Ausgabe 1, Band 8 – April 2016
Eva von Redecker: Gravitation zum Guten. Hannah Arendts Moralphilosophie, Lukas Verlag, Berlin 2013
Einer der wesentlichen Aspekte des Arendtschen Werks bereitet der Arendt-Forschung immer noch Probleme, nämlich die Rolle des Urteilens und seine Beziehung zum Denken, und die Bestimmung dessen, was allgemein als Gewissen bezeichnet wird. Der Titel der Veröffentlichung, „Gravitation zum Guten. Hannah Arendts Moralphilosophie“ könnte befürchten lassen, dass die Autorin eine unterschwellige Moralisierung Arendts unternimmt, während Arendt gerade Handeln, Denken und Urteilen von den Zwängen unterhinterfragter moralischer Werte und Regeln befreien wollte. Diese Befürchtung aber ist unbegründet. Eva von Redecker hat im Gegenteil einen erhellenden Gang durch den schwierigsten Teil des Arendtschen Werks in einer Weise unternommen, der ihre Arbeit in die Reihe der besten Untersuchungen auf diesem Gebiet stellt, was für eine Magisterarbeit, auf der diese Arbeit beruht, ganz ungewöhnlich ist.
Die Autorin geht von der Annahme aus, dass Arendt nach der Analyse „einer Facette des Bösen“ (S. 8) in Eichmann in Jerusalem in ihren weiteren Schriften (vor allem in Über das Böse und Vom Leben des Geistes) nach den Bedingungen des guten Handelns fragt. Ihr Verweis auf den Retter Anton Schmidt in ihrem Buch über den Eichmann-Prozess und die Portraits von Menschen in finsteren Zeiten richten den Blick auf Alternativen zur Banalität des Bösen und machen zugleich die Bedeutung von Beispielen deutlich, die für Arendt auf dem Gebiet des Urteilens und Handelns wichtiger als Theorien und Begriffe sind. In ihrer Untersuchung der Phänomenologie der Geistestätigkeiten des Denkens und Urteilens, so die Autorin, beschreibt Arendt die Möglichkeiten guten Denkens und Urteilens und umreißt damit eine Gravitation zum Guten, die eine „geradezu unwiderstehliche Tendenz zum moralisch richtigen Handeln“ (S. 8) ausmacht.
Die Ausgangslage für Arendts Untersuchung ist denkbar schwierig. Wie Arendt mehrfach erklärte, haben Religion und Common Sense ihre orientierende Funktion verloren, und auch das sokratische Angebot, das Gewissen als den inneren Dialog eines Zwei-in-einem zu verstehen, der die Dialogführenden daran hindern könne, mit einem Mörder zusammenleben zu wollen, war für Arendt letztlich auch nicht sehr überzeugend, denn wer lebt denn heutzutage noch mit sich selber auf eine solch reflektierende Weise zusammen.
Zusätzlich, so die Autorin, wird die Rekonstruktion des Arendtschen Gedankengangs dadurch erschwert, dass Vom Leben des Geistes unvollendet blieb und daher der erste Teil über das Denken ein Übergewicht bekommt, während der ungeschriebene Teil über das Urteilen zu sehr auf Arendts Kant-Vorlesungen reduziert wurde. Das führte nicht nur zu dem Irrtum Beiners, Arendt habe eine Wende von der Vita activa zur Vita comtemplativa vollzogen, sondern auch zu den Zweifeln (Canovan, Bernstein), ob Arendts Analyse des Denkens den Unterschied zwischen Sokrates und Heidegger erklären könne, wie denn die Beziehung zwischen dem vermeintlich einsamen Urteilen und gemeinsamen Handeln aussehe und ob denn auch das Urteilen ein Handeln sei.
Zur Beantwortung dieser Fragen plädiert die Autorin einerseits für eine genaue Lektüre und Relektüre Arendts - was angesichts des essayistischen Stils Arendts immer wieder, auch zu anderen Aspekten notwendig ist - und andererseits für eine mutige Rekonstruktion der Gedankengänge Arendts, bei der bestehende Lücken überbrückt werden.
In vier Kapiteln befasst sich die Autorin mit dem Problem von Gewissenhaftigkeit und Gedankenlosigkeit Eichmanns, mit der Rolle moralischer Sätze in den Vorlesungen zur Moralphilosophie (Über das Böse) und schließlich mit der Phänomenologie der Geistestätigkeiten, die als (De-)Montage des Denkens und einem auf Pluralität beruhenden Urteilen überzeugend als ein Zusammenspiel von Denken und Urteilen interpretiert wird.
Was die Relektüre des Eichmann-Buches betrifft, so wird deutlich, dass Arendt aus Eichmanns klischeehafter Sprache und der ihr zugrundeliegenden Gedankenlosigkeit keineswegs auf dessen Gewissenlosigkeit schließt. Eichmann hatte vielmehr ein Gewissen, und zwar eines der Strebsamkeit und Normalität, das er je nach den Erfordernissen binnen kürzester Zeit umpolen konnte. David Riesman und andere nannten dies eine außengeleitete Moral, und deren Charakterisierung durch Redecker als eine „Physiognomie der Gewissenhaftigkeit“ lässt an Helmut Lethens „Verhaltenslehre der Kälte“ zur Beschreibung dieser Physiognomie in der Weimarer Republik denken.
Arendts Erkenntnis, dass Gebote/Verbote und Imperative die Menschen nicht vor dem Bösen bewahren können, wirft die Frage auf, „was moralische Sätze selbstverständlich machen kann, ohne sie in Prinzipien einer feststehenden Wertordnung zu überführen. Welche Praktik erzeugt jene prekäre Selbstverständlichkeit, in der moralische Sätze sich von Dogmen, Drohungen oder Manieren unterscheiden?“ (S. 55)
Zur Beantwortung dieser Frage wendet sich die Autorin Arendts Phänomenologie des Denkens und Urteilens zu und hebt deren Charakteristiken heraus, zunächst die unterminierende und auflösende Kraft des Denkens, die als solche noch nicht gutes Urteilen garantiert, sondern erst den Weg zu ihm bereitet.
Erst wenn das auflösende, kritische Denken und das auf der Einbildungskraft beruhende plurale Urteilen zusammen agieren, wenn „die Handelnde und die Zuschauende nicht zwei verschiedene existentielle Positionen einnehmen, sondern lediglich verschiedene Modi der Reflexion” (S. 109) ist, ist die Voraussetzung für guten Handeln und Urteilen gegeben. Dass Arendt Kant gegen Kant liest und seine Erläuterungen des ästhetischen Urteilens als versteckte politische Philosophie verstand, wissen wir. Redecker verweist zusätzlich auf den vorkritischen Kant, der in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ drei Typen ethischer Orientierung vorstellte, prinzipiengeleitet, gefühlsgeleitet und ehrbedacht, bei denen auch die gleiche Weise moralischen und ästhetischen Urteilens erscheint. (S. 89)
Elisabeth Young-Bruehl verweist auf die republikanische Gewaltenteilung, der bei Arendt ein republikanisches „Leben des Geistes“ als Alternative zur herkömmlichen Sichtweise eines auf Souveränität oder dem Willen gegründeten Gemeinwesens bzw. Selbst: “In ihrer Vorstellung eines republikanischen Geistes sind Denken, Wollen und Urteilen gleich und interaktiv.” (Jerome Kohn / Elisabeth Young-Bruehl: “Critique de la soueraineté et de l’Ètat-nation”, in: Etienne Tassin u.a.: Hannah Arendt: Crises de l’Etat-nation (Sens&Tonka, 2007, S. 298)
Dieses Zusammenspiel eines offenen Denkens und reflexiven Urteilens ist die Grundlage für das, was Arendt nur indirekt thematisiert, nämlich die Persönlichkeit, die sich erst durch ihr Denken, ihre Urteile, Willensakte und Handlungen konstituiert und beispielhaft und in verschiedenen Ausprägungen in Menschen in finsteren Zeiten erscheint.
Wolfgang Heuer