterordnung des praktischen Wissens unter die theoretische Erkenntnis aufgehoben wird. Der Preis für diese Autonomie der praktischen Vernunft ist jedoch die Begrenzung des praktischen Wissens auf rein normative Sätze, die ihre Dignität der Entkoppelung von allen empirischen Fragen verdankt.
Abgesehen von Diskursen, die Legitimationsfragen betreffen, sind Meinungen nicht ausschließlich mit Normen befasst, sondern stellen eine Beziehung zwischen Normen und Sachverhalten her. Auch hier ist die Analogie zum Geschmacksurteil nur bedingt erhellend. Geschmacksurteile beziehen sich auf den ästhetischen Schein, politische Urteile auf die Wirklichkeit und Möglichkeit des Handelns. Im Unterschied zum rein ästhetischen Urteil also ist das politische Urteil, das sich in Meinungen niederschlägt, eine Proposition, die sich einerseits auf Sachverhalte bezieht, und andererseits auf normativen Prämissen beruht. Diesen Zusammenhang gilt es im Auge zu behalten, wenn Meinungen und Tatsachen voneinander abgegrenzt werden.
II.Tatsachenwahrheiten
Das bedeutet nun nicht, dass Tatsachenwahrheiten der Beliebigkeit des Meinens ausgeliefert wären. Tatsachen sind zwar Gegenstand des Meinens, aber im Unterschied zu Fiktionen sind sie nicht dem Meinenden zur Disposition gestellt. Tatsachen sind Fixpunkte des Handelns, auf die sich Handelnde im Modus des Meinens beziehen können. Dass Tatsachen, wie in den gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen, als deutungsabhängig, als Ergebnisse von Interpretationen präsentiert werden, ist nach Arendt ein Indiz dafür, dass Politik ihre Würde verloren hat.
Die Relativierung der Tatsachen ist zweifellos ein Ergebnis postmoderner Dekonstruktion des modernen Wissensparadigmas. Dass Tatsachen als die solide Basis des Wissens gelten und zugleich im Sinne Foucaults als Produkt der ‚Wahrheitsregime‘ verstanden werden können, ist auf der Folie der epistemischen Vorgeschichte des Begriffs besser zu verstehen. Das deutsche Wort ‚Tatsache’ taucht zum ersten Mal 1756 in theologischem Kontext auf als Übersetzung des Ausdrucks ‚matter of fact’ (in Entsprechung zum lateinischen ‚res facti’) im Kontext einer Abhandlung, in der die heilsgeschichtlich bedeutsamen Handlungen Gottes dargelegt werden. Tatsachen sind verbürgte, wirklich geschehene Handlungen. Vor allem durch Hamann und Herder gewinnt das Wort Publizität und avanciert schließlich zu einer unverzichtbaren Kategorie historischen Denkens. Tatsachen sind nach säkularer Auffassung die unwiderruflichen Ereignisse der Geschichte. In diesem Sinne kann der Begriff auch im Rahmen der Naturgeschichte auf natürliche Prozesse übertragen werden. Mit dieser Übertragung verblasst jedoch der ursprünglich konstitutive Handlungskontext. Tatsachen werden zum Gegenstand theoretischen Wissens, obwohl sie sinngemäß dem Handlungszusammenhang angehören.
Im Grunde ist damit das heute einschlägige Verständnis von „Tatsache“ bereits vorgeprägt: Als Tatsache gilt eine durch Vernunftgründe oder durch Erfahrung abgesicherte Wahrheit, die zur Gewissheit wird. Dass Fakten als Basis empirischen Wissens betrachtet werden ist ein Ergebnis dieser neuzeitlichen Reduktion des Bereichs der Erfahrung auf sogenannte Tatsachen. Sie gelten als Gegenstände von Begriffen, deren objektive Realität bewiesen werden kann. Damit kommen als Tatsachen nur einfache Sachverhalte in Frage, elementare Beobachtungen, die dem menschlichen Einfluss entzogen sind. Tatsachen präsentieren sich als irreduzible Atome des Wissens.
Die epistemische Purifikation der Tatsachen im Interesse einer Neubegründung der empirischen Wissenschaft entzieht die Tatsachen der Welt des menschlichen Handelns und der Urteilskraft und lässt einzig den Akt des Erkennens als valides Faktum gelten. Dieser Schritt erweist sich als produktiv für die empirischen Wissenschaften, aber problematisch für die politische Welt, die sich damit am Maßstab methodisch erworbenen Wissens messen lassen muss. Politisch relevante Ereignisse sind jedoch eher historischen oder juristischen Tatsachen verwandt als wissenschaftlichen Sachverhalten. Der Bezug auf wissenschaftliche Tatsachen im politischen Kontext erweist sich daher häufig als irritierend. Wissenschaftliches Wissen im Sinne der Naturwissenschaften wird unvermeidlich ambivalent, sobald es für politische Absichten zitiert wird, weil es einerseits kraft seines Anspruchs auf Gewissheit unbedingte Anerkennung fordert und andererseits im politischen Austausch der Meinungen in den rhetorischen Sog des Überredens und Überzeugens gerät. Eine Tatsache wird zum Motiv eines Plädoyers, das im Interesse einer politischen Zielsetzung vorgetragen wird. Das macht die Tatsache nicht weniger gewiss, aber es könnten auch andere Tatsachen erwähnt oder der Hinweis auf die Tatsache zu einer anderen Schlussfolgerung geführt werden. Tatsachen nehmen in Verbindung mit Meinungen ganz unterschiedliche Färbungen an.
III.Tatsachen oder Meinungen?
Die Differenz schlägt sich im Umgang mit Meinungen und Tatsachen nieder. Tatsachen lassen sich überprüfen und jede Tatsachenbehauptung impliziert die Bereitschaft, sich einer idealiter neutralen Überprüfung zu stellen. Meinungen dagegen werden beurteilt. Wer eine Meinung äußert, nimmt Stellung und fordert andere zur Stellungnahme heraus. Es handelt sich also um unterschiedliche epistemische Einstellungen, um unterschiedliche Sprachspiele. Werden die Differenzen verwischt, so führt dies zu einem Verfall der politischen Kommunikation, da jede Äußerung sich als bloße Ansichtssache darstellt, die sich vernünftiger Beurteilung entzieht. Dann beschränkt sich die praktische Funktion auf die Frage der Durchsetzung der eigenen Meinung.
Die Gefahr einer Fehlentwicklung droht aber auch von der anderen Seite, wenn Meinungen als Tatsachen behandelt werden und diese damit ihren intentionalen Akzent verlieren. Ein methodisch ermitteltes Meinungsbild kann so zur Verfügungsmasse manipulativer Kräfte werden, das jede Debatte erübrigt. Sollen Meinungen ernst genommen werden, dann muss deutlich werden, dass sich mit ihnen Handelnde positionieren und damit am Prozess der Meinungsbildung beteiligen wollen. Ein inflationärer Einsatz von Meinungsforschung kann sich diesen Prozess durch den Wechsel zu einer überwiegend strategischen Einstellung unterminieren.
Urteilen ist ein Akt, der Tatsachen mit normativen Sätzen verbindet. Dieser elementaren Struktur folgt auch in der Regel die Äußerung einer Meinung in praktischer Absicht im politischen Umfeld. Meinen, dass etwas der Fall sei, wäre dann genauso ein Grenzfall wie die Meinung bezüglich der Geltung einer Norm. Reine Tatsachenbehauptungen dagegen sind kategorial den empirischen Wissenschaften zuzuordnen oder lehnen sich an diese an im Modus der Wahrscheinlichkeit. Eine Norm zu konstatieren ist als Sprechakt einer Autorität denkbar, bildet aber ansonsten den Übergang zu Verfahren der Normenbegründung, sei es im institutionellen Sinne wie bei Rechtsnormen oder im Sinne diskursiver Normenbegründung wie bei moralischen Normen.
Arendt betrachtet die Verbindung von Tatsachen und Meinungen als Standardfall und eruiert die Verbindungen beider und deren Pathologien. Da Meinungen im politischen Denken diskreditiert sind, so ihre Diagnose, kommt es häufig zu einer Verzerrung im Verhältnis von Fakten und normativer Disposition. Wenn der Gegensatz einer Tatsachenwahrheit die Lüge ist, dann ist diese Differenz der neuralgische Punkt der politischen Verständigung. Eine Verwischung der Grenzen zwischen Tatsachen und Lügen glaubt sich auf die unvermeidliche Perspektivität aller politischen Meinungen berufen zu können und modelliert Tatsachen nach eigenem Gutdünken und politischer Interessenlage. In der Tat aber ist nicht das Faktum, sondern die Einschätzung des Faktums eine Frage der Disposition.
Die Auflösung von Tatsachen in Meinungen scheint legitimiert durch den Befund, dass jeder Bezug auf Tatsachen letztlich arbiträr ist, dass Tatsachen aus unterschiedlicher Perspektive sich unterschiedlich präsentieren. Tatsachen mutieren zu Meinungen. Die Diskreditierung der Meinungen bedeutet folglich nicht, dass Meinungen nicht mehr Gehör finden oder erst gar nicht mehr geäußert werden. Vielmehr zeichnet sich eine Inflation der Meinungen ab, die immer unüberschaubarer und hinsichtlich ihrer Wirkung unberechenbarer werden. Der entscheidende Effekt besteht vielmehr darin, dass Meinungen in der Selbstwahrnehmung der Akteure zwischen Fakten und Werturteilen oszillieren.
Die Ambivalenz der Fakten kommt darin zum Ausdruck, dass sie einerseits in der Entgegensetzung zu bloßen Werturteilen als unverrückbare Grundpfeiler politischer Entscheidungen, und andererseits selbst als Produkte eines bestimmten Wahrheitsregimes gelten. Ein Fetischismus der Tatsachen, der sich politischer Auseinandersetzungen entzieht und politische Weichenstellungen als alternativlos betrachtet, wird unvermittelt mit der ebenso zwingenden Einsicht in die Perspektivität jeder Darstellung konfrontiert. Komplementär dazu findet sich im zeitgenössischen Diskurs wie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine moralische Überdeterminierung, die sich mit dem nietzscheanischen Credo eines Werterelativismus überkreuzt. In dieser Konstellation, die zu unterschiedlichen Kombinationen führen kann, finden politische Auseinandersetzungen statt. Ob sich der Relativismus auf Fakten und Werte gleichermaßen bezieht oder nur ein Moment betrifft, ob sich die Position zu einem Chiasmus von Faktengläubigkeit und Wertrelativismus oder im schlimmsten Fall der Verbindung von Tatsachenskeptizismus und Wertfanatismus verhärtet, in allen Fällen ist die Sphäre der Meinungen als Medium der politischen Verständigung verkümmert.
Ein Zusammenhang kann aber logischerweise nur unter der Voraussetzung der Differenz beider Wissensformen gestiftet werden. Gewiss sind auch Tatsachenwahrheiten nicht infallibel, aber ein Streit um Tatsachen stellt sich anders dar als ein Streit um Meinungen oder Urteile, da sich Tatsachenbehauptungen falsifizieren lassen. Eine Meinung dagegen muss sich argumentativ absichern; sie stützt sich auf die Plausibilität von Gründen; sie lässt sich durch übergreifende Ziele, durch normative Annahmen oder Grundüberzeugungen rechtfertigen. Dabei spielen Tatsachen die Rolle von Ausgangspunkten, auf die sich Meinungen beziehen können. Der Sinn einer politischen Auseinandersetzung basiert auf der Möglichkeit der Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen. Eine Tatsache in Frage zu stellen bedeutet, auf andere Tatsachen zu verweisen; eine Meinung lässt sich durch den Verweis auf Tatsachen oder den Bezug auf andere Meinungen kritisieren. Im ersten Falle wird die Meinung in Frage gestellt, sofern sie auf falschen Voraussetzungen beruht. Wenn eine Meinung durch Konfrontation mit anderen Meinungen herausgefordert wird, zielt diese Invektive darauf, die Folgerungen und Konsequenzen zu modifizieren.
Tatsachen stehen für den Status quo; sie gehören der Vergangenheit an; Zukunftsbezug haben sie nur insofern, als sie Möglichkeiten ausschließen. Was unabänderlich eintreten wird, entzieht sich dem Handeln. Der Streit um Meinungen betrifft dagegen Handlungsmöglichkeiten. Darin zeigt sich die praktische Funktion der Meinungen. Sie eröffnen Handlungsräume im Modus der Gegenwart. Das schließt nicht aus, dass sich Meinungen auch auf Vergangenes beziehen. Im Medium der Meinungen zeigen sich Möglichkeiten des Handelns. Mit Meinungen erschließt sich die Dimension des Handelnkönnens in der Verbindung von Vergangenheit und künftigen Entwicklungsmöglichkeiten. So konstituiert sich im Prozess der Kommunikation die Gegenwart politischen Handelns. Für politisches Handeln sind Meinungen deshalb schlechterdings fundamental, da insbesondere gemeinsames Handeln auf den Möglichkeitsspielraum angewiesen ist. Nur im Horizont von Meinungen können sich politische Handlungsperspektiven ergeben.
IV.Die Orientierungsfunktion der Meinung und die öffentliche Meinung
Durch Meinungen erschließen sich Handlungsfelder, und Meinungen stiften Handlungszusammenhänge. Dies sind die fundamentalen praktischen Funktionen der Meinung. Grundsätzlich sind Handlungen nicht isoliert zu betrachten, sondern verweisen gewissermaßen von sich aus auf einen Zusammenhang, in dem sich Voraussetzungen und Ziele sinnvollen Handelns abzeichnen. Dies gilt nicht nur im Sinne einer linear weiterführenden Handlungskette, sondern auch für Handlungstypen, die sich nach dem Verhältnis von speziellem Fall und allgemeinem Schema zuordnen lassen und damit eine Hierarchie von Zwecken bilden. Schließlich ist die eigentliche Absicht konkreter Handlungen im seltensten Falle im unmittelbaren Resultat zu finden. Erst der übergreifende Zusammenhang, der bleibende Zweck, der nicht im Augenblick seiner Realisierung schon wieder obsolet ist, verbürgt die Rationalität des Handelns.
Die Aristotelische Ethik setzt auf diesen Fundus praktischen Wissens. Meinungen repräsentieren dementsprechend nicht nur punktuelles Hintergrundwissen; sie beschreiben insgesamt den Standpunkt des jeweiligen Akteurs. Mit der Standorthaftigkeit oder Perspektivität des Handelns ist insofern nicht nur die individuelle Besonderheit des Handelnden gekennzeichnet, die bei fortschreitender Entwicklung der Persönlichkeit im Idealbild eines rationalen Handlungssubjekts aufzuheben wäre; Perspektivität steht vielmehr für die Kompetenz, überhaupt handeln zu können und Stellung zu beziehen, weil man dazu über Orientierungen verfügen muss, die für ganz konkrete Verhältnisse spezifiziert sind. Wer um der Objektivität willen auf den eigenen Standort verzichten will, täuscht sich über die Unvermeidbarkeit von Perspektivität ebenso wie über den Charakter des Handelns. Nicht die Verallgemeinerbarkeit der Meinungen ist das Kriterium praktischer Rationalität, sondern deren praktische Funktion, die darin besteht, Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, Entscheidungen herbeizuführen und einen kontinuierlichen Handlungszusammenhang zu erschließen. Nur Meinungen können mithin den Orientierungsrahmen bieten, der es erlaubt, so zu handeln, dass sich die einzelnen Handlungen zum Sinnzusammenhang eines kohärenten Lebens fügen.
Die einzelne Handlungsperspektive ist dabei freilich nicht von einem Kontext kollektiven Handelns zu lösen. Im Gegenteil ergibt sich gerade aus dem Zusammen der unterschiedlichen Perspektiven eine besondere Qualität der Orientierung. Entscheidend ist, dass der einzelne selbst zum Gelingen der Praxis beiträgt. Orientierung stellt sich dadurch ein, dass sich Handlungsperspektiven überschneiden und zueinander in Beziehung treten. Nicht ein vorgegebenes Prinzip, sondern das freie Zusammenspiel der einzelnen bietet die notwendige Sicherheit im Handeln. Auch Normen können in diesem Zusammenhang die Funktion übergreifender Verbindlichkeiten einnehmen, die Orientierung stiften.
Verfolgt man diese Thematik in ihrem historischen Wandel, so wird daraus die rhetorische Form des Meinungsaustausches, auf deren Grundlage sich das Paradigma des Geschmacks entwickelt. Dessen ursprünglich genuin praktische Bedeutung verliert sich jedoch bald und wird ausdifferenziert zu einer rein ästhetischen Konzeption, die ihre prägnanteste Formulierung in Kants Kritik der Urteilskraft findet. Dass das Modell gegenseitiger Orientierung im Geschmack in der Tat ein breites Spektrum abdeckt, das von der bloßen Mode bis hin zum maßgebenden Urteil des Connaisseurs reicht, ist nicht zufällig. Die unterschiedliche Qualität des Meinungsaustausches wird bestimmt durch die Kompetenz der Teilnehmer, sich eines gemeinsamen Horizontes zu versichern. Weniger der Bildungsstand der einzelnen als deren Fähigkeit, Gemeinsamkeit ins Werk zu setzen und zu bekräftigen, ist die Bedingung einer gelungenen Verständigung im Handeln.
Dieser Vorgeschichte ist es zu verdanken, dass subjektives Urteilen und normative Grundprinzipien in Opposition treten und zu unvereinbaren Extremen stilisiert werden, ein Problem, das auch noch die zeitgenössischen Auffassungen der öffentlichen Meinung prägt. Auf eine Formel gebracht besteht das Dilemma darin, dass die öffentliche Meinung, vom Kontext traditioneller Lebensformen abgelöst, einerseits zum Inbegriff blinder Gewohnheit degradiert wird, andererseits als Vehikel legitimer demokratischer Entscheidungen gilt und damit als Legitimationsinstanz beansprucht wird. Beide Funktionen hängen jedoch zusammen. Dem freien subjektiven Urteil, dem Recht auf eine eigene Meinung, wird ein Wert zugebilligt unerachtet seiner inhaltlichen Qualität. Zugleich sind Meinungen einem pauschalen Manipulationsverdacht ausgesetzt.
Am Standard überprüfbaren Wissens gemessen diskreditiert sich das bloße Meinen, sofern es ebenso blind in Kritik umschlägt wie zur schlichten Affirmation tendiert. Die Erwartung, dass der Austausch der Meinungen in einen Konsens geläuterter Meinungen mündet, ist nicht nur illusionär, sondern unangemessen, weil damit die Bedeutung pluralistischer Meinungsbildung in Frage gestellt wird. Die öffentliche Meinung kann weder als Legitimationsgrund politischen Handelns noch als Instanz der Wahrheit dienen. Beide Erwartungen verzerren die Prozesse der Meinungsbildung und depravieren dadurch die praktische Funktion, die Meinungen als Orientierungsinstanz unverzichtbar erscheinen lassen.
Dabei ist es gerade die von Arendt immer wieder hervorgehobene Pluralität der Meinungen, der die öffentliche Meinung ihren Status als Medium politischer Willensbildung verdankt. Im Modus der Pluralität tauchen unterschiedliche Möglichkeiten auf, die den Raum des Handelns ausmessen. Denn nur dort, wo sich Alternativen anbieten, kann von Handlung die Rede sein. Durch die Pluralität der Meinungen zeichnen sich auch Zusammenhänge ab, die von den einzelnen Akteuren so nicht avisiert waren. So verbinden sich spezielle Ansichten und Interessen mit übergeordneten Gesichtspunkten; und umgekehrt können auch Widersprüche und Handlungskonflikte zum Vorschein kommen, die in der Betrachtung einzelner Akteure nicht präsent waren. Meist sind Handlungssituationen so komplex, dass sie mit einer Ansicht allein nicht angemessen erfasst werden. Eine Handlungssituation lässt sich im politischen Maßstab nicht zureichend von einem einzigen Standpunkt aus erschließen und beurteilen. Deshalb hat die Beteiligung Vieler an der Willensbildung außer der Legitimationsfunktion auch darin ihre politische Berechtigung, dass erst durch die Überschneidung der Perspektiven die eigentliche Lage erkennbar wird.
Im Unterschied zur strategischen Lüge der alltäglichen Handlungssituationen, die durchaus für bestimmte Handlungsabsichten eingesetzt werden kann, verengen Lügen im Medium der öffentlichen Meinung den Handlungsspielraum, weil sie die konstitutive Differenz zwischen Tatsachen und Meinungen verwischen. Praktische Orientierung dagegen lebt von der wechselseitigen Korrektur und Relativierung der vielen Einzelmeinungen, die sich in übergreifenden Perspektiven und festen Topoi manifestiert. Die Orientierung, die öffentliche Meinung im gelungenen Falle bieten kann, besteht darin, dass sich unterschiedliche Perspektiven auf einen Bestand allgemein anerkannter Tatsachen beziehen, um sich in einem Wettbewerb differierender Interpretationen zu messen. Es gibt keine Garantie, dass dabei tatsächlich die beste, qualifizierteste Meinung obsiegt. Dennoch ist die Korrekturwirkung dieses Abgleichs der Meinungen nicht zu unterschätzen, zumal in der Regel nicht feste Positionen gegeneinander ins Feld geführt werden, sondern diese selbst sich erst im öffentlichen Austausch konturieren, in größere Zusammenhänge einfügen und möglicherweise in Kompromisse oder übergreifende Perspektiven eingehen.
Ein in diesem Sinne flüssiges Spiel der öffentlichen Meinung muss kein definites Ergebnis einer kollektiven Gesamtmeinung liefern. Wichtig ist vielmehr, dass die unterschiedlichen Meinungen sich trotz bestehender Differenzen im Gefüge des Ganzen verorten lassen und Unterschiede deutlich werden, die das Verhältnis der Akteure untereinander indizieren. So besitzt die öffentliche Meinung, weit davon entfernt, als Organ der Wahrheit zu gelten zu können, eine insgesamt integrative Funktion. Manipulative Maßnahmen dagegen wirken desintegrativ, indem sie Pluralität unterlaufen und auf Homogenität zielen, in der alle Unterschiede unter Einebnung der Differenz von Tatsachen und Meinungen sich in diffusem Konsens verlieren.
Arendts Ausführungen ergeben trotz mancher blinder Flecken insgesamt ein stimmiges Bild, das auf die konstitutive Funktion der Meinungen fokussiert ist. Eine schlichte Aufforderung zur Wahrheit angesichts der Lüge würde die Komplexität des Problems unterbieten. Wahrheit im praktischen Sinne zu verteidigen heißt, dem rhetorischen Charakter der Meinungsbildung Rechnung zu tragen. In diesem Medium, nicht durch die Beschwörung vermeintlich evidenter Prinzipien, kann sich politische Urteilskraft entfalten.
Literatur:
Arendt, Hannah (1974): Über die Revolution [1963], München
Arendt, Hannah (1982): Das Urteilen, Texte zu Kants politischer Philosophie, hrsg. und mit einem Essay von R. Beiner, München, Zürich
Arendt, Hannah (1987): Wahrheit und Lüge in der Politik, München, 2. Aufl.
Aristoteles (1980): Rhetorik, München
Aristoteles (1981): Politik, München
Bacon, Francis (1990): Neues Organon [1620], Hamburg
Beiner, Ronald (2004): „Wahrheit und Politik“ – Eine Relektüre, in: W. Meints, K. Klinger (Hrsg.), Politik und Verantwortung. Zur Aktualität von Hannah Arendt, Hannover
Chamayou, Grégoire (2019): Die unregierbare Gesellschaft – Eine Genealogie des autoritären Liberalismus, Berlin
Daston, Lorraine (2001): Wunder, Beweise Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt
Gehlen, Arnold (2004): Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt a. M., 6. Aufl.
Madison, James/Hamilton, Alexander/Jay, John (1987): Federalist Papers [1788], hrsg. V. Isaac Kramnick, London/New York
Habermas, Jürgen (1962): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied/Berlin
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Grundlinien der Philosophie des Rechts [1820], Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt a. M.
Hennis, Wilhelm (1957): Meinungsforschung und repräsentative Demokratie. Zur Kritik politischer Umfragen, Tübingen
Kant, Immanuel (1977a): Kritik der Urteilskraft [1790]. Werkausgabe Bd. X, Frankfurt a. M.
Kant, Immanuel (1977b): Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht in der Praxis [1793]. Werkausgabe Bd. XI, Frankfurt a. M.
Leibniz, Gottfried Wilhelm (1982): Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie [1714], Hamburg
Löwith, Karl (1968): Vico’s Grundsatz: verum et factum convertuntur. Seine theologische Prämisse und deren säkulare Konsequenzen, Heidelberg
Ptassek, Peter/Sandkaulen-Bock, Birgit/Wagner, Jochen/Zenkert, Georg (1992): Macht und Meinung. Die rhetorische Konstitution der politischen Welt, Göttingen
Teubner, Gunther (2018): „Quod omnes tangit: Transnational Constitutions Without Democracy?” In: Journal of Law and Society
Tocqueville, Alexis de (1987): Über die Demokratie in Amerika [1835], übers. v. H. Zbinden, Zürich
Zenkert, Georg (1992): „Die Macht der öffentlichen Meinung“, in: Der Staat 31, Heft 3
1Kant 1977b
2Arendt 1967, 44
3Arendt 1982
4S. zum Beispiel die Anmerkungen von Ronald Beiner (Beiner 2004, 133 ff.).
5Gehlen 2004, 141 ff.
6Chamayou 2019, 267 ff.
7S. dazu insgesamt: Ptassek et. a. 1992
8Habermas 1962; s. dazu Ptassek et. al. 1992, 220 f.
9Ptassek et. al. 1992, 237 ff.
10Arendt, 1987, 86
11Madison, Hamilton, Jay 1987, Nr. 49
12Bacon 1990, I, 29
13Arendt 1987, 69
14Kant 1977a, §§ 20-22
15Arendt 1987, 48; die Definition findet sich in Leibniz‘ Monadologie § 33: „Vernunftwahrheiten sind notwendig, und ihr Gegenteil ist unmöglich; die Tatsachenwahrheiten sind zufällig, und ihr Gegenteil ist möglich.“
16Arendt 1987, 49
17Löwith 1968
18 Daston 2001, 103 ff.
19 Arendt 1987, 84
20 Arendt 1987, 51
21 Arendt 1987, 76
22 Daston, ebd., S. 29
23 Aristoteles 1981, 1281a 38 ff.
24 Aristoteles 1980, 1359a 30 ff.
25 S. dazu Zenkert 1992
26 Hennis 1957; Ptassek et. al. 1992, 261 ff.
27 Hegel 1970, § 316.
28 Prägend ist Jürgen Habermas, (Habermas 1962), der die öffentliche Meinung dem Maßstab rationalen Diskurses unterzieht.
29 Teubner 2018
30 Tocqueville 1987, Bd. I, II. Teil, Kap. 7, 378. Arendt 1974, 290 ff.
31 Tocqueville 1987, Bd. II, II. Teil, Kap. 6, 160 ff.
32 Arendt 1987, 78
33 Arendt 1987, 79
34 Arendt 1987, 86