Ausgabe 1, Band 8 – April 2016
Der philosophische Zoo in Kaliningrad / Königsberg
Internationale Konferenz „Hannah Arendt und die Bedeutung ihres Denkens heute“
Alexey N. Salikov
(I. Kant Baltische Föderale Universität, Kaliningrad/Königsberg)
Am 4. Dezember 2014 fand im Konferenzsaal des Kaliningrader Zoo eine internationale Konferenz zu Hannah Arendt (1906-1975) statt, die ihre Kindheit und Schulzeit in Königsberg verbrachte. Die Konferenz wurde von der Immanuel Kant Baltischen Föderalen Universität mit der finanziellen, organisatorischen und informationstechnischen Unterstützung des Generalkonsulates der Bundesrepublik Deutschland sowie in Kooperation mit dem Kaliningrader Zoo, dem Generalkonsulat der Republik Polen, dem Goethe-Institut in Sankt-Petersburg und der Stadtverwaltung der Stadt Kaliningrad organisiert.
Das Datum - der 4. Dezember - und der Veranstaltungsort - Kaliningrader Zoo (vor 1945 - der Königsberger Tiergarten) - wurden nicht zufällig gewählt. Am 4. Dezember 1975 starb Hannah Arendt in New York. Der Kaliningrader Zoo wurde aus dem einfachen Grunde gewählt, dass die Stelle, an der das Haus der Eltern von Hannah Arendt in der Tiergartenstraße 6 (jetzt Uliza Zoologitscheskaja) stand, nur ein paar Dutzend Meter von dem Konferenzraum entfernt ist, in dem die ihr gewidmete Veranstaltung stattfand.
An der Konferenz nahmen als Vortragende teil: Alexander Filippov (Staatliche Universität - Hochschule für Wirtschaft, Moskau), Wolfgang Heuer (Freie Universität, Berlin), Artemij Magun (Europäische Universitӓt, Sankt-Petersburg), Alexey Salikov (Immanuel-Kant Baltische Fӧderale Universitӓt, Kaliningrad), Gerfried Horst (Gesellschaft der Freunde Kants und Königsbergs, Berlin), Anna Karpenko (Agentur für Kulturinitiativen „Transit“, Kaliningrad) und Adam Krzeminski (Wochenzeitschrift „Polityka“, Warschau).
Die Konferenz wurde mit einem Bericht von Gerfried Horst "Hannah Arendt und Königsberg" eröffnet, in dem der Vorsitzende der „Gesellschaft der Freunde Kants und Königsbergs“ sich auf biographische Aspekte sowie auf die Auswirkungen der Kindheit Hannah Arendts in Königsberg konzentrierte So hat z. B. das Interesse an Kants Philosophie, mit der die junge Hannah sich schon im Alter von vierzehn Jahren zu beschäftigen begann, sie Arendt durch ihr ganzes Erwachsenenleben hindurch begleitet, was auch in ihrem letzten, nicht beendeten Werk Das Leben des Geistes, an dem die Denkerin bis zu ihrem Tode arbeitete, seinen Niederschlag fand. Auch andere gebürtige Ostpreußen wie Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder waren ihre geistigen Lehrer.
Die Sozialforscherin Anna Karpenko stellte in ihrem Bericht „Die Stadt, die Geschichte und die Sphäre des Öffentlichen: Arendt in Kaliningrad“ die Frage, was das Auftreten von Menschen eines solchen Maßstabs wie Kant und Arendt im urbanen Kontext Königsberg ermöglichte. Ihrer Meinung nach waren Offenheit, Multikultur und Freiheit eine Besonderheit von Königsberg, und diese Eigenschaften der Stadt trugen zur Entstehung der kühnen Ideen bei. Ob man sagen kann, dass die heutige Stadt Kaliningrad, in der nach dem Zweiten Weltkrieg die Bevölkerung komplett verändert wurde, diesem Muster folgt? Einige bestimmte Merkmale der regionalen Identität beweisen die Offenheit der Bürger für andere Kulturen, ihr Interesse an die Geschichte der Stadt, die aktive Entwicklung der philosophischen Tradition. Das macht Hoffnung auf Arendts „Wiederkehr“ in die gegenwärtige Stadt.
In seinem Bericht „Die Aktualität der Philosophie Hannah Arendts heute: das Internet als öffentlicher Raum“ demonstrierte Alexey Salikov den Zuhörern die Aktualität von Arendts Gedanken am Beispiel der modernen Errungenschaften und die Zukunftsaussichten des globalen Netzwerks, basierend auf einer der wichtigsten Begriffe der Philosophie von Hannah Arendt – dem Begriffe des öffentlichen Raums. Sofern Hannah Arendt die Politik als einen Prozess der Kommunikation versteht und die Kommunikation ihrerseits den Informationsaustausch erfordert, ist laut dem Autor des Berichts der direkte Übergang der Politik in die digitale Dimension prinzipiell möglich, und das Internet als Kommunikationsmedium kann in der Zukunft auch als öffentlicher Raum dienen und einen Beitrag zur Wiederbelebung und Intensivierung des politischen Lebens der Gesellschaft leisten. Damit das Internet sich als ein Raum der Öffentlichkeit weiter entwickelt, ist es Alexey Salikov nach allerdings erforderlich, dass die Internetnutzer für ihre Beiträge Verantwortlichkeit übernehmen. Wie der Referent bemerkte, geht es zur gleichen Zeit in dieser Hinsicht um ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, das auch im Internet eingehalten werden sollte.
Nach einer kurzen Pause, in der die Teilnehmer ( etwa 70 Personen) das Gehörte diskutieren konnten, wurde die Konferenz mit dem Vortrag des deutschen Forschers Wolfgang Heuer „Das Wunder des Handelns – aber wer handelt? Eine Reflexion über die Bedeutung der Persönlichkeit“ fortgesetzt. Er betrachtete die Frage, ob die Handlungsfreiheit, die freie Aktion möglich ist, dabei nicht nur in Bezug auf den Totalitarismus, sondern auch in den heutigen neoliberalen Staaten des Westens. Das Problem, so Heuer, liegt hier in der Tatsache, dass nur sehr wenige Menschen in modernen demokratischen Staaten bereit sind, aktiv zu handeln: die meisten Menschen sehen keine Notwendigkeit dafür und glauben, dass ein demokratischer Staat schon an sich funktionell genug ist. Am Beispiel des Lebens und Werks von Arendt wies der Referent überzeugend nach, dass im Gegensatz zu einer in der wissenschaftlichen Gemeinschaft und in der Gesellschaft überhaupt sehr verbreiteten Meinung Theorien nicht in Büros geschrieben werden; sie erfordern ein aktives Handeln. Im Fokus seiner Analyse lagen zwei Fragen: 1) Was kennzeichnet eine "Person" im Unterschied zum „Individuum“? 2) Was bedeutet es, einen Standpunkt einzunehmen und zu urteilen? Das besondere Kennzeichen der Person bei Hannah Arendt, so Heuer, ist ihre Sichtbarkeit und Unverwechselbarkeit; sie geht nicht wie das Individuum in der Masse unter. Eine Person handelt mit anderen zusammen, aber auch gegenüber anderen, sie agiert gemeinsam und zugleich allein. Was die Frage nach der Bedeutung der Einnahme eines Standpunktes und des Urteilens angeht, so ist diese Bedeutung für Arendt nach Ansicht des Referenten dreierlei: zunächst die Notwendigkeit dessen, was Hannah Arendt als „in der Welt sein“ bezeichnet, zweitens Freiheit als „Freiheit zu“, als intersubjektive, gemeinsame Freiheit zu verstehen, die untrennbar mit Verantwortung verbunden ist, und drittens die Bildung einer Urteilsgemeinschaft, das heißt die Auswahl derer, mit denen man zusammen handeln und urteilen möchte und die man sich zum Vorbild nimmt.
In seinem Vortrag „Hannah Arendt und Carl Schmitt: zwei Begriffe des Politischen“ lenkte Alexander Filippov die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass die Ansätze der beiden Denker, die durch ihre Biographien als Antagonisten dargestellt werden können, in gewisser Hinsicht einen einander ergänzenden Charakter haben. Schmitt untersucht den Begriff des Politischen in Bezug auf den Staat als den Hauptagenten. Er macht den Vorbehalt, dass es so nicht immer war. Aber als der Staat begann, eine politische Hauptunterscheidung zwischen Freund und Feind zu treffen, existierte Politik innerhalb des Staates nicht. Politik gibt es nur außerhalb des Staates, im Inneren dagegen allein die Polizei, die den Frieden, die Ruhe und die Sicherheit gewährleistet. Im parlamentarischen, liberalen Staat treten die sekundären politischen Unterscheidungen in den Vordergrund, und unter ungünstigen Umständen stirbt der Staat. Viel wichtiger ist aber, dass bei Schmitt der Staat wie auch jede andere politische Aktivität, einschließlich der den Staat gefährdenden Innenpolitik, im Rahmen des inneren oder des internationalen Rechtes tätig wird. Bei Arendt wie bei Schmitt ist Politik die wichtigste menschliche Beschäftigung. Allerdings liegt das Wesen der Politik nicht im Krieg, sondern in der Koexistenz mit anderen freien Menschen. Tatsächlich ist aber die Freiheit das Ergebnis des Kampfes; nur durch den Sieg wird der Mensch frei, befreit sich von der Notwendigkeit, sein Leben im Haushalt zu erhalten, findet Muße, geht über das Verhältnis von Herr und Knecht hinaus. Doch fühlt Arendt die Probleme des Rechtes nicht, sie werden zu Ihrem Thema.
Die Konferenz wurde mit zwei Vorträgen beendet, die das Thema der Revolution im Zusammenhang mit der Theorie der Revolution bei Arendt betrachteten. In seinem Vortrag „Revolution bei Arendt und das Schicksal der Revolutionen heute“ gab Artemij Magun eine detaillierte Behandlung des Begriffs der Revolution und seiner Geschichte, wobei der Schwerpunkt im Verständnis dieses Phänomens in dem Buch von Arendt Über die Revolution lag. Der Referent konzentrierte sich auf die Charakterisierung und vergleichende Analyse der verschiedenen Revolutionen, beginnend mit der Großen Französischen Revolution und der Amerikanischen Revolution (letzte ist besser als der Unabhängigkeitskrieg bekannt) bis zu den letzten Revolutionen in den arabischen Ländern (Arabischer Frühling) und in der Ukraine. Zum Schlussakkord der Konferenz wurde der Vortrag von Adam Krzeminski „Schuld und Sühne. Totalitäre Revolutionen im Europa des 20. Jahrhunderts. Zur politischen Philosophie Hannah Arendts“, in dem der polnische Referent seine Vision der tragischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts, den Einfluss der totalitären Revolutionen auf das Schicksal von Polen und die Bedeutung von Arendt Ideen für das Verständnis des Phänomens des Totalitarismus den Konferenzteilnehmer ausführlich darstellte.
Im Rahmen des Abendprogrammes der Konferenz in dem Art-Klub "KvARTira" („QuARTier“) fand eine Podiumsdiskussion zum Thema „Hannah Arendt in Kaliningrad: Heimkehr“ statt. Moderatorin war die bekannte Kaliningrader Fernsehjournalistin Svetlana Kolbaneva, Teilnehmer waren: Alexander Filippov, Alexey Salikov, Anna Karpenko). Weiterhin wurde die Fernsehaufzeichnung der ZDF-Sendung „Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus - Zur Person” vom 28.10.1964 vorgeführt.
(Die russische Fassung dieses Berichtes wurde erstmals in der Zeitschrift „Социологическое обозрение“(„Soziologische Rundschau“) veröffentlicht:
Саликов А.Н. Философский зоопарк в Калининграде (международная конференция “Современное значение идей Ханны Арендт”)// Социологическое обозрение. 2014. Т. 13. № 3. С. 219–222.)