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Ausgabe 1, Band 9 – November 2018

 

Rancière und Arendt – eine „Hassliebe“

Ivana Perica: Die privat-öffentliche Achse des Politischen. Das Unverneh­men zwischen Hannah Arendt und Jacques Rancière, Würzburg: Könighausen & Neumann, 2016, 376 S.

 

Ein systematischer Vergleich der Positionen von Arendt und Rancière gehört seit länge­rem zu den wünschenswerten Untersuchungen. Er wird nun von Ivana Perica vorgelegt, die ihn von zwei Schwerpunkten aus vornimmt. Zum einen stellt die Autorin die Dimensi­on des Privat-Öffentlichen in den Mittelpunkt, und zum anderen zeichnet sie den Bedeu­tungswandel dieser Dimension in den letzten Jahrzehnten nach. Dadurch gerät der theo­retische Vergleich in eine ideengeschichtliche Bewegung, durch die sichtbar wird, wie sehr die traditionelle Entgegensetzung von Liberal und Links ins Wanken geraten ist und die vermeintlich liberale Arendt zunehmend als Linke sowie der linke Rancière zuneh­mend als Liberaler wahrgenommen wird. Perica zeichnet die sich verschiebenden Diskur­se in der deutschen und der französischen Literatur nach: von Habermas über Bauman, Agamben, Virno, Hardt und Negri auf der einen Seite und die von Perica als schwach be­zeichnete Tradition politischen Denkens in Frankreich auf der anderen Seite, wo ein phi­losophischer, nicht ökonomiekritischer, Marxismus, Strukturalismus und Poststruktura­lismus vorherrschten. Was die „privat-öffentliche Achse des Politischen“ betrifft, so be­schreibt die Autorin eine ehedem vorherrschende Spaltung zwischen einer liberalen Un­terscheidung von Privat und Öffentlich einerseits und einer marxistischen Liberalismus­kritik andererseits, die das Private politisierte und das Öffentliche seiner pluralistischen Offenheit beraubte. Diese Spaltung wurde mit der Wiederzulassung der Dichotomie von Privat und Öffentlich durch Autoren wie Demirovic und Mouffe/Laclau überwunden. Da­mit wurde zugleich der Blick auf den Raum des politischen Handelns frei.

So erhält die Untersuchung durch die Beschreibung der diskursiven Veränderungen eine seltene Lebendigkeit, die noch durch die Beschreibung der Lesart Arendts durch Rancière vermehrt wird. Denn das im Titel der Schrift erwähnte Unvernehmen zwischen Rancière und Arendt entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als eine „Hassliebe“, die uns auch im Verhältnis Rancières zu Althusser begegnet ist. Das Unvernehmen ist also eigent­lich ein starkes, aber verborgenes Einvernehmen, dem zugleich aber auch eine nicht sehr gründliche Zurkenntnisnahme der Gedanken Arendts zu Grunde liegt.

In drei Kapiteln wird zunächst die schwierige Verortung von Arendts und Rancières politischer Theorie vorgenommen, dann die Grenze zwischen Privat und Öffentlich als eine in Ranciéres Sicht ästhetische Grenze bestimmt und schließlich die von Rancière be­tonte Rolle der Pädagogik im Sinne der Bildung und Ermächtigung diskutiert. Rancière orientiert sich in all diesen Aspekten an Arendtschen Themen. Dabei aber wird der Unter­schied zwischen ihm und Arendt deutlich: Er geht in der Tradition einer Gesellschaftsver­änderung von einer evolutionären gesellschaftlich-politischen Entwicklung aus und ist an bürgerschaftlichen Reformen interessiert, während Arendt als Theoretikerin republika­nisch-politischen Denkens die Bedingungen der Freiheit in den Vordergrund stellt, das Handeln auf der Grundlage einer unvorhersehbaren Spontaneität und die institutionelle Gründung der Freiheit, Bedingungen, die immer wieder erkämpft werden müssen. Arendts damit verbundene denkerische Radikalität wird von Rancière abgelehnt, so wenn er Arendts Unterscheidung zwischen sprachlosem Arbeiten und sprachfertigem Handeln als parapolitische Philosophie zurückweist, das Gesellschaftliche als Ort der Inklusion und Partizipation definiert und nicht in der Definition Arendts als Sphäre des Sozialen von Interessen und Vorurteilen und er sich nicht wie Arendt um die Institutionalisierung von Macht sorgt. Auch bei den Schwerpunkten Ästhetik und Pädagogik knüpft Rancière zwar an Arendts ästhetischem Urteil und ihren Auffassungen zu Bildung und Erziehung an, um dann zugleich ihre Positionen durch Versöhnung der öffentlichen mit der privaten Sphäre abzuwandeln. Im Unterschied zu Arendt, die zur Orientierung in der Welt den Gebrauch des ästhetischen Urteilens im Sinne Kants als reflexives politisches Urteilen vorschlägt, setzt Rancière auf die öffentliche Rolle von Kunst und Künstler. Damit stellt er zugleich der rationalistischen Tradition mit Kant seine eigene Position in der sensualistischen Tradition mit Schiller gegenüber, wobei er allerdings eine Form von Sensualismus und politischer Psychologie bei Arendt übersieht, die zum Beispiel in ihrem Statement, dass sie den Totalitarismus nicht sine ira et studio analysieren konnte, oder in ihrer Beschreibung der Lust des Handelns oder der emanzipatorischen Kraft des Lachens aufscheint.

Im Verlauf dieser Studie wird sichtbar, dass es sich bei Rancières Lesart von Arendts Werk nicht um einen kritischen Dialog handelt, sondern um eine stillschweigende Über­nahme und Anpassung von Begriffen und Konzepten an das eigene Denken. Es bleibt ein „Unvernehmen“ aufgrund der eigenen, ganz anderen Erfahrungswelt: Arendts Erfahrung des Zusammenbruchs von Tradition und Welt und ihre Suche nach dem weltschaffenden Potential des Handelns und Urteilens und den Bedingungen ihrer notwendigen Institutio­nalisierung entsprechen nicht der des 34 Jahre jüngeren Rancière. Dieser setzt in der noch prosperierenden westeuropäischen Nachkriegsordnung auf die Erweiterung der politischen Partizipation, die Verbindung von Politik und Kunst und auf neu entstehende Formen eines Bildungshumanismus in einer nicht mehr hinterfragten liberalen Gesell­schaft.

Wolfgang Heuer