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Ausgabe 1, Band 10 – Dezember 2020

Wahrheit und Politik / Truth and Politics

Editorial

Covid-19 hat die Weltöffentlichkeit  zutiefst überrascht. Ein verbreitetes „wishful thinking“ hielt die in Asien auftretenden Epidemien der letzten Jahre für ein asiatisches Problem. Einschränkungen wie vor allem diejenigen der Bewegungsfreiheit, der unternehmerischen Freiheit und der zwischenmenschlichen Nähe, schienen bis zuletzt undenkbar. Begleitet wurden diese Einschränkungen von öffentlichen Debatten über die Eigenarten und Gefährlichkeit des Covid-19-Virus, die Fakten der Wissenschaft und das Handeln der Politik. Es geht dabei um die grundsätzliche Frage der Orientierung und des Beurteilens dessen, was wahr ist, was Meinung, was Lüge und welches politische Handeln angemessen.

Das Verhältnis zwischen Wahrheit und Politik wird seit längerer Zeit angesichts der weltweiten Zunahme von populistischen Bewegungen und autoritären Manipulationen der Wirklichkeit, auch durch demokratisch gewählte Politiker, aufgeworfen. Was anfangs noch als nebensächliches Phänomen gedeutet werden konnte, offenbart sich inzwischen als Ausdruck einer Zeitenwende. Die klassischen Volksparteien befinden sich im Niedergang, Führerfiguren wie Trump in den USA, Bolsonaro in Brasilien und Erdogan in der Türkei haben einen neuen politischen Stil eingeführt. Sie propagieren den Bruch von Tabus und setzen bewusst die Spaltung in nationalen und internationalen Räumen in Gang. In den sozialen Medien werden Grenzen des Rechtsstaats und zivilisierten Verhaltens überschritten; Nationalismus und Antisemitismus, Nazismus, Hass, Lügen, Fake News und Verschwörungstheorien werden ungehindert in aller Öffentlichkeit verbreitet.

Hannah Arendt befasste sich in den 1960er Jahren in Vorträgen und Abhandlungen mit dem Thema „Wahrheit und Politik“ / „Truth and Politics“. Auslöser war die massive Kritik, die sie zu ihrem Buch Eichmann in Jerusalem (1963/1964) erhielt. In dem Essay „Truth and Politics“, den sie 1968 in die Sammlung Between Past and Future aufnahm, gibt sie den folgenden Hinweis: Ziel der Abhandlung sei es, „zwei unterschiedliche, doch miteinander verbundene Probleme, welche ich vorher nicht gesehen hatte und die in ihrer Bedeutung über das unmittelbare Geschehen hinauszuweisen scheinen, zu klären. Das erste betrifft die Frage, ob es stets richtig ist, die Wahrheit zu sagen. Glaubte ich ohne Einschränkung an das ‚Fiat veritas, et pereat mundus‘? Das zweite ergab sich aus der erstaunlichen Zahl von Lügen, von denen in der ‚Kontroverse‘ Gebrauch gemacht wurde – Lügen einerseits über das, was ich geschrieben, und andererseits über die Tatsachen, die ich berichtet hatte.“ Zu den wesentlichen Erkenntnissen, die ihren Überlegungen zu entnehmen sind, gehört die, „dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen […] vernichtet wird“, wenn „die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit“ nicht funktioniert.

Die vorliegende Ausgabe von Hannah.Arendt.net schließt insofern an Arendt an, als sie Beiträge versammelt, die sich darum bemühen, diesen Orientierungssinn für einige gegenwärtige Erscheinungen von Wahrheit und Unwahrheit in der Politik zu schärfen.

Zunächst aber geht es in dem Interview, das Roger Berkowitz, Direktor des Hannah Arendt Center for Politics and Humanities am Bard College in Annandale-on-Hudson, NY, USA, mit Jerome Kohn, dem letzten Forschungsassistenten Hannah Arendts, führt, um die Veränderung des Sozialen während der Pandemie. Es geht, so Kohn, um die Frage, inwiefern aus dem „social distancing“ und der Einschränkung der Sphäre des Sozialen eine andere Art zwischenmenschlicher Beziehungen entsteht: erstens in Gestalt einer fruchtbaren Distanz, die ein positives Verhältnis zur Einsamkeit, nicht Verlassenheit, als Raum des Denkens, der Erinnerung und der Einbildungskraft ermöglicht; zweitens in Gestalt einer Nähe von persönlicher und politischer Solidarität,. Auf diese neue Art von Distanz und Nähe verweisen Arendts Begriffe von politischer Freiheit und Verantwortung.

Bei den sich daran anschießenden Essays zu dem Verhältnis zwischen Wahrheit und Politik befasst sich Georg Zenkert (Heidelberg) mit der notwendigen Aufwertung der Meinungen in ihrer praktischen, handlungsleitenden Funktion und ihrer Abgrenzung von dem in politischen Dingen unangemessenen Anspruch auf unbedingte, also tyrannische Wahrheit. Unter diesem handlungsorientierten Aspekt ist die Lüge in der Politik kein vorrangig moralisches Problem, sondern eines, das die Orientierungsfunktion der öffentlichen Meinung unterminiert.

Andrew Spear (Michigan) geht von den jüngsten Diskussionen über Schweigen und epistemische Ungerechtigkeit aus, um sich mit dem Phänomen der parteiischen Reduktion einer offenen politischen Debatte auseinanderzusetzen und grundlegende Mängel  im politischen Diskurs aufzudecken. Mit Bezug auf Arendt werden als mögliche Strategien dagegen „truth telling“ und der Wert exemplarischer Handlungen vorgeschlagen, Formen des Sprechens und Handelns, die der Neigung zu schweigen eine Haltung der Aufrichtigkeit entgegensetzen.

Stefania Fantauzzi (Barcelona) schlägt vor, über den „fake“ als ein Konzept nachzudenken, das unsere Auffassung der Realität strukturieren kann. Möglich ist dies, in Anlehnung an Arendt dadurch, dass sich das Problem mit der Wahrheit als ein Problem der Gleichgültigkeit gegenüber der Realität und der Welt herausstellt und es damit der gegenüber eben dieser Welt unverzichtbaren Verantwortung ermangelt. Vor diesem Hintergrund untersucht die Autorin die Rollen, die Erzähler und Zuschauer bei der Konstruktion der Beziehung zwischen Wahrheit und Lüge spielen.

Paula Hunziker (Cordoba / Argentinien) befasst sich mit der gegenwärtigen Debatte in Argentinien um das Verhältnis von „transitional justice“ und Strafjustiz, Wahrheit und Gerechtigkeit. So hat die Verfolgung der Verbrechen unter der Militärdiktatur zwar zu einer Zunahme an Gerechtigkeit geführt, nicht aber an Wahrheit. Es gilt also, die Vorzüge und Genzen der Strafjustiz zu verdeutlichen und beide Phänomene, auch mit Hilfe der Geisteswissenschaften, in einen Ausgleich zueinander zu bringen.

Thiago Dias (São Paulo) schließlich erörtert die Rolle von Kommunikationstechnologien während des Wahlkampfs und bezüglich des überraschenden Wahlsiegs von Jair Bolsonaro 2018. Er stellt fest, dass, so Arendt, die Existenz der Welt als zwischenmenschlichem Raum unverzichtbar von den Phänomenen der Erscheinung und Dinghaftigkeit abhänge. Diese Phänomene werden durch die Macht der Bilder und ihrer Erscheinungsformen verflüssigt, was zu einer neuen Form der Entfremdung der Menschen von der Welt, d.h. der Urteilsfähigkeit, führt.

In der Rubrik Documents werden Beiträge veröffentlicht, die Hannah Arendt zu einer Diskussion im Düsseldorfer Bildungsforum im Mai 1975 beisteuerte. Es ging um die »Legitimität der Lüge in der Politik« anhand vieler Beispiele aus der Zeitgeschichte, etwa Roosevelts Lüge, er wolle die USA nicht in den Krieg gegen Nazi-Deutschland führen; oder Adenauers Lüge, Westbindung der Bundesrepublik und Wiedervereinigung seien miteinander vereinbar. Hannah Arendt aber machte vor allem auf das für die politische Kultur grundsätzliche Problem aufmerksam. Sie hielt fest: Es ist ja gerade eine der ruinösen Folgen des Lügens, dass es das Vertrauen zwischen Menschen zerstört.”

Die Redaktion