Ausgabe 1, Band 9 – November 2018
Über die Relevanz des Begriffs der Pluralität für die Philosophie des Politischen von Hannah Arendt besteht kein Dissens. Diskutiert wird aber, in welchem Verhältnis der Begriff der Pluralität und der des Politischen bei Arendt stehen. Margaret Canovan vertritt die These, dass Pluralität „the most distinctive feature of Arendts political thought“ sei (Canovan 1995, 209). Habe Arendt in ihrer Vorlesung zur Geschichte politischen Denkens (1955) darauf aufmerksam gemacht, dass „each of the key political thinkers of the past `has thrown one word into our world, has augmented it by this one word, because he responded rightly and thoughtfully to certain decisively new experiences of his time`“ (Canovan 1995, 280), so gelte dies gerade auch für den Begriff der Pluralität: Er sei Arendts Antwort auf die Erfahrungen ihrer Zeit (Canovan 1995, 281). Ernst Vollrath ist sogar der Auffassung, die „Originalität“ Arendts bestehe in diesem Begriff (Vollrath 2003, 20). Für Dolf Sternberger bildet Pluralität bei Arendt das fundamentale „Konstituens des politischen Bereichs“ (Sternberger 1980, 177). Und auch Richard Bernstein argumentiert in diese Richtung, wenn er schreibt: „Plurality is not so much a permanent state of being as an achievement realized only when individuals act“ (Bernstein 1983, 208; Blättler 2001; Meints 2008; Nordmann 2011; Loidolt 2017). Für Seyla Benhabib wiederum enthält der Begriff Arendts „wahre Antwort auf die Existenzphilosophie, in der sie geschult war, und ihre Antwort auf deren eindrucksvollsten Vertreter Martin Heidegger. Die Entdeckung der menschlichen Pluralität wird Arendt in die Lage versetzen, an den Begriffen des menschlichen Handelns und der menschlichen Identität sowie schließlich auch an der Kategorie der Welt grundlegende Änderungen vorzunehmen“ (Benhabib 1998, 96). Pluralität sei „als grundlegende Kategorie in Hannah Arendts Werk“ zu verstehen und verweise auf die „Bedingungen der Möglichkeit allen politischen Lebens: Weil wir alle derselben Gattung angehören, über Sprache und Vernunft verfügen, beziehungsweise die Fähigkeit des legein, des vernünftigen Versprechens besitzen, können wir miteinander kommunizieren, zusammen eine Welt schaffen oder auch uns gegenseitig vernichten“ (Benhabib 2013a, 309). Seien schließlich noch Sophie Loidolt und Veronica Vasterling erwähnt: Während Loidolt von einer „Phänomenologie der Pluralität“ bei Arendt spricht und die These vertritt, dass Arendts Begriff der Politik und der Pluralität nur vor dem Hintergrund der Phänomenologie zu begreifen sei (Loidolt 2017), spezifiziert Veronica Vasterling Arendts Verständnis von Pluralität als „hermeneutic Phenomenological Approach, der als „anthropological notion in Arendts work“ gelesen werden könne, aber nicht als eine Bestimmung der menschlichen Natur missverstanden werden dürfe: Arendt „rejects the question of human nature as a metphysical inquiry into essence“ (Vasterling 2015,162ff.).
Angesichts einer solchen Vielzahl von Interpretationen wird man kaum behaupten können, dass der Begriff der Pluralität ein Desiderat der Forschung sei. Es fällt allerdings auf, dass der Begriff selten im Kontext von Arendts Hauptwerk dargestellt wird. Ist man aber daran interessiert, mehr über das politische Problem zu erfahren, das dem Begriff der Pluralität zugrunde liegt, nämlich das Problem von Gleichheit und Differenz, dann kommt man um Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft nicht herum. Ohne Bezug auf dieses Schlüsselbuch des 20. Jahrhunderts ist weder der intrinsische Bezug von Pluralität und Politik noch die grundlegende Bedeutung des Begriffs für ihre Philosophie des Politischen wirklich zu verstehen.
Seyla Benhabib hat darauf hingewiesen, dass der Einfluss Heideggers auf das Denkens Arendts ausgerechnet in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft am deutlichsten hervortrete: „Arendts Phänomenologie des Totalitarismus, die von den Begriffen ‚Einsamkeit‘ und ‚Weltlosigkeit‘ beeinflusst wurde, ist Heideggers Sein und Zeit sowohl in ihrer kategorialen Struktur als auch in den speziellen phänomenologischen Beschreibungen verpflichtet“ (Benhabib 1998, 121). Zugleich betont Benhabib, dass Arendt im Unterschied zu Heidegger die Fähigkeit besaß, die phänomenologischen Begriffe für die Analyse geschichtlicher, soziologischer und kultureller Phänomene fruchtbar zu machen (ebd.). Nur deshalb sei ihr in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft eine „beispiellose Synthese von Philosophie und Politik“ gelungen. Mir scheint hingegen, dass es die Kritik an Heideggers Philosophie und die kritische Relektüre des vorbürgerlichen Denkers Montesquieu und die produktive Neuaneignung der Philosophie Kants waren, die Arendt nicht nur den Weg zur der Analyse totaler Herrschaft eröffnete, sondern auch die Konzipierung von Pluralität als politischer Kategorie ermöglichte (Meints-Stender 2009, 2011). Dies will ich in drei Schritten zeigen: Ich werde zunächst (I) kurz an die Differenz im Weltbegriff von Arendt und Heidegger erinnern. Danach werde ich (II) Arendts Konzipierung von Pluralität als politischer Kategorie skizzieren, um schließlich (III, IV und V) die These vom intrinsischen Zusammenhang von Pluralität und Politik zu exponieren.
I. Welt als nicht gegebene, sondern zu erschaffende
Wenn nämlich seit Kant das Wesen des Menschen darin bestand, dass jeder einzelne Mensch die Menschheit repräsentiert und es seit der Französischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte zum Begriff des Menschen gehörte, dass in jedem Einzelnen die Menschheit geschändet oder gewürdigt werden konnte, so ist der Begriff des Selbst der Begriff vom Menschen, in welchem er unabhängig von der Menschheit existieren und niemanden zu repräsentieren braucht als sich selbst – seine eigene Nichtigkeit. (Arendt 1990, 37)
Dass zur Menschenwürde die Anerkennung seiner Mitmenschen oder unserer „Mit-Nationen als Subjekte, als Erbauer von Welten oder Miterbauer einer gemeinsamen Welt“ (Arendt 1999, 21) gehört, formuliert Arendt auch in den Abschließenden Bemerkungen der ersten Ausgabe von Origins of Totalitarianism. Im Unterschied zu Heidegger gilt für Arendt, dass der Menschen sich selbst mit und durch gleichberechtigte Andere die Welt aktiv aneignen muss, um frei zu sein. Deshalb hat der öffentliche Raum für sie eine erkenntnistheoretische und weltkonstituierende Funktion, weil Pluralität des öffentlichen Raums bedarf, um aktiv zum Ausdruck gebracht zu werden. Der öffentliche Raum wird zum epistemologischen Ausgangspunkt ihrer Analyse der totalen Herrschaft:
Angesichts dessen, dass der sogenannte Geist eines Zeitalters sich nirgends greif- und sichtbarer zeigt als in der eigentlichen politischen Sphäre, die durch ihre Öffentlichkeit alles in die allgemeine Sichtbarkeit zwingt, ist anzunehmen, dass wir in der Bestimmung der totalen Herrschaft zugrundeliegenden Erfahrung auch einige Grundzüge der Krise entdecken können, in der wir heute alle und überall leben“.(Arendt 1986, 944f.)
II. Pluralität als Conditio per quam
Die politische Bedeutung von Pluralität läßt sich an ihrer Negation verdeutlichen. Arendt gewinnt den Begriff durch ihre Analyse totaler Herrschaft. Der Terror – nach Arendt das Wesen totaler Herrschaft – zerstöre nicht nur den öffentlich-politischen und den privat-gesellschaftlichen Raum; er zerstöre überhaupt den Raum zwischen den Menschen, d. h. jede Beziehung zwischen ihnen und damit sie selbst. Die Konzentrations- und Vernichtungslager begreift Arendt als die „zentrale Institution“ der totalen Herrschaft. In ihnen wurde der ungeheuerliche Versuch unternommen, die menschliche Natur selbst zu transformieren (Arendt 1986, 644), d. h. den Menschen die Fähigkeit zur Spontaneität im Denken und Handeln zu rauben (Arendt 1986, 912). Der fundamentale Anspruch auf totale Beherrschung der Menschen nimmt ihnen das spezifisch Menschliche – die Pluralität. Der Terror „fabriziert dieses Einssein von Menschen, indem er den Lebensraum zwischen den Menschen, der der Raum der Freiheit ist, radikal vernichtet“ (Arendt 1986, 958). Was übrig bleibt, ist der menschliche Zustand absoluter Verlassenheit:
In der Verlassenheit sind Menschen wirklich allein, nämlich verlassen nicht nur von anderen Menschen und der Welt, sondern auch von dem Selbst, das zugleich jedermann in der Einsamkeit sein kann. So sind sie unfähig, den Zwiespalt der Einsamkeit zu realisieren, und unfähig, die eigene, von den anderen nicht mehr bestätigte Identität mit sich selbst aufrechtzuerhalten. In dieser Verlassenheit gehen Selbst und Welt, und das heißt echte Denkfähigkeit und echte Erfahrungsfähigkeit, zugleich zugrunde“ .(Arendt 1986, 977)
Diese These erschließt sich, wenn man sich den Begriff der Pluralität als Einheit von Gleichheit und Differenz als den zentralen Begriff in Arendts Philosophie des Politischen vergegenwärtigt. Arendt verwendet den Begriff schon in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft; (Arendt 1986) systematisch entfaltet wird er aber erst in Vita activa. Pluralität ist für Arendt nicht nur eine conditio sine qua non, sondern auch eine conditio per quam menschlichen Zusammenlebens. Zunächst trägt der Begriff der schlichten Tatsache Rechnung, dass „nicht ein Mensch, sondern viele Menschen […] die Welt bevölkern“ (Arendt 2014, 17). Dabei ist die menschliche Pluralität kein Resultat einer unendlich variierbaren Reproduktion eines Urmodells, sondern beinhaltet, dass zwar „alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, daß keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird“ (ebd.). Arendt bezieht den Begriff der Pluralität sowohl auf das Selbst als auch auf die Welt. In einer Projektbeschreibung für die geplante Introduction into Politics für die Rockefeller Foundation schreibt sie:
In terms of human plurality, there exist two basic modes of being together: to be together with other men and with ones equals from which springs action, and to be together with ones self to which the activity of thinking corresponds. (Arendt 1993, 201)
III. Pluralität und Politik
Die Erfahrung der politischen Verwerfungen ihrer Zeit nötigte Arendt dazu, das Verständnis von Politik einer grundsätzlichen Reflexion zu unterziehen. Neue Verständnisweisen politischen Zusammenlebens müssten als Antwort auf neue Ereignisse gefunden werden. Nicht weniger als eine Reflexion des abendländischen Denkens des Politischen stand ihr vor Augen. Dabei galt ihr Erkenntnisinteresse an der Politik, wie sie dem Verleger Klaus Piper über ein mögliches Buchprojekt schrieb, weder einer „Einführung in die Staatswissenschaft“ noch etwa der „Politik als Wissenschaft“. Vielmehr interessierte sie „eine Einführung in das, was Politik eigentlich ist und mit welchen Grundbedingungen menschlichen Daseins das Politische zu tun hat“ (zit. nach Ludz 1993, 137). Als Bedingungen menschlicher Existenz benennt Arendt „das Leben selbst und die Erde, Natalität und Mortalität, Weltlichkeit und Pluralität“ (Arendt 2014, 21). Diese Conditio humana möchte sie aber nicht als Aussagen über das Wesen des Menschen oder die Natur eines Menschen verstanden wissen, denn „Menschen sind bedingte Wesen, weil ein jegliches, womit sie in Berührung kommen, sich unmittelbar in eine Bedingung ihrer Existenz wandelt“ (Arendt 2014, 18). Menschen sind bedingt nicht nur durch die „irdische Existenz“, sondern auch durch die Bedingungen bedingt, die sie selbst hervorbringen. Arendt erklärt dies wie folgt: „Zwar ist menschliche Bedingtheit in allen ihren Aspekten auf das Politische bezogen, aber die Bedingtheit durch Pluralität steht zu dem, dass es so etwas wie Politik unter Menschen gibt, noch einmal in einem ausgezeichneten Verhältnis; sie ist nicht nur die conditio sine qua non, sondern die conditio per quam“ (Arendt 2014, 17).
Bei allen begrifflichen Bestimmungen hebt Arendt hervor, dass diese nicht willkürlich sind, insofern sie den Phänomenen in der Wirklichkeit entsprechen, dass sie aber „andererseits aus der Wirklichkeit gleichsam herauspräpariert und in begrifflicher Reinheit nur selten in ihr anzutreffen sind“ (Arendt 1994, 47). Ein verschärfter Blick auf politische Phänomene verlange eine Aufmerksamkeit gegenüber der Sprache bzw. der Mitteilung und damit auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Nicht neue Definitionen seien gefordert, sondern Unterscheidungen, die sich dem nähern, was sich in der Wirklichkeit offenbart und ihnen korrespondiert. Genau diese Unfähigkeit, Wirklichkeiten wahrzunehmen, macht sie dafür verantwortlich, dass das Politische nicht nur auf Herrschaft reduziert wird, sondern auch mit einer Naturalisierung und Subjektivierung einhergehe. Zunächst aber unterscheidet Arendt in ihrer Aufsatzsammlung Between Past and Future im Essay „Truth and Politics“ zwischen zwei Formen von Politik: „the lowest level of human affairs“ and „the highest level of human affairs“: „The lowest level of human affairs2 wird bestimmt als ob „the political realm were no more than a battlefield of partial, conflicting interest, where nothing counted but pleasure and profit, partisanship, and the lust for dominion. In short, I have dealt with politics as though I, too, believed that all public affairs were ruled by interest and power, that there would be no political realm at all, if we were not bound to take care of life’s necessities“ (Arendt 1961, 263). Diese Verständnisweise von Politik untergrabe eine andere Dimension des Politischen, nämlich die Erfahrung „of the actual content of political life – of the joy and the gratification that arise out of being in company with our peers, out of acting together and appearing in public, out of inserting ourselves into the world by word and deed, thus acquiring and sustaining our personal identity and beginning something entirely new“ (ebd.). Die Reduzierung des Politischen auf Herrschaft überlagert diese zweite Erfahrung des Politischen, die Arendt in einer Art rettender Kritik begrifflich zu fassen versucht. Galt die Frage des Politischen oder der Politik immer der traditionellen Frage: „Wer herrscht über wen und über wie viele?“, so spürt Arendt Erfahrungen im Politischen nach, in denen „Politik“ „von dem Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen“ (Arendt 1993, 9) handelt. An anderer Stelle heißt es, dass „unter dem Politischen“ ein „Weltbereich“ verstanden werden müsse, „indem Menschen primär als Handelnde auftreten und menschliche Angelegenheiten eine ihnen sonst nicht zukommende Dauerhaftigkeit verleihen“ (Arendt 1993, 15). Oder sie formuliert, dass der „Raum des Politischen“ „durch das Freisein“ entstehe, in dem die Gabe der Freiheit, des Anfangenkönnens, zu einer greifbaren Realität wird“ und „zusammen mit den Geschichten die das Handeln erzeugt“ (Arendt 1994a, 225). „Freiheit“ sei schließlich ohnehin „tatsächlich der Grund, warum Menschen überhaupt politisch organisiert zusammenleben“ (Arendt 1994b, 231).
So die – in gewisser Hinsicht – apodiktischen Bestimmungen des Begriffs von Politik durch Arendt, die verständlicher werden, wenn man sie in Beziehung setzt zu den wirkungsmächtigen Politikbegriffen von Aristoteles und Carl Schmitt, wenngleich diese in verschiedenen Zeiten entwickelt wurden und unterschiedliche gesellschaftspolitische Voraussetzungen haben. Setzt man diese in einen argumentativen Zusammenhang zu Arendts Begriff des Politischen, so scheint es zunächst wichtig, wie Arendt sich dem Phänomen des Politischen überhaupt nähert: Betrachtet man ihre „Rückerinnerungen“ (Arendt 1993, 41) an den traditionellen Begriff der Politik, so kritisiert sie nicht nur die Reduzierung auf Herrschaft sondern auch deren Naturalisierung und Subjektivierung. Sie spricht von der „Aristotelische(n) Subjektivierung“ (Arendt 2002, 26) der Vorstellung, dass der Mensch selbst schon politisch sei. Hatte Aristoteles den Menschen als „zoon politikon“ und als „zoon logon echon“ bestimmt, so kritisiert Arendt die erste, nicht aber die zweite Bestimmung. Es gebe keine Natur oder ein Wesen des Menschen. Menschen sind für sie „bedingte Wesen“ (Arendt 2014, 16). Es „berechtigt uns nichts zu der Annahme, dass der Mensch überhaupt ein Wesen oder eine Natur im gleichen Sinne besitzt wie alle andere Dingen“ (Arendt 2014, 17). Arendt wendet sich gegen eine „essentialisierende Darstellung des Menschen als eines ‚zoon politikon’“ (Jaeggi 1997, 29). „Als ob es im Menschen etwas Politisches gäbe, das zu seiner Essenz gehöre. Dies stimmt gerade nicht; der Mensch ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen. Es gibt daher keine eigentlich politische Substanz“ (Arendt 1993, 11). An die zweite Bestimmung „zoon logon echon“ von Aristoteles knüpft sie jedoch kritisch an. Was ist aber mit dieser Bestimmung gemeint? Aristoteles erklärt es so: „Über die Sprache aber verfügt allein von den Lebewesen der Mensch. Die Stimme nun bedeutet schon ein Anzeichen von Leid und Freude, daher steht sie auch den anderen Lebewesen zu Gebote; ihre Natur ist nämlich bis dahin gelangt, dass sie über die Wahrnehmung von Leid und Freude verfügen und das den anderen auch anzeigen können. Doch die Sprache ist da, um das Nützliche und das Schädliche klarzulegen und in der Folge davon das Gerechte und Ungerechte. Denn das ist im Gegensatz zu den anderen Lebewesen den Menschen eigentümlich, dass nur sie allein über die Wahrnehmung des Guten und des Schlechten, des Gerechten und des Ungerechten und anderer solcher Begriffe verfügen. Und die Gemeinschaft in diesen Begriffen schafft Haus und Staat“ (Aristoteles 1981, 1253a, 10-18). Arendt greift die Bestimmung des zoon logon echon auf, übersetzt diesen Begriff aber weder mit Rationalität oder Vernunft, sondern fokussiert auf die konstitutive Praxis des Sprechens, „die in diesen Begriffen Haus und Staat schaffen“ und erweitert diese Bestimmung durch den Gedanken, dass nicht nur mitgeteilt wird, was als gerecht oder ungerecht, nützlich oder schädlich erscheint, sondern Menschen „in all dem auch immer sich selbst mitteilen“ (Arendt 2014, 164). Damit werden auch die gesellschaftspolitischen Bedingungen, unter denen Menschen leben, unter individuellen Aspekten offenbart.
Im schärfsten Gegensatz zu Arendts Bestimmung von Politik aber steht Carl Schmitts Auffassung, dass das Politische in einer Freund/Feind-Logik bestehe, während sie formuliert, dass das Politische „von dem Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen“ (Arendt 1993, 9) handelt. Weshalb es trotzdem erhellend ist, diese gegensätzlichen Positionen zu erörtern, liegt darin, dass beide eine Autonomie des Politischen vertreten und beide der Auffassung sind, dass der Begriff des Politischen kein Substanzbegriff ist, sondern formal zu bestimmen sei. Beide waren der Auffassung, dass alles zum Gegenstand des Politischen werden kann (Schmitt 1979, 21). Während Schmitt in der Praxis des Eides einen Prüfstein des politischen Charakters erblickt, „dessen wahrer Sinn darin besteht, dass ein Mensch sich ganz einsetzt, oder sich durch einen Treueschwur eidlich (und existenziell) verwandt macht“ (Schmitt 1979, 21f.), ist für Arendt das Recht, Rechte zu haben zunächst die Grundlage die allen Menschen als politisches Grundrecht zukommen muss, um dann nach politischen Prinzipien zu urteilen, wie z.B. nach dem Prinzip einer erweiteren Denkungsart (Kant), das mit dem Konzept der Pluralität als Einheit von Gleichheit und Differenz korrespondiert.
Carl Schmitt begründet seinen Begriff des Politischen wie folgt:
Das Politische hat nämlich seine eigenen Kriterien, die gegenüber den verschiedenen, relativ selbstständigen Sachgebieten menschlichen Denkens und Handelns, insbesondere dem Moralischen, Ästhetischen, Ökonomischen in eigenartiger Weise wirksam werden. Das Politische muss deshalb in eigenen letzten Unterscheidungen liegen, auf die alles im spezifischen Sinne politische Handeln zurückgeführt werden kann. Nehmen wir an, dass auf dem Gebiet des Moralischen die letzten Unterscheidungen Gut und Böse sind; im Ästhetischen Schön und Häßlich; im Ökonomischen Nützlich und Schädlich oder beispielsweise Rentabel und Nicht-Rentabel. Die Frage ist dann, ob es auch eine besondere, aber von ihnen doch unabhängige, selbstständige und als solche ohne weiteres einleuchtende Unterscheidung als einfaches Kriterium des Politischen gibt und worin sie besteht. (...) Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. Sie gibt eine Begriffsbestimmung im Sinne eines Kriteriums, nicht als erschöpfende Definition oder Inhaltsangabe. (...) Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen; sie kann theoretisch und praktisch bestehen, ohne dass gleichzeitig alle jene moralischen, ästhetischen, ökonomischen oder anderen Unterscheidungen zur Anwendung kommen müssten. (Schmitt 1979, 26).
Ich habe diesen Abschnitt so ausführlich zitiert, weil er den Gedankengang von Schmitt erläutert. Setzen wir Arendts Begriff des Politischen zu ebendieser Bestimmung in Beziehung, so kann man sagen, dass Arendts Begriff des Politischen „als das Miteinander- und Zusammensein von Verschiedenen“ ebenfalls beansprucht, eine Autonomie des Politischen gegenüber anderen Gegenstandsbereichen zu benennen; der Begriff ist zugleich auch kein Substanzbegriff im Sinne eines Wesens oder einer Natur des Politischen. Was Arendts Begriff aber im Unterschied zu Schmitts Begriff kennzeichnet, ist das Faktum der Pluralität als Einheit von Gleichheit und Differenz, während Carl Schmitt von der Homogenität ausgeht. Während Arendt mit dem Gedanken der Pluralität die Angewiesenheit der Menschen auf ihre Mitmenschen betont, um überhaupt frei sein zu können und folglich Politik und Freiheit in Beziehung setzt, so ist Carl Schmitt der Auffassung, dass es nicht gut ist, „dass der Mensch ohne Feind sei“ (Schmitt 1979, 146).
IV. Pluralität als Konstitutionsprozess lebendiger Macht
V. Politische Kultur als Prinzip der erweiterten Denkungsart
Den Begriff der Pluralität verbindet Arendt mit einer kritischen Aneignung der reflektierenden Urteilskraft von Kant, deren politische Bedeutung darin liegt, dass der Bezug auf die Perspektive Anderer konstitutiv für die eigene Wahrnehmung der Wirklichkeit und damit die Voraussetzung für die politische Urteilsbildung sein soll.
„Wenn es denn richtig ist, dass ein Ding in der Welt des Geschichtlich-Politischen wie in der Welt des Sinnlichen nur dann wirklich ist, wenn es von allen seinen Seiten sich zeigen und wahrgenommen werden kann, dann bedarf es immer einer Pluralität von Menschen oder Völkern und einer Pluralität von Standorten, um Wirklichkeit überhaupt möglich zu machen und ihren Fortschritt zu garantieren. Welt mit anderen Worten entsteht nur dadurch, dass es Perspektiven gibt, sie ist nur jeweilig als die so oder anders gesichtete Ordnung von Weltdingen“ (Arendt 1993, 105).
Die Verknüpfung der Pluralität mit dem Konzept reflektierender Urteilskraft bei Kant unterstreicht die aktive Begegnung mit gleichberchtigten Anderen. Wenn sich soziale Wirklichkeit durch die Pluralität der Perspektiven auf sie konstituiert, so können subjektive Sinnwelten, die „Subjektivität des Es-scheint mir“ dadurch aufgehoben werden, dass die Vielfalt der Perspektiven von Anderen auf den gleichen Gegenstand bei der Urteilsbildung berücksichtigt werden. Kant nennt dies die „erweiterte Denkungsart“, die Fähigkeit, „an der Stelle jedes anderen zu denken“. Mit dieser Form des Denkens erweitert und reflektiert man die „Privatbedingungen“, d.h. die sozialen Voraussetzungen des eigenen Denkens. Man stellt sich vor, wie dieser Sachverhalt/Gegenstand aus einer anderen Perspektive und unter anderen Bedingungen aussieht. Man reflektiert über sein eigenes Urteil, so Arendt in Anlehnung an Kant, wenn man von einem allgemeinen Standpunkt denkt, den man nur dadurch erreicht, dass man sich an den Standort Anderer versetzt.
Mit Hilfe der Einbildungskraft, die diese Form der erweiterten Denkungsart ermöglicht, kann ich mir den Standort der Anderen vergegenwärtigen: „den Platz, auf dem sie stehen“, die Bedingungen, denen sie unterworfen sind, die nie die gleichen, sondern „von Individuum zu Individuum, von einer Klasse und Gruppe zur anderen“ verschieden sind (Arendt 1985). Diese Verknüpfung von Pluralität und politischer Urteilskraft ist von entscheidender Bedeutung, um ein gleichberechtigtes Miteinander von Menschen zu ermöglichen. Es hinterfragt tradierte Vorurteile und Traditionen, überprüft deren Gültigkeit unter gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Bedingungen und reflektiert auf die sozialen Voraussetzungen Anderer.
Dieser so vorgestellte Prozess politischer Urteilskraft kann als ein Aneignungsprozess interpretiert werden, in dem sich sowohl das Welt- und Selbstverständnis konstituiert, wenn man einen Standort in der Welt einnimmt, der nicht der eigene ist, und sich nun von diesem Standort aus, eine eigene Meinung bildet: „Je mehr solcher Standorte ich in meinen eigenen Überlegungen in Rechnung stellen kann und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle derer wäre, die dort stehen, desto besser ausgebildet ist dieses Vermögen der Einsicht [...] und desto qualifizierter wird schließlich das Ergebnis meiner Überlegungen, meine Meinung sein“ (Arendt 1994c, 342).
Die Einbildungskraft ermöglicht also zweierlei: Sie schafft Distanz zu dem, was zu nah ist, und sie rückt Dinge in die Nähe, die zu fern sind. Damit befreien wir uns von unseren subjektiven Privatbedingungen und erreichen eine Unparteilichkeit jenseits von Objektivität. Um Missverständnissen vorzubeugen, schreibt Arendt explizit: „Verstehen in der Politik heißt nie, den Anderen verstehen (nur die weltlose Liebe ‚versteht‘ den Anderen), sondern die gemeinsame Welt so, wie sie dem Anderen erscheint“ (Arendt 2002, 451, Herv. v. wms). In der Operationsweise der politischen Urteilskraft soll der Urteilende die Meinungen und Perspektiven von gleichberechtigten Anderen berücksichtigen, aber – und das ist hier entscheidend – dies soll unter den Bedingungen, unter denen diese Meinungen geäußert werden, reflektiert werden, damit Fragen der sozialen Gerechtigkeit erörtert werden.
Es geht also nicht einfach darum, sich andere Meinungen zu vergegenwärtigen, sondern deren Voraussetzungen sollen mit reflektiert werden: dass man sich vorstellt, ob man unter diesen Bedingungen, die nicht die eigenen sind, an der eigenen Meinung festhält und/oder sein Urteil revidiert. Entscheidend ist also nicht, dass man Argumente umdrehen oder Behauptungen auf den Kopf stellen kann, sondern dass man die Fähigkeit entwickelt, „die Sachen wirklich von verschiedenen Seiten zu sehen, und das heißt politisch, dass man sich darauf [versteht; wm], die vielen möglichen, in der wirklichen Welt vorgegebenen Standorte einzunehmen, von denen aus die gleiche Sache betrachtet werden kann und in der sie, ihrer Selbigkeit ungeachtet, die verschiedensten Aspekte zeigt“ (Arendt 1993, 96f.; Herv. i.O.). Dabei ist es nicht hinreichend, dass „in ihr (der Welt; wms) die menschliche Stimme ertönt“, sondern dass die Welt zum „Gegenstand des Gesprächs“ wird (Arendt 1989, 41). Hannah Arendt unterstreicht hier, mit Adorno gesprochen, den Vorrang des Objekts, dass es in der Politik nicht um den Menschen, sondern um die Welt geht (Arendt 1989, 41): „Wie sehr wir von den Dingen der Welt betroffen sein mögen, wie tief sie uns anregen und erregen mögen, menschlich werden sie für uns erst, wenn wir sie mit unseres gleichen besprechen können“ (Arendt 1989, 41).
Vermittels der „erweiterten Denkungsart“ bringen die Menschen die Weltlichkeit der Welt durch die jeweilig unterschiedliche Perspektive auf die Welt hervor. Zugleich enthüllen sie mit ihrem Urteil nicht nur ihre Sicht auf die Welt, sondern zeigen auch, ‚wer’ sie sind. Das heißt: das ‚Wer jemand ist’ zeigt sich nur im gemeinsamen Handeln der Vielen, in der Pluralität. Enthüllt sich im ‚Wer’ die Individualität eines Menschen, so wird durch das Sprechen dieser Person gleichzeitig enthüllt, wie er/sie die Welt sieht. Es geht um die Wahrheit der Meinung. Die Art und Weise, wie mir die Welt erscheint, ist nicht zufällig. Sie ist bedingt durch die Bedingungen, unter denen ich lebe; und genau diese Bedingungen können gleichberechtigte Andere durch die Freiheit der Einbildungskraft antizipieren, die zugleich die Bedingung der Möglichkeit enthält, an der Stelle eines anderen zu denken.
An das hier skizzierte Verständnis von Gleichheit und Differenz als Pluralität kann eine kritische Theorie des Politischen anknüpfen, deren Handlungstheorie erstens die Selbstauskünfte/Interpretationen der Adressat/innen im öffentlichen Raum zum epistemologischen Ausgangspunkt hat. Sie enthalten Hinweise für die Art und Weise, wie das jeweilige Welt- und Selbstverständnis sich in vorgängigen Differenzordnungen vollzieht, insofern die gesellschaftlichen Bedingungen und gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sich diese Welt- und Selbstverständnisse bilden bzw. konstituieren, in ihnen enthalten sind. Dabei geht es nicht darum zu untersuchen, ob Individuen über ein ‚falsches’ oder ‚richtiges Bewusstsein’ verfügen. Die Selbstauskünfte bzw. Interpretationen sollten vielmehr zum epistemologischen Ausgangspunkt gemacht werden, um zu untersuchen, unter welchen politischen Bedingungen sie entfaltet werden. Durch die Selbstauskünfte können Unrechtserfahrungen sowie gesellschaftlich bedingte Praktiken der Dehumanisierung thematisiert, artikuliert, reflektiert und kritisiert werden. Es kann identifiziert werden, welche Zugehörigkeiten und Identitätspositionen privilegiert werden und welche nicht. Sie geben Auskünfte darüber, welche Bedingungen (Klasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Herkunft, Alter, Behinderung etc.), die gesellschaftlich strukturiert und bei jedem Menschen unterschiedlich sind, ausschlaggebend sind. Die Untersuchung des Selbstverständnisses der Bürger/innen als Untersuchung von Welt- und Selbstverständnissen würde zweitens auch Hinweise auf die gesellschaftlich notwendigen institutionellen Veränderungen geben können, um ein „politisches Welt- und Selbstverhältnis“ zu ermöglichen. Damit würde eine weitere Dimension ins Blickfeld rücken: Sie muss nicht nur danach fragen, wie sie die subjektiven Voraussetzungen der Einzelnen für politische Teilhabe stärken kann; sie muss zugleich thematisieren, ob politische Institutionen/Organisationen sich durch „Lern- und Transformationsprozesse“ (Jaeggi 2009, 543) auszeichnen, die gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragen.
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1 Ich übernehme hier den Begriff des „Konstitutionsprinzips“ von Dolf Sternberger zu Hannah Arendts Verständnis des Politischen, ohne alle Implikationen seiner Interpretation zu teilen. Sternberger, Dolf: Hannah Arendt, in: Ders.: Herrschaft und Vereinbarung, Frankfurt a.M. 1986, 188-192, 189; vgl. auch Schmitz, Hans-Gerd: Die perspektivistische Konstruktion des Politischen. Überlegungen zu Hannah Arendts Wirklichkeitsbegriff, in: Politisches Denken 2001, S. 18-31; vgl. hierzu auch Torkler, René: Philosophische Bildung und politische Urteilskraft, Hannah Arendts Kant-Rezeption und ihre didaktische Bedeutung, München 2014. Dort heißt es: „Pluralität ist für Arendt also kein Problem, das es politisch zu lösen gälte, sondern das zentrale konstituierende Moment des Politischen überhaupt.“ (S. 58)
*Professorin für politische und kulturelle Bildung an der Hochschule Niederrhein
2 Ihre Habilitationsschrift hat Hannah Arendt vor ihrer Flucht bis auf zwei Kapitel 1933 verfasst, die letzten beiden Kapitel schrieb sie 1938 (Arendt 1959, 1983, S. 7- 13).
3 Später formuliert Arendt: „Der schweigende Dialog indiziert Pluralität, aber Vorbild ist der Dialog mit einem Anderen. Nur weil ich mit Anderen sprechen kann, kann ich auch mit mir sprechen, d.h. denken. Ergo: Aristoteles hat unrecht: Der Freund ist nicht ein „anderes Selbst“, sondern das Selbst ist ein anderer Freund.“ (Arendt 2002a, 688); mit Fokus auf das dialogische Prinzip siehe Christina Thürmer-Rohr (2009): Das dialogische Prinzip im Denken Hannah Arendts, in: hannaharendtnet, Bd, 5, Nr. 1
4 Ähnlich argumentiert auch Rahel Jaeggi: „Die Frage nach dem Politischen ist die Frage nach den Bedingungen für ein gelingendes Welt- und Selbstverhältnis“ (Jaeggi 1997, S. 6).
5 vgl. auch Volk 2008, 138, 139, 141. Christian Volk diskutiert das Verhältnis von Macht und Pluralität in ordnungspolitischer Hinsicht.
6 Zu Arendts Montesquieu- Rezeption siehe: vgl. Meints-Stender, 2009, 2011, 2018.