Ausgabe 1, Band 9 – November 2018
Es „liegt nicht im Jenseits und ist keine Utopie, es ist nicht von gestern und nicht von morgen, es ist von dieser Welt. Vernunft hat es geschaffen und Freiheit regiert in ihm. Es ist nicht zu fixieren und nicht zu organisieren, es reicht in alle Länder der Erde und in all ihre Vergangenheiten, und obwohl es weltlich ist, ist es unsichtbar. Es ist das Reich der ‚humanitas‘, zu dem ein jeder kommen kann aus dem ihm eigenen Ursprung.“ (ebd., 99 f.)
Es gilt, eine Vorstellung davon zu gewinnen, was diesen Raum ausmacht, auf welche Weise er den Anspruch der Pluralität realisiert und welche Bedeutung ihm für Arendts eigenes Denken zukommt. Die abschließende These lautet, dass Arendts Denken und Urteilen in diesem Raum der humanitas zu verorten ist.
I
Als „Vorrecht der Pariavölker“ (ebd., 23) zeichnet sich demnach eine gemeinschaftstiftende Menschlichkeit aus, welcher der Gedanke einer einenden, allen Menschen gemeinsamen Natur zugrunde liegt und die in Anlehnung an das Denken des 18. Jahrhunderts als Brüderlichkeit betitelt wird. In ihrer Schmähung, Verfolgung und Verstoßenheit fliehen die Parias aus der Welt zueinander und finden im Verborgenen eine Wärme, Vitalität und „Freude des schieren Lebendigseins“ (ebd., 24), die einen Ersatz für weltliche Teilhabe und Zugehörigkeit darzustellen vermag. Mit Nachdruck verweist Arendt auf ihren eigenen Erfahrungshintergrund als Jüdin in Zeiten des Nationalsozialismus und unterstreicht die elementare Bedeutung dieser Menschlichkeit für das (Über)Leben der Betroffenen (vgl. ebd., 23, 28 f., 34).
Doch „[d]ies Vorrecht ist teuer bezahlt; ihm entspricht oft ein so radikaler Weltverlust, eine so furchtbare Verkümmerung aller Organe, mit denen wir der Welt zugewandt sind […], daß man in extremen Fällen, in denen das Pariatum über Jahrhunderte angedauert hat, von wirklicher Weltlosigkeit sprechen kann.“ (ebd., 23)
Für sachliche Distanz, offene Kritik und Streit über die Geschehnisse in der Welt ist in dieser beengenden Nähe kein Platz (vgl. ebd., 44). Sie gründet auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner des Verfolgtseins und dem „Haß auf die Welt, in der Menschen ‚unmenschlich‘ behandelt werden“ (ebd., 23). Unterschiedliche Meinungen und Perspektiven – im Sinne der Realisierung zwischenmenschlicher Pluralität – gibt es in diesem gemeinsamen Zufluchtsort nicht und so ist hier gerade dasjenige Gespräch unmöglich, welches die Menschlichkeit im zweiten Sinne charakterisiert, im Sinne von Lessings Begriff der Freundschaft (vgl. ebd., 37).
„Im Gespräch manifestiert sich die politische Bedeutung der Freundschaft und der ihr eigentümlichen Menschlichkeit, weil dies Gespräch [...] der gemeinsamen Welt gilt, die in einem ganz präzisen Sinne unmenschlich bleibt, wenn sie nicht dauernd von Menschen besprochen wird.“ (ebd., 37)
II
III
Fassen wir an dieser Stelle die bisherigen Ergebnisse zusammen und verschaffen uns so eine Vorstellung von diesem Raum:
(a) Er ist bewohnt von Menschen aller Zeiten und Kontinente, von geistigen Gesprächspartnern, die hier nicht in einem chronologischen Nacheinander, sondern neben- und miteinander zu Wort kommen. Bei Karl Jaspers sind dies „die großen Philosophen“ (Arendt 2013a, 99; vgl. Jaspers 1981). „[I]m Unterschied zu den Gesprächen der Intimität, in welchen individuelle Seelen über sich selbst sprechen“ (Arendt 2013a, 37), wird hier über weltliche Dinge diskutiert, die zwischen den Menschen liegen und geschehen, sodass diesem geistigen Raum der Blick auf die Welt eingeschrieben ist. In einer derart pluralistischen und heterogenen Versammlung ist Dissens wohl an der Tagesordnung, ja er ist die konstitutive, treibende Kraft für den Meinungsaustausch und die Urteilsbildung, die hier statthat. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten, die über das sich Darbietende geäußert werden, gibt es jedoch einen allem Austausch zugrundeliegenden, ihn erst ermöglichenden Konsens, und das ist die freundschaftliche Haltung der Menschlichkeit. Dies grundlegende Charakteristikum des angepriesenen geistigen Raumes bedeutet, dass seine Bewohner eine kategorische Offenheit mitbringen, Rede und Antwort zu stehen, zuzuhören und nicht ihre subjektiven, religiösen oder ideologischen Wertmaßstäbe bei der Urteilsbildung anzulegen, sondern allein dem Gültigkeit zuzusprechen, was in diesem Raum vor allen Bestand hat. Nur was im Gespräch kommuniziert, verstanden und anerkannt werden kann, was dieser „Helle standhält, gehört hier zur humanitas“ (Arendt 2013a, 94).
Ex negativo wird hierdurch jedoch auch der exklusive Charakter dieses Raumes deutlich, denn es zeigt sich, was dieser ‚Helle nicht standhält‘, welche Gesprächsinhalte, Einstellungen und Grundhaltungen bei der gemeinsamen Meinungs- und Urteilsbildung unter den freundschaftlichen Bedingungen der Menschlichkeit keinen Platz haben. Dies betrifft jegliche Form von ideologischem Denken und unhinterfragbare Normen ebenso wie rein private Interessen. Erscheint dies im Kontext einer ihrem Selbstverständnis nach aufgeklärten und säkularisierten westlichen Welt als offen, liberal und legitim, so stellt sich der voraussetzungsreiche Charakter dieser ‚Gesprächsbedingungen‘ doch als ausschließend bzw. problematisch heraus. Die Multiperspektivität und Pluralität der Meinungen, die dieser Raum bereithält und die in ihm frei und rückhaltlos diskutiert werden können, ist begrenzt durch die Modi des Urteils und die Ansprüche freundschaftlicher Menschlichkeit, die in diesem geistigen Raum gelten. Positionen, die nicht kritisch auf ihre letzte Normgrundlage hin befragt werden dürfen, haben hier keinen Platz und können sich in den Diskussionen der Urteilenden nicht behaupten. Die Begrenzung ist hier zugleich die Ermöglichungsbedingung, die gemeinsame normative Basis ist nicht nur Exklusion nach außen, sondern auch die Grundlage der freiheitlich-pluralistischen Gespräche nach innen.
(b) Offenkundig hat der Raum der humanitas keine materielle Realität, wie etwa Küche, Bad, Schlafzimmer, Agora und Pnyx. Es handelt sich auch nicht um eine hinter der ‚Erscheinungswelt‘ befindliche Sphäre, einen vermeintlichen Bereich ‚eigentlichen Seins‘. In dererlei ‚Zwei-Welten-Theorien‘ erkennt Arendt einen der „ältesten und hartnäckigsten metaphysischen Irrtümer“ (Arendt 2012a, 35), dem sie erkenntnistheoretisch wie normativ das Primat der zwischenmenschlichen, hör- und sichtbaren Welt der Erscheinungen entgegenhält (vgl. Arendt 1985, 86–96; Arendt 2012a, 33–62). Was macht diesen Raum also zum Raum? Welche Art von Räumlichkeit ist ihm zuzusprechen?
In einigen in besonderer Weise erläuterungsbedürftigen Sätzen bezeichnet Arendt ihn als einen Raum „in des Wortes buchstäblicher Bedeutung“ (Arendt 2013a, 98):
„[E]r ist [Jaspersʼ] geistige Heimat, weil er ein Raum in des Wortes buchstäblicher Bedeutung ist, so wie die Denkwege, die seine Philosophie lehrt, Gedankengänge in des Wortes ursprünglicher Bedeutung sind, Gänge nämlich, die einen Raum erschließen. Jaspersʼ Denken ist räumlich, weil es immer auf die Welt und die Menschen in ihr bezogen bleibt; nicht weil es an einen vorhandenen Raum gebunden wäre, sondern umgekehrt, weil seine tiefste Intention ist, einen ‚Raum zu schaffen‘, in welchem die ‚humanitas‘ des Menschen rein und hell erscheinen kann.“ (ebd. 98)
Mit der ‚buchstäblichen Bedeutung‘ rekurriert Arendt auf einen spezifischen Sinn des Wortes ‚Raum‘, der in Grimms historischem Wörterbuch erläutert ist: Das Verb ‚räumen‘ bedeutet u.a. „urbar gemacht, im gegensatze zu rauh, bewachsen“, „frei machen[…] einer wildnis für einen siedelplatz“, sodass unter ‚Raum‘ eben dies Urbar- bzw. Freigemachte verstanden werden kann. Zudem – und auch dieser Aspekt der ursprünglichen Wortbedeutung ist hier von Relevanz – wird der Begriff übertragen „auf jede stätte […], die gelegenheit zur entfaltung einer thätigkeit für einen Zweck bietet“ (Grimm/Grimm 1984, Sp. 276), er bezeichnet auch die „gelegenheit zu wirken“ selbst (Grimm/Grimm 1984, Sp. 277).
Sind Jaspersʼ Gedanken „Gänge, die einen Raum erschließen“ (Arendt 2013a, 98), ist es „seine tiefste Intention, einen Raum zu schaffen“ (ebd., 98), so bedeutet dies mit Blick auf die angegebene Wortbedeutung, dass es Jaspers gelingt, einen Bereich menschlicher Innerlichkeit zu ‚roden‘, zu erschließen, die Möglichkeit zu eröffnen, sich hier geistig aufzuhalten, hier ‚zu siedeln‘. Und mehr noch: indem er die zunächst noch unbewohnte ‚Wildnis‘ mit Gedankengängen durchzieht und sie so zum Raum macht, stellt er die Möglichkeit bereit, in diesem Raum urteilend tätig zu sein. Ein (geistiger) Raum zeichnet sich demnach dadurch aus, dass er durch (geistiges) Tätigsein erschlossen, belebt und aktiv gestaltet werden kann. Zudem hält er (analog zur weltlichen Sphäre der Öffentlichkeit) die Möglichkeit bereit, Menschen und Meinungen in Erscheinung treten zu lassen und bietet so die „gelegenheit zu wirken“ (Grimm/Grimm 1984, Sp. 277).
IV
Die abschließende These – der Ort, von welchem aus Hannah Arendt selbst denkt und urteilt ist eben dieser Raum der humanitas – ergibt sich nicht allein aus den vorstehenden Analysen. Vielmehr rekurriert sie auch auf die Schilderungen von Karl Jaspers und dessen Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Art des Denkens.
Im alltäglichen Zusammensein und Kommunizieren findet sich Jaspers zufolge jeder Mensch in Abhängigkeiten des Denkens und Handelns vor:
Eine solche gemeinsame Wahrheitssuche ist nur unter spezifischen Bedingungen im Modus eines unabhängigen Denkens und – in auffälliger Nähe zum Arendtschen Gedanken – auch bei Jaspers allein an einem bestimmten ‚Ort‘ möglich. Die Beschreibung dieses Ortes unabhängigen Denkens liest sich wie ein kontrastierender Gegenentwurf zu alltäglichen Daseins- und Verhaltensweisen. Er ist der
Die ‚hohen Maßstäbe‘ erscheinen als eben jene Ansprüche, welche Jaspers’ intersubjektiver Wahrheitsbegriff und mit ihm die gemeinsame Wahrheitssuche mit sich bringen: ein Absehen von ideologischem Denken, von gesellschaftlichen Unterschieden und privaten Interessen sowie eine grundlegende geistige Wachheit und Offenheit anderen Positionen gegenüber. Die sich hierbei auftuenden ‚Wirklichkeiten‘ werden von Jaspers aus gutem Grund im Plural angesprochen, denn es scheinen im Gespräch stattfindende existenzielle Erfahrungen seiner selbst und der anderen zu sein, welche er hierbei im Blick hat. Sie zeichnen sich jeweils durch ihre Einzigartigkeit aus (vgl. Jaspers 1973, 219). Dieser sich je situativ gemeinsam auftuende Erfahrungshorizont wird zu einer ‚Wirklichkeit‘, die dann im Hintergrund unserer Welt- und Selbstwahrnehmung steht. Sie wird selbst zum Anhaltspunkt und Maßstab für alles weitere Denken und Handeln.
Literatur
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Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. Hg. von Ronald Beiner. München/Zürich 1985.
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Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München/Zürich 42006.
Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hg. von Ursula Ludz. München/Zürich 32007.
Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. Hg. von Mary McCarthy. München/Zürich 52012a.
Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hg. von Ursula Ludz. München/Zürich 2012b.
Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten. Hg. von Ursula Ludz. München/Zürich 22013a.
Arendt, Hannah: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays. München/Zürich 2013b.
Beiner, Ronald: „Hannah Arendt über das Urteilen“. In: ders. (Hg.): Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. München/Zürich 1985, 155–197.
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Biskowski, Lawrence J.: „Practical Foundations for Political Judgment: Arendt on Action and World“. In: The Journal of Politics 55. Jg., 4 (1993), 867–887.
DeCaroli, Steven: „A Capacity for Agreement: Hannah Arendt and the Critique of Judgment“. In: Social Theory and Practice 33. Jg., 3 (2007), 361–386.
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Band 14. München 1984.
Hermenau, Frank: Urteilskraft als politisches Vermögen. Zu Hannah Arendts Theorie der Urteilskraft. Lüneburg 1999.
Heuer, Wolfgang: Citizen. Persönliche Integrität und politisches Handeln. Eine Rekonstruktion des politischen Humanismus Hannah Arendts. Berlin 1992.
Hügli, Anton/Kaegi, Dominic/Wiehl, Reiner (Hg.): Einsamkeit – Kommunikation – Öffentlichkeit. Basel 2004.
Jaeggi, Rahel: Welt und Person. Zum anthropologischen Hintergrund der Gesellschaftskritik Hannah Arendts. Berlin 1997.
Jaspers, Karl: Philosophie II. Existenzerhellung. Berlin/Heidelberg/New York 41973.
Jaspers, Karl: Die großen Philosophen. Die massgebenden Menschen: Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus. Hg. von Hans Saner. München 31981.
Jaspers, Karl: Psychologie der Weltanschauungen. München/Zürich 1985.
Jaspers, Karl: „Einsamkeit (Nachlassmanuskript)“. In: Jahrbuch der Österreichischen Karl-Jaspers-Gesellschaft 1. Jg. (1988), 32–52.
Jaspers, Karl: Von der Wahrheit. München/Zürich 41991.
Jaspers, Karl: Manuskripte und Materialen des Buchprojektes ‚Vom unabhängigen Denken. Hannah Arendt und ihre Kritiker‘ (ca. 1963–1969). Zugänglich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach.
Kant, Immanuel: Werkausgabe Bd. X. Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974.
Kurbacher, Frauke Annegret: „Was ist Haltung? Philosophische Verortung von Gefühlen als kritische Sondierung des Subjektbegriffs“. In: theomag. Magazin für Theologie und Ästhetik 43. Jg. (2006). https://www.theomag.de/43/fk6.htm (24.08.2017).
Kurbacher, Frauke Annegret: „Das Spätwerk. The Life of Mind / Vom Leben des Geistes“. In: Heuer, Wolfgang/Heiter, Bernd/Rosenmüller, Stefanie (Hg.): Arendt-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, 124–132.
Lambrecht, Lars: „Es ‚dürfen der Wenigen nicht zu wenig sein‘. Vom ‚Geist unbefangener Menschlichkeit‘ zu Hannah Arendt und Karl Jaspers“. In: ZÖSS Discussion Paper 24 (2008), 1–23.
Meints-Stender, Waltraud: Partei ergreifen im Interesse der Welt: Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts. Bielefeld 2011.
Nixon, John: Hannah Arendt and the Politics of Friendship. London (u.a.) 2015.
Pavlik, Jennifer: ‚Uninteressiertes Weltinteresse‘. Über die Ausbildung einer ästhetischen (Denk-)Haltung im Werk Hannah Arendts. Paderborn 2015.
Petuchowski, Elizabeth: „Hannah Arendts ‚Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten‘: A Post-World War II Address“. In: Lessing Yearbook 20. Jg. (1988), 29–43.
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Saner, Hans: „Fragmente aus Karl Jaspersʼ Vom unabhängigen Denken: Hannah Arendt und ihre Kritiker“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für neuere deutsche Literatur 50 (2006), 27–43.
Schulz, Reinhard: „Karl Jaspers und die Wahrheit“. In: Yousefi, Hamid Reza (u.a.) (Hg.): Karl Jaspers. Grundbegriffe seines Denkens. Reinbek 2011, 141–154.
Sigwart, Hans-Jörg: Politische Hermeneutik. Verstehen, Politik und Kritik bei John Dewey und Hannah Arendt. Würzburg 2012.
Spiegel, Irina: Die Urteilskraft bei Hannah Arendt. Berlin/Münster 2011.
Vollrath, Ernst: „Hannah Arendt über Meinung und Urteilskraft“. In: Reif, Adelbert (Hg.): Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk. München/Wien/Zürich 1979, 85–107.
Vowinckel, Annette: Hannah Arendt. Leipzig 2006.
Young-Bruehl, Elisabeth: „Reflections on Hannah Arendtʼs The Life of the Mind“. In: Political Theory 10. Jg., 2 (1982), 277–305.
1 Für die vielen Kommentare und Anregungen zum vorliegenden Text möchte ich den TeilnehmerInnen des Hannah-Arendt-Workshops 2016 (Berlin) ganz herzlich danken.
*Astrid Hähnlein ist Doktorandin an der der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Professur für Politische Philosophie, Theorie und Ideengeschichte (Arbeitstitel der Dissertation: Situatives Denken bei Hannah Arendt und Karl Jaspers).
2 Die Termini ‚Standpunkt‘, ‚Ort‘ und ‚Raum‘ stehen hier in folgender Weise zueinander in Beziehung: Fokussiert der Ausdruck ‚Standpunkt‘ auf die betreffende Person, die an einem Punkt steht, so bezeichnet der Ausdruck ‚Ort‘ eben diesen Punkt, legt das Augenmerk jedoch nicht auf den Menschen, sondern auf die entsprechende Stelle im Raum. Unter ‚Raum‘ wird hier ein urbar gemachter Bereich verstanden, in welchem menschliches Leben und Tätigsein möglich sind. Vgl. Grimm/Grimm 1984, Sp. 275–283.
3 Das von Jaspers Mitte der 1960er Jahre begonnene Buchprojekt ist als Fragment von 1600 größtenteils handschriftlich verfassten Seiten im Deutschen Literaturarchiv in Marbach einsehbar. Einige Seiten sind 2006 von Hans Saner transkribiert und publiziert worden (vgl. Saner 2006). Für die Möglichkeit der Sichtung des übrigen Materials sowie für die Publikationsgenehmigung für einige Partien gilt Anton Hügli und dem Deutschen Literaturarchiv mein besonderer Dank.
4 Zum Begriff der Haltung und ihrer Bedeutung für das weltliche Tätigsein der Menschen vgl. Kurbacher 2006.
5 Ist Rousseau Arendts Gewährsmann für die Brüderlichkeit, so skizziert sie anhand des griechischen Begriffs der philanthropia, des römischen Terminusʼ humanitas und der Werke Lessings einen Begriff von Menschlichkeit als Freundschaft, vgl. Arendt 2013a, 38.
6 „Being able to choose your company by communicating your choices and wooing the consent of others is, for Arendt, a manifestation of humanitas; humanitas is, so to speak, the trait which underlies the ‚enlarged mentality‘“ (Young-Bruehl 1982, 300); vgl. Kurbacher 2006.
7 Zu Arendts Analysen des Lessingschen Freundschaftsbegriffs vgl. Nixon 2015, Petuchowski 1988; zu Jaspersʼ Kommunikationsbegriff vgl. Arendt 2013a, 101–116.
8 Zum Wahrheitsbegriff, seiner Daseinsberechtigung im Bereich des Politischen und seiner Relevanz im Denken Arendts vgl. Arendt 2013b.
9 Lessing „war froh, daß [...] der echte Ring, wenn es ihn je gegeben haben sollte, verloren gegangen ist, und zwar um der unendlichen Möglichkeiten der Meinungen willen, in denen die Welt zwischen den Menschen besprochen werden kann. Gäbe es den echten Ring, so wäre es um das Gespräch und damit um die Freundschaft und damit um die Menschlichkeit schon getan“ (Arendt 2013a, 39).
10 Zum Humanismusbegriff vgl. Heuer 1992.
11 Da der dritte Part von Vom Leben des Geistes. Das Urteilen ungeschrieben blieb, stellt neben kürzeren Arbeiten der Vorlesungstext Über Kants Politische Philosophie die wesentliche Quelle dar, vgl. Arendt 1985.
12 Erhellende Darstellungen bieten u.a. Beiner 1985; Benhabib 1987; Kurbacher 2011; Meints-Stender 2011; Spiegel 2011 und Vollrath 1979.
13 Zum spezifischen Modus geistigen ‚Alleinseins‘ vgl. Arendt 2012a, 179–192.
14 „Zuschauer gibt es nur in der Mehrzahl. Der Zuschauer ist nicht mit dem Akt, aber immer mit dem Mit-Zuschauer verbunden. Er teilt nicht das Vermögen des Genies, Originalität, mit dem Schaffenden oder das Vermögen der Neuerung mit dem Akteur; aber das Vermögen das ihnen allen gemeinsam ist, ist die Urteilskraft“ (Arendt 1985, 85).
15 „Eine Meinung bilde ich mir, indem ich eine bestimmte Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachte, indem ich mir die Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige und sie somit repräsentiere. Dieser Vergegenwärtigungsprozeß akzeptiert nicht blind bestimmte, mir bekannte, von anderen vertretene Ansichten. Es handelt sich hier weder um Einfühlung noch darum, […] irgendeine Majorität zu ermitteln und sich ihr dann anzuschließen. Vielmehr gilt es […] ohne die eigene Identität aufzugeben, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist, und mir nun von diesem Standort aus eine eigene Meinung zu bilden. Je mehr solcher Standorte ich in meinen eigenen Überlegungen in Rechnung stellen kann, und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle derer wäre, die dort stehen, desto besser ausgebildet ist dieses Vermögen der Einsicht […] und desto qualifizierter wird schließlich das Ergebnis meiner Überlegungen, meine Meinung sein“ (Arendt 2013b, 61 f.); vgl. Beiner 1985, 137; Benhabib 1987, 542–547; DeCaroli 2007, 367 f.; Hermenau 1999, 66 f.
16 „[G]emeint ist ein Platz, von dem aus man sehen, beobachten, Urteile bilden oder, wie Kant selbst sagt, über menschliche Angelegenheiten nachdenken kann“ (Arendt 1985, 61). „Like […] Kant’s sensus communis, the world provides intersubjective criteria for evaluating actions and potential actions. Such criteria are by no means absolute, but they do save us from pure subjectivism and they do provide supplementary moral content to the rather dubious quest for self-disclosure that sometimes seems to ground Arendt’s theory of action“ (Biskowski 1993, 884).
17 „Der Anspruch auf Geltung kann nie weiter reichen als die anderen, an deren Stelle mitgedacht wird. Das Urteil, wie Kant sagt, gilt ‚für jeden Urteilenden überhaupt‘, das heißt aber, es gilt nicht für Leute, die sich am Urteilen nicht beteiligen und der Öffentlichkeit in der die beurteilten Gegenstände erscheinen, nicht präsent sind“ (Arendt 2012b, 298 f.); vgl. Arendt 1985, 53 f.; Arendt 2013b, 47–61; Beiner 1985, 134; Benhabib 1987, 540.
18 Auch Hans-Jörg Sigwart ist in diesem Punkt zuzustimmen: „Das Urteilen hat eine ‚gewisse Allgemeingültigkeit‘ nicht primär deshalb, weil es sich auf alle möglichen Anderen oder etwa auf die abstrakte, regulative Idee eines universal ‚verallgemeinerten‘ Anderen bezieht, sondern weil und insofern in ihm der Anspruch des Urteilenden impliziert ist, sich als Beteiligter an der konkreten Gruppe der ‚präsenten‘ Anderen und zusammen mit diesen Anderen vor dem ‚Gerichtshof der Welt‘ zu verantworten und in diesem Sinne sub specie humanitatis zu urteilen“ (Sigwart 2012, 434).
19 Zu Hannah Arendts Weltgebriff vgl. Jaeggi 1997.
20 Auf den Facettenreichtum von Arendts Weltbegriff ist an dieser Stelle nicht weiter einzugehen. Im Vordergrund steht hier die Charakteristik der Welt als menschlicher Erscheinungsraum, im Sinne einer Bühne. Für eine differenziertere Darstellung vgl. u.a. Jaeggi 1997.
21 Dass die Positionen, die in diesem Raum zur Sprache kommen, sich aus weltlichen Gesprächssituationen, Lektüreerlebnissen etc. speisen, versteht sich und zeichnet sich auch in der Laudatio ab (vgl. Arendt 2013a, 99).
22 Der schwärmerische Ton, in welchem Arendt ihren Freund Karl Jaspers und den Raum der humanitas beschreibt, wäre ohne Frage einer ausführlichen Betrachtung wert. In einer Vielzahl von Wendungen und Metaphern greift sie markante Ausdrücke und Figuren von Jaspers auf (die Lichtmetapher bspw. und den Ausdruck ‚etwas erhellen‘).
23 Auf Ausnahmesituationen (wie bspw. den Zustand körperlichen Schmerzes), die uns ganz auf unsere körperliche Erfahrung zurückwerfen und so der Welt entrücken, weist Arendt hin. Vgl. Arendt 2006, 63.
24 Fragmente aus dem Nachlass von Karl Jaspers (ca. 1963–1969), Kasten 45, Teil 0, ‚Vorwort‘, pag. 1.
25 Zum Jaspersschen Begriff des Gehäuses vgl. Jaspers 1985, 304–326.
26 Die Nähe zum Arendtschen ‚Denken ohne Geländer‘ ist nicht zu übersehen, vgl. Saner 2006, 38.
27 Zudem ist die unabhängige Denkungsart im Sinne der Jaspersschen Philosophie an die Gründung in Transzendenz gebunden, worauf an dieser Stelle jedoch nicht weiter einzugehen ist; zu Jaspers’ Kommunikationsbegriff vgl. Jaspers 1973, 50–148.
28 Fragmente aus dem Nachlass von Karl Jaspers (ca. 1963–1969), Kasten 45, Teil 0, ‚Vorwort‘, pag. 7.
29 Diese Kritik wird von Arendt in ihren berühmten Einlassungen bei Günter Gaus aufgegriffen: „Ich selber wirken? Nein ich will verstehen“ (Arendt 2007, 48).
30 Fragmente aus dem Nachlass von Karl Jaspers (ca. 1963–1969), Kasten 45, Teil 0, ‚Vorwort‘, pag. 7.
31 Zum komplexen Verhältnis von weltlichem und geistigem Gespräch bei Jaspers vgl. Jaspers 1988; Hügli/Kaegi/Wiehl 2004.
32 Fragmente aus dem Nachlass von Karl Jaspers (ca. 1963–1969), Kasten 45, Teil 0, ‚Vorwort‘, pag. 6.
33 Ebd., pag. 5; zu Jaspersʼ Wahrheitsbegriff vgl. Jaspers 1991, 475–600; Schulz 2011; hier zeigt sich dieselbe normative Exklusivität, die bereits bei der Auseinandersetzung mit Arendts humanitas diskutiert wurde, vgl. Abschnitt IIIa.
34 In diesem Charakteristikum scheint sich Jaspers’ unabhängiges Denken vielmehr dem Arendtschen Begriff des Denkens als des Urteilens anzunähern (Arendt 2012a, 171). Jedoch übersähe ein solcher Einwand die klare weltlich-politische Ausrichtung, die Jaspers dem unabhängigen Denken zuspricht. Als Analogon zu Arendts Begriff des Denkens könnte man in mancherlei Hinsicht Jaspersʼ Begriff der Philosophie anführen.
35 Wobei sich natürlich auch Unterschiede finden lassen. Zu nennen ist hier v.a. der transzendentale Rückbezug unabhängigen Denkens bei Jaspers, dem Arendts radikal weltliches Denken gegenübersteht, vgl. Lambrecht 2008.