Ausgabe 1, Band 9 – November 2018
Dichtung und Wahrheit
Anne Bertheau: „Das Mädchen aus der Fremde“: Hannah Arendt und die Dichtung. Rezeption – Reflexion – Produktion. Bielefeld: Transcript, 2016. 412 Seiten.
Die Leitidee der vorliegenden Studie ist, diesen und ähnlichen Selbstaussagen zu folgen, wobei willentlich darauf verzichtet wird, das „Gedankensystem eines anderen Denkers auf Arendts offenes ‚Denken ohne Geländer‘ zu stülpen“ (S. 21). Die Monografie vermittelt zwischen einer diesen Selbstaussagen nachempfundenen ‚Arendt’schen Erzähltheorie‘, Arendts eigenem Lyrikverständnis und der hermeneutischen Deutung der von ihr gedichteten Lyrik. Das Buch teilt sich somit in drei Teile: Der erste Teil geht Arendts innerem Verhältnis zu Dichtern von Johann Wolfgang Goethe bis Ingeborg Bachmann, wie auch ihren konkreten Kontakten mit deutschsprachigen Schriftstellern nach; der zweite behandelt ihre theoretischen Überlegungen zu Dichtung; während der dritte Analysen von Arendts ausgewählten Gedichten bietet. Mit anderen Worten, indem sie die „Rezeption von deutschsprachigen Dichtern“ einerseits und „ihre theoretischen Äußerungen über Dichtung“ (S. 24) andererseits mit Analysen von Arendts eigenen Gedichten erweitert und vervollständigt, geht die Monografie über die zwei tradierten Zugangsweisen zum Thema ‚Arendt und Dichtung‘ hinaus.
Dem Ersten Teil (wie auch dem Zweiten und Dritten) sind kleine zusammenfassende Kapitel angehängt, in denen die Hauptthesen und wichtigsten Bemerkungen nochmals skizzenhaft dargelegt werden. Arendts Rezeption der ausgesuchten Dichter teilt Bertheau schlussfolgernd in folgende Einzelaspekte ein: „das Umkreisen einer Transzendenz, kosmologische Vorstellungen in der Lyrik Goethes, Hölderlins und Rilkes“; „Lyrik als poetisches Engagement“ bei Heine, Kafka und Brecht; „Dichtung als bevorzugter Ausdruck der Liebe“ in den Gedichten Goethes, Rilkes und Brechts (S. 82). In diesem Zusammenhang merkt Bertheau doch an, dass – obwohl hier thematische Schwerpunktsetzungen in den Vordergrund gerückt werden – es analytisch gewichtig ist, diese ‚Kriterien‘ nicht als den einzigen Wertmaßstab zu betrachten: „So müsse ein fortdauernder Ausgleich ästhetischer und ethischer Kriterien im Schaffensprozess am Werke sein.“ (S. 85) Bereits im darauffolgenden Satz wird aber dieser ‚Ausgleich‘ zugunsten der Ethik zurechtgerückt, sodass letztendlich die Frage offen bleibt, wie viel Ethik laut Arendt erwünscht bzw. zugelassen sei, bevor das Werk dem Kitsch anheimfällt: „Vor der Ästhetik steht jedoch für Arendt Ethik und diese wird durch Realitätsbezug und Gesellschaftskritik definiert.“ (S. 85)
Im Zweiten Teil, der meines Erachtens das argumentative Scharnier des Buches abgibt, ist die Autorin um die Herausarbeitung einer Arendt’schen Erzähltheorie bemüht. In Arendts Äußerungen zu Sprache und Dichtung erkennt Bertheau zwei Modelle, „zwei Stränge“ (S. 133): zunächst Sprache als Kommunikations- und Verständlichungsmedium, dem eine wichtige Handlungsfunktion innewohnt (Abschnitt „Sprache als Kommunikation“, S. 143-162), dann auch Sprache in ihrem Bezug zum poetischen Denken oder zur Dichtung (Abschnitt „Sprache als Metapher“, S. 163-196).
Der Auffassung von Sprache als Kommunikations- und Verständlichungsmedium liegt die Erfahrung der politischen Entwicklungen der Zwischenkriegszeit, die in den Zweiten Weltkrieg mündeten, zugrunde; diesen gegenüber richtet sich Arendt im Wesentlichen danach, „was Politik positiv bewirken sollte“ (S. 144). Entgegen der „Stummheit der Gewalt“ besteht sie auf einer „differenzierten Kommunikation“, in der es nicht bloß um Meinungen geht (S. 144). „Im Austausch von Meinungen finden meist Monologe statt, die Personen sprechen aneinander vorbei, weil unter dem Begriff jeder etwas anderes versteht. In der differenzierten Kommunikation dagegen geht es um einen Austausch von Fakten.“ (S. 144) Arendts Kritik an der Verwendung von Sprache und Literatur behufs der Mittel-Zweck-Politik bringt Bertheau mit folgenden Worten zum Ausdruck: „Nichtkommunikative Sprache ist die Sprache der Krisenzeiten, wenn das Sprechen bloßes Gerede wird, ein Mittel zur Erreichung des Zwecks: um dem Feind Sand in die Augen zu streuen oder sich an der eigenen Propaganda zu berauschen. Bücher können so als Waffen konzipiert werden und gehören zum Betätigungsfeld der Gewalt.“ (S. 145) „[D]ass es auf Wahrheit ankomme und nicht auf Weltanschauungen“ (S. 148), hat Arendt bei Karl Jaspers gelernt. „Um jedoch zur Wahrheit zu finden, seien Gespräche notwendig, die auf echter Kommunikation beruhen.“ (S. 148) Die Sprache ist demzufolge Garantie, Bürgschaft für ein jasperianisches, aber keinswegs heideggerianisches „Mitsein“ (S. 152).
Zum Ausgangspunkt des Abschnitts „Sprache als Metapher“ nimmt Bertheau Arendts Grundannahme, die Sprache sei von Grund aus metaphorisch: die Sprache behandelt Sachverhalte, die zunächst als Sinneserfahrungen erlebt werden, um sie dann in den Bereich des Sprechens – der Philosophie und der Dichtung – zu übertragen (S. 168). In diesem Sinne ist auch Arendts Bemerkung zu deuten, wonach selbst das Denken einen sinnlichen Ursprung hat; mit Sprache wird das sinnlich Erfahrbare und Erfahrene auf eine andere Ebene gehoben. Hier macht sich zweifelsohne die Kantianerin Arendt sichtbar: die Sprache sorgt für die ‚Liberation‘ d.h. für die Befreiung von den unmittelbaren sinnlichen Erfahrungen des Körpers, von den impulsartigen Affekten. Mit anderen Worten, da Erfahrungen sprachlich grundsätzlich „niemals vollständig wiedergebbar“ sind (S. 169), müssen sie sowohl in der Philosophie wie auch in der Dichtung „aufgetaut“ werden. Nur so kann man „ihre ursprüngliche Bedeutung“ begreifen. Kurzum, nicht nur die Philosophie arbeitet mit ins Abstrakte transponierten Erlebnissen des Körpers, selbst die Dichtung ist das Resultat eines ähnlichen metapherein: „Die Metapher als Bild ist eine Möglichkeit, die Reduziertheit der Sprache zu erweitern.“ (S. 169) In diesem Sinne ist auch Arendts im Ersten Teil angebrachte Beobachtung zu verstehen, wonach Kafkas Texte „eine eigenschaftslose Abstraktheit, eine Konstruktion von Modellen, einen Grundriss der Welt“ schaffen (S. 60).
So vereinigen sich zwei Wahrheitsmodelle, eines der Sprache als Kommunikation und eines der Sprache als Metapher; zusammen fügen sie sich zu einem einheitlichen Ganzen zusammen. Während die Sprache als Kommunikation „diesseitsbezogen“ ist und sich „über den Umgang mit den Mitmenschen“ definiert (S. 197), betrifft die Sprache als Metapher ausschließlich „das Innenleben des Menschen“: da sowohl Emotionen als auch „gedankliche metaphysische Spekulationen“ (S. 197) grundsätzlich unsichtbar sind, bedürfen sie des metapherein, der Übertragung in das „vernünftige“ Inter-esse der Menschen. Parallel zu diesem Übertragungsprozess ereignet sich, so würde man arendtianisch vervollständigen, die Ersetzung der Kategorie ‚Mensch‘ durch die Pluralität ‚Menschen‘.
Hiermit ist auch Arendts Auseinandersetzung mit Heidegger angekündigt, die im nachstehenden Abschnitt („Zeitliche Dimension der Dichtung“, S. 199-273) thematisiert wird. Bertheau rekurriert auf die „Theorie der Narration“, wie sie in Vita activa entwickelt wird. Die Narration wird von Bertheau im engen Zusammenhang mit einer „Theorie der Kreation“ (S. 199) erläutert, mit welcher der sich außerhalb von Zeit und Raum ereignende, „kreative[] Akt“ (S. 243) des Denkens gemeint ist. Hier bleibt jedoch ungeklärt, wieso die Autorin Bezeichnungen „Narration“ und „Kreation“ (S. 208) verwendet, wo Arendt von Erzählkunst und Denken sprach. Sind dies Einflüsse der kognitionstheoretischen Debatten oder sind sie der etwas ungeschickten Übersetzung aus dem Französischen zu verdanken? Eine detailliertere Bemühung um diese Begriffe wäre an dieser Stelle notwendig gewesen.
Philologische Analysen stricto sensu setzen im Dritten Teil ein. Hannah Arendt war bekanntlich keine Berufslyrikerin, so wie sie auch als keine Berufsphilosophin angesehen werden wollte (S. 271). In diesem Sinne gehören die in diesem Teil besprochenen Gedichte nicht zum Kanon von Arendts intellektueller Hinterlassenschaft, sondern sie werden hauptsächlich als Begleitstücke zu den theoretischen und historiografischen Hauptwerken betrachtet. Es wird jedoch das Bestreben geäußert, dass diese Gedichte, die inzwischen bei Piper veröffentlicht sind, nicht mehr „unter biographischem Blickwinkel interpretiert werden“, sondern „als Teil ihres Werks“ (S. 271). Gerade dies ist die Intention des Dritten Teils. In dieser Hinsicht ist auch die Warnung gelegen, diese Gedichte von „einer urteilsfreudigen Nachwelt“ nicht als „Gegenstand empört-voyeuristischer oder subtiler Spekulationen über eine angeblich Heidegger-affine denkweise Hannah Arendts“ zu lesen (S. 271). An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass es – ungeachtet des vielleicht gewagten Buchtitels – Anne Beartheaus Monografie durchaus gelungen ist, jeglicher Spur von Sentimentalität, die ähnliche Projekte häufig heimsucht, zu entgehen.
Bertheau greift nach im Manuskript des Denktagebuchs enthaltenen Gedichten: da sie Arendt in ihrem Denktagebuch-Register nicht verzeichnete, verzichteten Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, die Herausgeber des Denktagebuchs, auf ihre Veröffentlichung. Dieses lyrische Opus teilt Bertheau in drei thematische Zyklen ein: Emigrationslyrik, Liebeslyrik (Liebe für den Menschen und die Welt), Gedankenlyrik (S. 270).
Die Emigrationsgedichte werden auf konkrete Lebenserfahrungen zurückbezogen. So entdeckt Bertheau im beeindruckenden Gedicht „Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind“, welches in Arendts erster Nachkriegserwartung einen Wendepunkt signalisieren könnte, „eine kathartische, befreiende Wirkung“ (S. 283): „Die moralische Verkommenheit der Deutschen konnte nur durch Zerstörung zu einem Ausgleich führen[.]“ (S. 283) Dies ist aber weder defätistisch noch nihilistisch zu verstehen. Pace Brecht (S. 284) und contra Adorno (S. 285) besteht Arendt auf zukunftsgewandtem, nahezu optimistischem Gedankengut; ihre Grundaussage ist wesentlich anders als Brechts Feststellung „nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes“ (S. 284), anders auch als Adornos Spruch, die einzig mögliche Reaktion auf die Zerstörung sei das „Schweigen“ (S. 285). Paradoxerweise rührt diese Zukunftsgewandtheit von der Gewissheit, dass es keine Gewissheit mehr geben kann, nachdem die Welt ‚aus den Fugen‘ geraten ist.
Im Gegensatz zu den Emigrationsgedichten speist die Gedankenlyrik ihre Kraft aus dem philosophischen Staunen, aus der Bemühung, „den Sinn des Erlebten begreifen zu wollen“ (S. 321). Der Sinn der Lyrik wird in diesem Zusammenhang als die Verdichtung des Gedachten, „das Setzen eines Sinns“ (S. 344) gedeutet, was zugleich auf Arendts eigenes Verständnis der lyrischen Produktion überhaupt zutrifft: denn ihre Lyrik geht weit über die „verarbeitende Erlebnislyrik“ hinaus, dabei „immer auch einen philosophisch fundierten Hintergrund“ besitzend (S. 378).
Abschließend ist zu wiederholen, dass über die wertvollen Analysen von Arendts Lyrik hinaus Anne Bertheaus Monografie schlüssige Überlegungen zum Verhältnis von ‚Dichtung und Wahrheit‘, sprich zu Arendts großer Gewichtung des ethischen Gehalts der Dichtung enthält. Dies ist umso interessanter, als viele von Arendts Zeitgenossen die Dichtung bzw. Literatur vom ähnlichen Standpunkt ihrer ethischen Gehaltigkeit und der politischen Reichweite betrachteten. Man kann nur wünschen, dass weitere Publikationen zu diesem Themenfeld Arendts Vorliebe für das ‚Ereignishafte‘ der Erzählkunst und das ‚Verdichtende‘ der Dichtung, mitsamt ihrer „radikale[n] Absage an den ‚Bovarismus‘“ (S. 231) im Kontext der ethischen, politischen Erwartungen, die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten, aber auch in der Zwischenkriegszeit formuliert wurden, positionieren.
Dr. phil. Ivana Perica
Lektorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien
1 Auf Arendts berühmte Aussagen zu Deutschland, Heimat und Dichtung wird im Zweiten Teil hingewiesen: „Im Deutschen kenne ich einen ziemlich großen Teil deutscher Gedichte auswendig. Die bewegen sich da immer irgendwie im Hinterkopf – in the back of my mind –; das ist natürlich nie wieder zu erreichen. […] Die deutsche Sprache jedenfalls ist das Wesentliche, das geblieben ist und was ich auch immer bewusst gehalten habe.“ (S. 134) Zit. n. „Fernsehgespräch mit Günter Gaus“ (28.10.1964). Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hg. Ursula Ludz. München, 1996, S. 44-70, hier S. 58.
Des Weiteren: „Für mich ist Deutschland die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung. Für all das muss und kann ich einstehen.“ (S. 135) Zit. n. Hannah Arendt: „Arendt an Jaspers“ (Brief 22, 1.1.1933). Hannah Arendt und Karl Jaspers, Briefwechsel 1926-1969. Hgg. Lotte Köhler und Hans Saner. München, 2001, S. 52.
2 Zum Ersten Teil sei angemerkt, dass er hauptsächlich auf deutschsprachige Dichtung beschränkt bleibt. Liegt der Grund dafür in Arendts eigener Aussage, dass (nebst Fremdsein) die deutsche Sprache die einzige Heimat ist? Obwohl die Autorin auf Barbara Hahns und Marie-Luise Knotts Ausstellungskatalog verweist, in dem Arendts Verhältnis zu ausländischen AutorInnen erfasst wird (Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit. Berlin, 2007), sollte diese Eingrenzung auf deutschsprachige Autorinnen und Autoren dennoch näher begründet werden.
3 Sigrid Weigel: „Hannah Arendts Denktagebuch.“ Text und Kritik: Hannah Arendt. Hg. Heinz Ludwig Arnold. Bd. 166/167. München, 2005, S. 125-137, hier S. 129.
4 Cf. Liliane Weissberg: „Der Staat und die Dichter. Hannah Arendts Reflexionen über eine verborgene Tradition.“ Das Kulturerbe deutschssprachiger Juden: Eine Spurensuche in den Ursprungs-, Transit- und Emigrationsländern. Hg. Elke-Vera Kotowski. Berlin, 2005, S. 113-114.
5 Barbara Schall-Brecht: LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. Box 15/Folder: Sa-Scha miscellaneous 1958-1975, nd. Schall-Brecht, Barabara: Schall-Brecht an Arendt, Berlin 8.6.1969, Blatt 005008.
6 Heinrich Blücher: „Blücher an Arendt“ (NY, 8.3.1950). Hannah Arendt und Heinrich Blücher, Briefe 1936-1968. Hg. Lotte Köhler. München, 1999, S. 227.
7 Weissberg, „Der Staat und die Dichter“, S. 113-114.
8 In einem anderen Zusammenhang macht Bertheau Arendts „pragmatisches Geschichtsverständnis“ stark: vgl. Kapitel „Narration als Erzeugnis der Unvergänglichkeit“, S. 208-237, insbes. S. 217.
9 LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. Box 10/Folder: Da-Di miscellaneous 1959-1973, Demohn, Veronika: Arendt an Demohn, 10.9.1967, Blatt 005739.
10 Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. München, 1998, S. 114.
11 Hannah Arendt: „Wahrheit und Politik.“ Zwischen Vergangenheit und Zukunft. München, 2000, S. 327-379, hier S. 367.