Ausgabe 1, Band 8 – April 2016
Quentin Skinner: Die drei Körper des Staates. Aus dem Englischen von Karin Wördemann, Wallstein Verlag 2012, 111. Seiten, ISBN 978-3-8353-2257-2
„Wir erfahren zu viel über die Vergangenheit als Ursprung der Gegenwart und nicht genug über die Vergangenheit als etwas, was ihren eigenen Bestimmungen entspricht.“ Dieser Satz aus der Einleitung des 2012 erschienenen Buches „Die drei Körper des Staates“ von Quentin Skinner, verweist die LeserInnen gleich zu Beginn der Lektüre des Buches, auf das, was Kari Palonen die „Skinnersche Revolution“ genannt hat, nämlich der Gefahr zu entgehen, historische Begriffsentwicklungen einfach auf unsere Gegenwart zu beziehen, anstatt sie als Reflexionen und Antworten auf die Diskurse ihrer Zeit zu begreifen. Und es sind genau diese historischen Konstellationen, in die Quentin Skinner in seinen Reflexionen über den Begriff des Staates eintaucht. In den großen Erzählungen über die Entstehung des Staates sei, so sein Argument, zu wenig darüber geforscht worden, „in welch unterschiedlicher Weise öffentliche Macht in früheren Zeiten konzipiert wurde, und über den Charakter der Dispute, aus denen unser gegenwärtiges Verständnis des Staates hervorging und sich verfestigte“ (S.8). Es geht ihm darum, die vielschichtigen Bedeutungsverschiebungen der Konzepte state, status und statehood zu verfolgen, da man eine „lineare Erzählung solcher Konzepte niemals schreiben können wird“ (S. 10). Was man heute unter „Staat“ verstehe, hätte eine „Verarmung“ durchgemacht. Skinner verfolgt eine „Genealogie des Staates“, die dazu befreien könnte, die „Idee des Staates auf andere und vielleicht fruchtbarere Art und Weise neu zu fassen“. Mithilfe einer Synthese von Ludwig Wittgensteins Einsicht, dass die Bedeutung eines Wortes nicht isoliert, sondern in konkreten Sprachspielen und bestimmten Lebensformen betrachtet werden sollte, und der Forderung John L. Austin, dass der Gebrauch eines Wortes zu untersuchen sei, um die Behauptung Wittgensteins „Worte sind Taten“ zu erhellen, untersucht Skinner das Verständnis des Staates systematisch in vier unterschiedlichen Auffassungen, die sich als drei Körper des Staates verstehen lassen. Die vier unterschiedlichen Auffassungen des Staates gliedern das Buch: die absolutistische, populistische, reduktionistische und fiktionale Auffassung, die sowohl in der Einleitung als auch im Schluss in ihrer philosophischen und gegenwärtigen politischen Bedeutung verortet werden. In kritischer Anlehnung an Nietzsche geht es ihm um mehr als um „Kontingenz“, sein Verständnis von Genealogie sei „zurückhaltender“. Er möchte diesen Begriff als „Verbindungsstücke nach Art eines Stammbaums“ verstanden wissen, und nur in diesem Sinne sei es eine „Form von Kritik“ (ebd.).
Im Kern besteht dieses politische Buch darin, wenn man die Skinner Methode auf ihn selbst anwendet, Genealogie als Kritik zu betreiben, die aufzeigt, dass das vielschichtige Erbe über das Konzept des Staates in heutigen Debatten negiert wird. Weitgehend werden nur zwei Positionen erörtert, die Skinner als reduktionistische Auffassung begreift. In dieser reduktionistischen Auffassung des Staates werde mit dem Wort state nur der etablierte Regierungsapparat bezeichnet, der sich zudem durch eine Marktorientierung in globalisierten Weltverhältnissen diskreditiert. Zugleich folge die gängige Politikwissenschaft dem Ruf Friedrich Engels, dass der Staat auf dem allgemeinen Rückzug sei, wenn vom Tod des Staates gesprochen werde, der sein traditionelles Attribut der Souveränität eingebüßt habe. Ein Blick in die Praxis aber zeige etwas anderes: staatliche Souveränität erweise sich im internationalen Kontext als bemerkenswert widerstandsfähig und innenpolitisch hätten sich die Staaten innerhalb ihrer Territorien aggressiver zur Geltung gebracht, indem sie mit gesteigerter Aufmerksamkeit ihre Grenzen und ihre Bürger bewachen. Vom Absterben des Staates zu sprechen, grenze an Ignoranz (S. 86).
Kritisiert Skinner die reduktionistische Auffassung des Staates im Kern als neoliberale Ideologie, so betont er, dass die absolutistische und populistische Auffassung nicht mehr als historisches Interesse hervorrufen könnte. Dagegen sei es ein Fehler, den Staat in der Form als „eigenständige Person“, für obsolet zu erklären. Rechts- und Politikwissenschaftler würden heute darauf aufmerksam machen, „dass der Staat eine Entität und ein Akteur ist, der sich sowohl von den Herrschenden als auch von den Beherrschten unterscheidet“, weil man ohne diese Annahme nicht über das Wesen öffentlicher Macht sprechen könne. Aber auch diese Sichtweise bedürfe der Revision: der Staat sei keine reale Person, sondern nur eine fiktive, eine persona ficta, dessen Verständnis Hobbes als Prozess „der Autorisierung, Repräsentation und Zuschreibung analysiert, der es uns ermöglicht, der Aussage Sinn beizulegen, wonach der Staat zwar nur der ‚Fiktion nach’ eine Person ist, gleichwohl die Bezeichnung der Person ist, die Gesetze mache und deren Übertretung straft“ (S. 89). Skinner begründet seine Aktualisierung der Hobbesschen Auffassung des Staates damit, dass nur diese fähig wäre, öffentliche Macht mit dem Konzept des Staates als einer fiktiven Person zu erfassen. „Denn wenn man vom Staat als eigenständiger Person mit eigenen Pflichten und Rechten zu spricht, heißt das nichts anderes, als dass man sich auf den Körper des Volkes bezieht, auf Menschen, die unter einer autorisierten Regierungsform als gleiche Bürger geeint sind. Wenn wir von den Interessen des Staates sprechen, sprechen wir lediglich von den Interessen des Volkes als einem Ganzen. Letztlich ist der Staat nichts anderes als wir selbst. Wenn wir Staaten einrichten, fügen wir der Welt keinerlei neues Material hinzu; wir organisieren und individuieren uns einfach nur auf eine neue Weise. Pocht man auf die Pflicht der Regierungen, zum Nutzen des Staates zu handeln, dann hält man schlicht an ihrer Pflicht fest, für unser aller Gemeinwohl zu handeln“ (S. 95)
Skinners „Die drei Körper des Staates“ ist ein eminent politisches Buch, das in die gegenwärtigen Debatten um die Rolle des Staates interveniert. Skinner stellt eine Konzeption des Staates als fiktionale Auffassung sui generis vor, die er vermittels seines genealogischen Verständnisses aus der Philosophie Hobbes gewinnt, um dann diese fiktionale Auffassung als Kritik an der reduktionistischen Auffassung des Staates ins Feld zu führen. Ob aber eine fiktionale Auffassung des Staates im Sinne Thomas Hobbes zu haben ist, ohne Politik auf den Begriff der Sicherheit zu reduzieren, und ob eine fiktionale Auffassung des Staates ohne eine vollständig souveräne Autorität überhaupt zu denken ist, bleibt mehr als fraglich. Ist die fiktionale Auffassung des Staates nicht gerade der Kulminationspunkt einer Philosophie, die Freiheit von Politik fordert und so gerade Individuierung verhindert? Wie kann ein Staat als fiktive Person die Interessen seiner Bürger vertreten, ohne die Pluralität der Menschen und deren unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen zu berücksichtigen?
Waltraud Meints
Literatur:
Kari Palonen 2003: Quentin Skinner, History, Politics, Rhetoric, Cambridge