Ausgabe 1, Band 9 – November 2018
„ad Pluralität“
Hannah Arendt
Eine maschinenschriftliche, undatierte Seite bei den Hannah Arendt Papers in der Library of Congress, ursprünglich katalogisiert unter „Speeches and Writings File / Miscellaneous / Loose pages“; sie trägt die Nummer 022858; in der Online-Ausgabe der Hannah Arendt Papers konnte sie nicht gefunden werden.
Die Seite wird hier in einer Abschrift der von mir in der Library of Congress angefertigten Xerokopie veröffentlicht (Unterstreichung im Original). U. Ludz
ad PLURALITÄT
Der Lauf der Welt also ist bestimmt und vorhersehbar nur, wenn man die Tatsache der Geburt, und das ist die ständig mögliche Ankunft von „Neuen“, wie die griechische Sprache die Jungen nannte, und von Neuem, das aus keinem Vorgegebenen und aus keinen Ursachen herleitbar ist, aus ihm ausschaltet. Dies ist zweifellos möglich – wenn auch schwerlich anders als durch Gewalt zu erreichen; und es ist auch fraglos, dass man damit eine Sicherheit im Gegenwärtigen und eine Gewissheit des Zukünftigen erreichen kann, die an sich dem Bereich der menschlichen Angelegenheiten ganz fremd ist. Nur überliefert man dadurch, dass man das in der Existenz des Menschengeschlechts selbst angelegte Prinzip der Erneuerung aus der Welt und den Angelegenheiten der Menschen entfernt, den Lauf der Welt jenem Prinzip der Sterblichkeit, das alles Einzel-Lebendige regiert und auch allem anhaftet, was einzelne Menschen herstellen und vollbringen, sofern es nicht von anderen als sie selbst, eben neu in der Welt erschienenen, vor dem Ruin bewahrt und erneuert wird. Die eigentliche Lebendigkeit der Angelegenheiten des Menschen, das Leben der Welt und ihre Geschichte beginnt nun wirklich dem Einzelleben des Menschen zu gleichen, dem man sie oft bewusst und unbewusst vergleicht und dem sie ursprünglich ganz und gar ungleich ist. Sie beginnt nicht nur einen Anfang zu haben, sondern auch ein Ende, und da wir aus unserer eigensten Erfahrung wissen, dass alles einzeln Lebendige Anfang und Ende hat, scheint uns nichts selbstverständlicher als dass alles was einen Anfang hatte auch ein Ende haben muss. Das Leben eines Volkes jedoch oder einer Nation oder gar des Menschengeschlechts wie die Existenz der Welten, die zwischen den Vielen, die zu einer Gruppe gehören, entsteht, ist, solange es sich durch Geburt erneuert, keineswegs von Natur sterblich, wiewohl auch dies sterben und zugrundegehen kann. Seinem eigenen Wesen nach ist es möglicherweise unsterblich; aber diese potentielle Unsterblichkeit ist gebunden an die Tatsache der Geburt, an die menschliche Natalität, und die mit ihr verbundene und in ihr garantierte Freiheit des Erneuern und des neu Anfangenkönnen.