Ausgabe 6, Band 1/2 – November 2011
Christian Volk: Die Ordnung der Freiheit. Recht und Politik im Denken Hannah Arendts, Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, hg. von Harald Bluhm und Rainer Schmalz-Bruns, Baden-Baden: Nomos 2010.
Dass der Niedergang des Nationalstaats für Arendt im Wesentlichen eine Zerstörung des Rechtsstaats ist, scheint unmittelbar einzuleuchten. Die Fragen, was bei Arendt nun genau unter „Nation“, „Staat“ und „Recht“ zu verstehen ist, sind damit aber noch keinesfalls geklärt. Sie bestimmen den weiteren Gang der Untersuchung in den Kapiteln 2 bis 4. Auf der Suche nach dem politiktheoretischen Gehalt der Begriffe Nation, Staat und Recht setzt Volk bei der Frage an, „warum denn der Nationalstaat mit Heterogenität nicht umgehen kann“ (S. 69)? Die These, dass der Nationalstaat nur unter den Bedingungen einer national homogenen Bevölkerung bestehen könne, war von Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft in die Beschreibung der historischen Entwicklungsprozesse eingeflochten, aber nicht eigens zur Disposition gestellt worden. Es ist jedoch leicht einzusehen, dass die dargestellten Paradoxien des Nationalstaats im Grunde genommen allesamt aus der Vorstellung nationalstaatlicher Homogenität resultieren. Die beispielsweise von Hauke Brunkhorst vorgebrachte Kritik, dass Arendt die Homogenitätsforderung nicht näher erläutert habe, weist Volk mit der These zurück, dass die Homogenität der Nation nach Arendt auf einer „seelischen Stimmung“ beruhe (Vgl. S. 69f.). Was darunter genau zu verstehen ist, erläutert er anhand der Arendtschen Auseinandersetzung mit Rousseau in Über die Revolution. Der volonté générale entstehe aus einer „Verinnerlichung des Politischen“, die eine völlige Entäußerung des Einzelnen von eigenen Interessen und Rechten voraussetze. Volk spricht in Anlehnung an Arendt diesbezüglich auch vom „Herzenspatriotismus“, weil die Einstimmung in den Gemeinwillen sich an der „Reinheit des Herzens“ bemesse und nicht das Resultat politischer Auseinandersetzungen sei. Die aliénation totale werde durch das Gefühl des Mitleids ermöglicht, das (im Gegensatz zum „Mitleiden“) auf Distanzierung und Depersonalisierung basiere. Es seien beispielsweise „die Armen“, die zum Objekt einer demagogischen Agitation werden könnten. Leidenschaft und Emotionalität würden dabei aber nicht vorgetäuscht, vielmehr verlören sie ihren weltbezüglichen Charakter im Mitvollzug des Leidens Anderer, indem sie das affektive Ergriffensein anhand selbstprojizierter Objekte ständig noch weiter zu steigern versuchten. Die Nation bilde sich aus als eine „emotional hoch aufgeladene politische Einheit“, derer sich der Einzelne nur in der „Reinheit seines Herzens“ zugehörig fühlen könne (Vgl. S. 117).
In Kapitel 3 stellt Volk die These auf, dass sich Arendt in ihrem Verständnis vom modernen Staat maßgeblich an Max Weber orientiere. An die Interpretation Andreas Anters anknüpfend, begreift er den Staat bei Weber weniger vom Gewaltaspekt einer aufoktroyierten Ordnung her, sondern als „Anstaltsstaat“, der auf einer „rational gesatzten Ordnung“ beruhe. Neben anderen Strukturen, beispielsweise der Entwicklung eines Staatsbeamtentums zur Absicherung einer kontinuierlichen Verwaltungsstruktur, sei es vor allem diese Vorstellung von der Rationalität des Rechts, die Arendt, so Volk, ihrer Analyse des Niedergangs des Nationalstaats zugrunde gelegt habe. Der Staat sei demnach primär ein Rechtsstaat, dessen Funktionieren davon abhänge, dass die Kriterien der Rationalität, die laut Weber in der Generalisierung und Systematisierung rechtlicher Normen bestehen, eingehalten werden. Arendt verbleibe aber nicht in der Weberschen Tradition. Für sie sei das rationale Recht keine „Maschine“, die gesondert betrachtet werden könnte. Die Gleichberechtigung der Bürger resultiere unter anderem zwar auch für Arendt aus dem Prozess der Rationalisierung von Herrschaft, ihr gehe es aber vielmehr darum, den im Nationalstaat angelegten Widerspruch zwischen Nation und Staat kenntlich zu machen. Dieser lasse sich nur aufzeigen, wenn Recht und Politik im Zusammenhang betrachtet werden. Hiermit setzt sich Volk im vierten Kapitel auseinander. Arendt folgend stellt er heraus, dass die neuzeitlichen Staatstheoretiker damit begonnen hätten, die Staatsräson vom Willen her zu deuten. Der Souveränitätsgedanke könne sich so mit dem des nationalen Willens, der seinerseits in der aliénation totale und der „Reinheit des Herzens“ gründe, verbinden. Indem das Recht zum Spielball der Souveränität eines Machthabers beziehungsweise des Volkes wird, werde die Rechtsstaatlichkeit unterminiert. Weil nur der Wille selbst wisse, was er will, sei er zwangsläufig auch der Herrscher über die Gesetze (Vgl. S. 172). Rechtlich gesehen schlage sich ein solcher Herrschaftsanspruch in der Formulierung von Generalklauseln nieder, die aufgrund ihrer Allgemeingültigkeit die Bestimmtheit der Gesetze und die Rationalität des Rechts aushebeln würden. Da sich das Zugehörigkeitsgefühl nicht an der Teilhabe am politischen Handeln, sondern an der Selbstlosigkeit bemesse, bildeten sich in der parlamentarischen Massendemokratie Massenbewegungen aus, die das Vertrauen in die Politik zerstören. Volk arbeitet an dieser Stelle sehr deutlich heraus, „wie sehr rationales Recht auch vom Politischen abhängt“ (S. 200). Spätestens hier wird ersichtlich, weshalb die Unparteilichkeit der Beamten zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit nicht ausreicht, solange das Politikverständnis auf der Souveränitätsvorstellung beruht.
Laut Volk gibt es bei Arendt weder einen Vorrang des Politischen gegenüber dem Recht noch umgekehrt des Rechts gegenüber dem Politischen. Die vermeintliche Souveränität des einen gegenüber dem anderen untergrabe letztlich die Stabilität der politischen Ordnung. Beide Bereiche seien gleichursprünglich und in einem enthierarchisierten Verhältnis zueinander zu denken. Im Hinblick auf das Politische stellt Volk im ersten Teil des 5. Kapitels die These auf, dass eine gelungene Politik bei Arendt immer so dargestellt werde, dass auch deren tragende Strukturprinzipien ersichtlich würden. Aus politischem Handeln lasse sich demnach eine „politische Normativität“ ablesen, die sich an der Verwirklichung von Pluralität bemesse. „Vor diesem Hintergrund ist politisch rational, was politische Freiheit ermöglicht.“ (S. 228) Diese neue Form der Rationalität zeichne die politische Urteilskraft bei Arendt aus. Aber weshalb sollten die Handelnden die politische Normativität der Urteilskraft überhaupt zu verwirklichen suchen? Die Behauptung, dass es in der Arendtschen Theorie des Politischen „eine normative Lücke“ gebe, weist Volk zurück. Arendt führe zwar keine a priori geltenden moralischen Gründe an, um Menschenrechte zu rechtfertigen. Das hieße aber nicht, dass ihr Verständnis des Politischen normativ gehaltlos wäre. Rational ist Politik laut Volk genau dann, wenn sie Strukturen mit sich bringt, die ein Mehr an Macht durch die Einbindung der bislang vom politischen Handeln Ausgeschlossenen schafft. Ermöglicht werde dies durch die erweiterte Denkungsart der reflektierenden Urteilskraft, die es erlaube, die Urteile der Anderen für das eigene Urteilen mit zu berücksichtigen. Innerhalb der und zwischen den Institutionen werde diesem Rationalitätsgehalt der Urteilskraft dadurch Rechnung getragen, dass für das politische Handeln Verfahrensnormen und Regeln festgelegt werden, ohne die es, so Volk, nicht ablaufen kann. Unter „sensus communis“ versteht Volk „politisch die verfassungskonforme Mehrheitsfähigkeit – und eben nicht vorpolitische Gemeinsamkeiten, an die man bei lokalen Vereinigungen wie Dorf- und Stadträte denken mag“ (S. 239).
Im zweiten Teil des Kapitels wird der entsubstanzialisierte Rechtsbegriff als Beziehungsbegriff dargestellt. Ebenso wie bezüglich des Politischen gezeigt wurde, dass Politik nicht in der Souveränität eines Willens begründet sei, soll im Hinblick auf das Recht gezeigt werden, dass dessen Legitimität sich nicht aus dem „Befehl“ eines Herrschaftswillens speise, sondern aus einem Zustimmungsverhältnis. „Substanziiert“ werde das Recht, wenn es als geronnener Wille betrachtet wird (Vgl. S. 252f.). Als Beziehungsbegriff erscheine es dagegen beispielsweise in der römischen Rechtstradition. Hier fungiere das Recht als ein Vertrag, der zwischen den Partnern Verbindlichkeit herstelle. Aber wodurch zeichnet sich die Legitimität eines solchen Rechts aus? Auch hier hebt Volk den grundlegenden Charakter der Rationalität der Urteilskraft hervor, deren Prinzipien als Rechtsnormen in der Verfassung verankert sein müssten, um das Miteinander-Handeln zu ermöglichen. „Recht, Urteilskraft und Politik verweisen auf diesem Wege gegenseitig aufeinander und bilden ein legitimatorisches Dreieck.“ (S. 266)
Mit der Zurückweisung einer „normativ-ontologischen Lesart“, die sich vornehmlich auf Vita activa stützt und hinter der Kritik der neueren politisch relevanten Phänomene angeblich „nur den antiken Polisbürger thronen [sieht]“, distanziert sich Volk auch von der Interpretation von Vita activa als Beschreibung einer Entfremdungs- und Verfallsgeschichte (Vgl. S. 207). Wie bereits ausgeführt, geht es ihm darum, die Kriterien für die Stabilität politischer Ordnungen zu verdeutlichen. Das Politische fasst Volk daher politiktheoretisch als „structured politics“ auf. Fragwürdig erscheint mir hier, inwiefern diese Interpretation gesondert von einer politikphilosophischen, die das Politische beispielsweise in seiner Ereignishaftigkeit und als Anfang zu verstehen versucht, vollzogen werden kann. Die Schwierigkeit, Politik und Recht in einem Verhältnis zu denken, wird meines Erachtens insbesondere im letzten Kapitel ersichtlich. Hier wird behauptet, dass ihr Politikverständnis auf einem „normativen Unterbau“ (S. 215) ruhe, dann, dass „politisches Handeln nie ohne Regeln ablaufen kann“ (S. 235) und dass dem politischen Denken eine „politische Normativität inhärent“ (S. 215) ist und schließlich wird eine „Politik der Urteilskraft“ (S. 242, 279) gefordert. Wenn aber die Urteilskraft sich im politischen Miteinander-Handeln bereits realisiert, worauf zielt dann eine „Politik der Urteilskraft“ ab? Wenn die Absicht die ist, dass „das Handeln-Können von den Anderen rechtlich garantiert wird“ (S. 279), dann stellt sich die Frage, wozu die Urteilskraft sich im Recht manifestieren soll, wenn doch gleichzeitig gesagt wird, dass „Verfahrensprinzipien […] keine Urteilskraft garantieren“ (S. 279) können. Ist dies nicht eine Lücke im „legitimatorischen Dreieck“? Bleibt es dann nicht doch letztlich bei einem Plädoyer für politische Partizipationsrechte? Und wenn es eine „Politik der Urteilskraft“ gibt, gibt es dann auch andere Politikformen, die nicht die Urteilskraft verwirklichen? Letzteres würde bedeuten, dass das Politische nicht notwendigerweise einen „normativen Kern“ hat, der vorschreibt, Exklusionsmechanismen abzuschaffen, sondern ganz im Gegenteil auch selbst der Grund für solche Mechanismen sein kann. Insofern könnte dann auch von einer „Paradoxie des Politischen“ gesprochen werden.
Oliver Bruns
Anmerkungen
1Ahrens, Stefan: Die Gründung der Freiheit. Hannah Arendts politisches Denken über die Legitimität demokratischer Ordnungen, Frankfurt a. M. u. a. 2005.
2 Förster, Jürgen: Die Sorge um die Welt und die Freiheit des Handelns. Zur institutionellen Verfassung der Freiheit im politischen Denken Hannah Arendts, Würzburg 2009.
3 Vgl. zu den Paradoxien bzw. Widersprüchen der nationalstaatlichen Ordnung auch Meints, Waltraud: Globalisierung und Menschenrechte. Zur Aktualität der Krisendiagnose von Hannah Arendt, in: Mittelweg 36 5, (2003), S. 53-68.
4 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 7. Aufl., München 2000, S. 607.
5 Diesen Titulierungen müsste keine Aufmerksamkeit entgegengebracht werden, wenn damit nicht auch in der Sache ein Problem unerläutert bliebe. Zum In-der-Welt-Sein gehört laut Heidegger das Miteinander-Sein, die Welt teilt der Einzelne demnach »je schon« mit Anderen. Das »je schon« bringt zum Ausdruck, dass der Einzelne stets in den Anderen versetzt ist und sich nicht erst künstlich durch eine „Operation der Reflexion“ in ein etwas hineinversetzen muss, um festzustellen, dass es sich bei diesem etwas nicht um einen Stein, sondern um einen Anderen handelt. Jeder »defiziente Modus«, beispielsweise das Ignorieren des Anderen, ist folglich nur möglich, weil die Welt vorgängig immer schon als eine mit Anderen geteilte erschlossen ist. Die Annahme, dass Arendt das Kantische Konzept der Urteilskraft in einem nicht-metaphysischen Sinne jenseits einer Subjektontologie – die auch nicht durch den Gebrauch des Wortes „Intersubjektivität“ einfach überwunden ist, für ihr politisches Denken fruchtbar macht, müsste, wenn in diesem Zusammenhang eine Auseinandersetzung mit dem Heideggerschen weltbezogenen Denken gesucht wird, eben das „je schon in den Anderen versetzt sein“ thematisieren. Vgl. zum „Mitsein“ beziehungsweise „Miteinandersein“ Heidegger, Martin: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, hg. von Mark Michalski, GA 18, Frankfurt a. M. 2002, S. 45ff. Heidegger, Martin: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, hg. von Petra Jaeger, GA 20, Frankfurt a. M. 1979, S. 325ff. Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, GA 29/30, Frankfurt a. M. 1983, S. 301f.