Ausgabe 1, Band 8 – April 2016
Zu Hannah Arendts philosophischer Neudeutung des Bösen durch die Willensanalyse
Manja Kisner
Dissertation (unter dem Titel: Das Böse zwischen Ontologie und Ethik. Hannah Arendt und Theodor W. Adorno), geschrieben an der Universität in Ljubljana, 2013.
In der Dissertation komme ich zu dem Schluss, dass die Kantische Vorstellung vom radikal Bösen aus der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft nur wenig mit Arendts Begriff aus Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft gemeinsam hat. Bei Kant ist das radikal Böse eine Folge menschlicher Freiheit und damit stimmt Arendts Ansicht überein. Doch besteht bei Kant eine feste Verbindung zwischen dem Bösen und dem menschlichen freien Willen, während Arendt als Ursache für das Auftreten des totalitären Bösen nicht die inneren Motivationen des Menschen in den Vordergrund stellt. Wenn das Böse bei Kant die Konsequenz einer verkehrten Hierarchie der Triebe ist (das heißt wenn man statt der Vernunft der sinnlichen, heteronomen Affiziertheit folgt), dann kommt er bei seiner Suche nach den Ursachen des Bösen nicht über den Egoismus oder die Sinnlichkeit hinaus. Der Grund für diese Abweichung kann dann nur in der menschlichen Willkür selbst liegen, die dem moralischen Gesetz vorsätzlich nicht folgt. Dementsprechend ist das Böse primär nicht mit den Taten verbunden, sondern mit den bösen Maximen, das heißt Motiven der Taten. Arendt zeigt dagegen schon in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, dass sie unter dem Begriff des radikal Bösen etwas viel Extremeres und überhaupt nicht Egoistisches versteht, das sogar unegoistisch und nicht-utilitär sein kann.
Im Vergleich des kantischen radikal Bösen mit Arendts Verwendung dieses Terminus zeichnet sich also ein großer Unterschied ab. Der erste Vorwurf, den Arendt Kant gegenüber vorbringt, betrifft den „pervertiert-bösen Willen“, den er zu etwas Begreiflichem rationalisiere. Insofern, als der kantische Begriff des radikal Bösen sich auf keine besonders schweren Verbrechen bezieht und vielmehr die Verwurzelung des Bösen (aus radix – Wurzel abgeleitet) in der menschlichen Natur betonen soll, kann man Arendts Bemerkung, dass Kant den Begriff rationalisierte und verharmloste, zustimmen. Dem gegenüber bezeichnet das Wort „radikal“ für Arendt etwas extrem Schlechtes und Verwerfliches, es ist mit einem „Alles-oder-nichts“-Prinzip verbunden, das die Sphäre des menschlichen Daseins zu verändern und zu zerstören sucht. Entsprechend stehen in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft nicht so sehr egoistische Taten im Vordergrund, sondern sie definiert ein totalitäres System, welches sich nicht in erster Linie um das eigene Wohl und den eigenen Nutzen kümmert.
Deswegen ist es notwendig, ihren Begriff des radikal Bösen nicht im Kantischen Sinne zu verstehen, denn damit lässt sich die Neuigkeit der Arendt’schen Konzeption der Totalitarismen nicht begreifen: Totalitäre Ideologien bringen in die politische Sphäre eine völlig neue Funktionsweise ein, die jenseits von Nutzen und Egoismus liegt und gerade die menschliche Freiheit, die bei Kant noch der Grund des Bösen war, zu zerstören sucht. Arendt wollte betonen, dass es bei Totalitarismen gerade nicht um den Egoismus geht, auch nicht um einen sublimierten, nicht unmittelbaren und nicht offensichtlichen Egoismus. In Hinblick auf das bisher Gesagte verteidige ich in der Arbeit die Ansicht , dass Arendt gerade die Inkommensurabilität zwischen Totalitarismen und anderen Systemen betont und infolgedessen ihre Konzeption des radikal Bösen nicht mit der von Kant übereinstimmen kann, wie auch eine Zurückführung auf seine Theorie nicht möglich ist.
In den sechziger Jahren vollzieht Arendt eine Wende in ihrer Deutung und Bewertung des Bösen. Als sie im Jahr 1961 den Eichmann-Prozess in Jerusalem verfolgt, ersetzt sie in ihrem Bericht und dem Buch Eichmann in Jerusalem (1963) den Begriff des radikal Bösen durch den der Banalität des Bösen. Es stellt sich dabei die Frage, wie diese Veränderung zu verstehen ist und ob es sich in der Tat um eine inhaltliche Umdeutung oder nur eine sprachliche Verbesserung handelt. Warum weist Arendt in ihren späteren Werken den Begriff des radikal Bösen zurück und wählt als passenderen Begriff in Bezug auf den Totalitarismus die Banalität des Bösen? Besonders die Analyse ihrer Position im Hinblick darauf, ob die Verbindung von Willen und Bösem auch bei der Banalität des Bösen von Bedeutung ist, hilft mir im Weiteren, diese Frage zu beantworten. Wenn sich mit der Analyse des Willens allein diese neue Form des Bösen nicht mehr erfassen und verstehen lässt, könnte man über einen Bruch zwischen dem Willen und der Bosheit sprechen. Folglich wäre auch leichter zu verstehen, warum Arendt die Banalität des Bösen als eine Folge von Gedankenlosigkeit und nicht Egoismus sieht. Damit befände sich Arendt auf den Spuren eines neuen philosophischen Konzepts des Bösen, auch wenn sie selber keine neue Theorie des Bösen formulieren wollte.
Um einen Einblick in das philosophische Denken von Arendt zu gewinnen, ist es notwendig, sich nicht primär Eichmann in Jerusalem zu widmen, sondern sich auch mit Arendts anderen, mehr theoretischen Werken zu beschäftigen. Besonders in dem Buch Vom Leben des Geistes (posthum erschienen 1978), das Arendt nicht mehr fertigstellen konnte, wollte sie sich philosophisch mit dem Bösen auseinandersetzen und dessen Relation zum Willen hinterfragen. Bereits in der Einleitung schreibt sie, dass sie vor allem durch den Begriff des Bösen und ihre Beobachtungen des Eichmann-Prozesses zu den Überlegungen über die Geistestätigkeiten – Denken, Wollen, Urteilen – angeregt wurde. Sie stellt fest, dass der Begriff der Banalität des Bösen im Gegensatz zu den literarischen, theologischen und philosophischen Denktraditionen des Bösen steht, in denen das Böse entweder etwas Dämonisches kennzeichnete oder vom Egoismus beziehungsweise der Begierde ausging. In diesen Fällen entsprang das Böse der Eifersucht, der Schwäche oder dem Hass, während Arendt in der Konfrontation mit dem Nazismus eine ganz anderen Form des Bösen entdeckt, dem keine Radikalität im Sinne von Verwurzelung zukommt.
Sie betont damit die Diskrepanz zwischen dem Willen und den Absichten auf der einen und den bösen Taten auf der anderen Seite. Für sie scheint der Wille des Täters weder etwas über ihn noch über seine Taten auszusagen: Man erkennt keine innere persönliche Übereinstimmung, vielmehr eine Spaltung zwischen dem Willen und den Taten sowie eine Leere des Willens selber. Natürlich hat auch ein solcher Mensch einen bestimmten Willen, doch gerade in der Beziehung zu Taten, die unendliches Unheil verursachen, findet man Arendt zufolge beim Akteur selber schwerlich einen besonderen Willen zum Bösen. Auch ohne eine erkennbare Verkehrtheit des Herzens oder ausgeprägten Egoismus resultieren die Taten in schlimmstem Unheils. Es bleibt nur das nackte, gedankenlose Handeln. Wenn die Verbindung zwischen dem Willen und dem Bösen entfällt, dann wird fraglich, ob Kants Methode der Bestimmung von Gut und Böse ausreicht. Wenn es bei der Banalität des Bösen um Taten ohne Maximen geht, ist verständlich, warum bei Arendt Selbstsucht, Egoismus oder Affiziertheit von der Sinnlichkeit nicht im Zentrum des Interesses stehen.
Bevor ich mich der genaueren Analyse des Willens zuwende, stelle ich mir zunächst die Frage, ob Arendts Verwendung des Begriffs des radikal Bösen mit ihrer Auffassung von der Banalität des Bösen vereinbar ist. Ich komme zum Resultat, dass man auf einer Vereinbarkeit beider Begriffe trotz allem insistieren kann, weil Arendts Verwendung des Begriffs des radikal Bösen schon in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft in eine ganz andere Richtung geht als die kantische, indem sie Radikalität ohne jede dämonische Verwurzelung mit gesellschaftlichen Extremen verbindet. Eine theologische Komponente ist hier nicht vorhanden, denn Arendt beschäftigt sich ausschließlich mit gesellschaftspolitischen Aspekten der Totalitarismen. Es scheint wahrscheinlicher, dass sie bereits in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft einen säkularen Begriff des Bösen im Blick hat und nicht erst nach dem Eichmann-Prozess. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Arendt den Begriff der Radikalität bereits in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft in einem neuen Wortsinn verwendet.
Wenn sich Arendt im zweiten Teil des Buches Vom Leben des Geistes der Analyse des Willens widmet, beginnt sie seine spezifischen Eigenschaften zu erforschen: die Verbundenheit des Willens mit der Freiheit und der Zukunft. Damit entsteht jedoch bereits das erste Problem in der Konzeption freien Willens, nämlich die Frage, wie sich die Gesetze der Kausalität mit denen der Freiheit zusammendenken lassen. Dieses Paradox ist für Arendt der Grund dafür, dass Philosophen selber meist am Begriff des freien Willens verzweifeln. Diese Tatsache ist für Arendts Interpretation des Willens von größter Bedeutung, da sie die Philosophen und auch alle anderen „Denker von Gewerbe“ verdächtigt, um ihrer Sicherheit willen der Freiheit, die immer Kontingenz mit sich bringt, lieber zu entsagen. Die Anfänge einer Theorie des Willens findet man folglich nicht im philosophischen Gebiet, vielmehr sind sie mit der Entwicklung des Christentums verbunden und bleiben dem philosophischen Denken oftmals fremd. Doch andererseits geht es im Christentum nicht um einen Willen, der mit der äußeren Freiheit der Bewegung oder Taten verbunden ist, sondern vielmehr um die innere Freiheit des Menschen und seiner Entscheidungen.
Im Christentum entwickelte sich der Willensbegriff in Verbindung mit dem Rückzug ins Innere und war für den Aufbau des principium individuationis verantwortlich. Trotz dieser Errungenschaft sieht Arendt einen negativen Aspekt in der Tatsache, dass sich der Wille dadurch gegen die Welt stellt und nur mit dem Selbst beschäftigt ist. Dieses Selbst ist für Arendt durch Alleinsein, Isoliertheit und Verlassenheit gekennzeichnet, was sich ihren Vorlesungen von 1965, die nach ihrem Tod in dem Buch Über das Böse veröffentlicht wurden, sehr klar entnehmen lässt. Deswegen kann man bei Arendt von einer Kritik der solipsistischen Tendenzen des Willens sprechen. Bereits in Vita activa exponiert sie den Begriff der Welt vor allem deshalb, um sich vom Subjektivismus zu entfernen, weil sie die Gefahr der neuzeitlichen Philosophie in ihrer Weltentfremdung sieht. Auch in Vom Leben des Geistes findet sich eine ähnliche Konfrontation mit dem Willen, die hier jedoch durch die geschichtlich-philosophische Untersuchung gekennzeichnet wird.
Um die negativen Aspekte des verinnerlichten Willens zu vermeiden, untersucht Arendt eine andere Freiheit: die politische und äußerliche Freiheit, die schon im alten Griechenland mit dem Leben in der Polis verbunden war und einen politischen Status hatte. Darin findet sie ihre Auffassung, dass Freiheit nicht notwendigerweise auf dem Willen basiert, bestätigt. Für die Antike war die Ich-kann-Einstellung charakteristisch, da es um den Zustand des Körpers und nicht den Geist oder das Bewusstsein ging, während sich die Willensfähigkeit nicht im Umfeld des Politischen, sondern im menschlichen Inneren entwickelte. Folglich interessiert sich der Wille nicht für die Welt der Erscheinungen und die Position der Menschen in dieser Welt, während das politische Gebiet von der äußerlichen, handelnden Freiheit bestimmt wird.
Für die Abgrenzung der Freiheit von der Souveränität hat sie auch politische Gründe. Für die politische Domäne ist die kantische Autonomie der praktischen Vernunft deswegen nicht von großem Nutzen. Das ist auch einer der Gründe, warum Arendt in ihrem gesamten Werk statt der Kategorie des Selbst eher die Kategorie der Pluralität betont, die nicht nur die Erweiterung des gespaltenen Ichs in die Vielheit, in das plurale Wir ist, sondern den zwischenmenschlichen Bereich einschließt. Wir werden immer in die Pluralität geboren, und aus der Beziehung zu sich selbst ist es nach Arendts Auffassung unmöglich, zum Wir, zum Begriff der Menschheit zu kommen. Hier sind politische Freiheit und das Urteilen wesentlich nützlichere Konzepte als der philosophische Wille. Statt für den inneren Willen entscheidet sich Arendt selbst für das Interesse an der Welt sowie für das inter homines esse.
Aus diesem philosophischen Kontext zeigt sich meiner Meinung nach, warum Arendt das totalitäre Böse nicht mehr mit dem Jargon der privaten Ethiken, für die das solipsistische Subjekt im Vordergrund steht, beschreiben will und sich lieber der politischen Ethik und Menschen im Plural zuwendet. Ihre Kritik des reinen Willens und der absoluten Souveränität zeigt gewisse Ähnlichkeiten mit Adornos Kritik an einem Willensbegriff, der jeglicher somatischen Impulse beraubt ist. Mit der Wende zur Pluralität entfernt sich Arendt von dem rigide gedachten Willen und dem Selbst und schreibt sich in die Denktradition des 20. Jahrhunderts ein, für die die Desubjektivierung und ein schwaches Subjekt, das das abstrakte Ich ersetzt, charakteristisch sind.
Totalitäre Systeme führen Arendt zufolge zu einem Verhalten, das nicht mehr primär in Kategorien von Egoismus/Nichtegoismus zu erfassen ist, weil es durch das Alles-oder-Nichts-Prinzip eher völlige Sinnlosigkeit und Ersetzbarkeit der Individuen vollständig verwirklichen möchte. Damit stehen in Arendts Deutung des Bösen Gedankenlosigkeit und Gleichmacherei von Menschen im Vordergrund. Dabei negiert sie die Relevanz des Willens für die Moralphilosophie nicht vollständig, sie ist sich nur dessen Unzulänglichkeit für die Erklärung der Totalitarismen bewusst. Der Wille und die Motivation zu Handlungen bleiben für moralische Theorien nach wie vor von legitimem Interesse. Für die politische Domäne hingegen ist die Sphäre des An-sich-Seins nicht von Bedeutung, weil für das Denken über das Plurale und Zwischenmenschliche andere Fähigkeiten gebraucht werden, insbesondere die Urteilskraft. Angesichts dessen setzt Arendt die Welt, die wir mit anderen Menschen teilen möchten, als zentralen Bestimmungsgrund des Urteilens über das Gute und das Böse. Böse Menschen, denen wir ihre Taten nicht vergeben können, sind diejenigen, mit denen wir die Welt nicht teilen möchten. Arendt ist überzeugt, dass man mit dem Typus Eichmann aufgrund seiner unfassbaren Indifferenz der Welt und anderen Menschen gegenüber die Welt nicht teilen möchte. Die Präsenz dieser „Menschen ohne Eigenschaften“ auf der politischen Weltbühne des zwanzigsten Jahrhundert konnten ältere moralische Theorien, Kants inbegriffen, nicht antizipieren.
1 Das Böse zwischen Ontologie und Ethik. Hannah Arendt und Theodor W. Adorno, geschrieben an der Universität in Ljubljana, 2013. <das ist eine Literaturangabe, die zu wünschen übrig lässt; ich würde vorschlagen, von Frau Kisner die genauen Angaben einzuholen: Fakultät; Druck-/Msfassung; wann Diss. abgeschlossen.>
2 Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955), München-Zürich 2011, S. 942.
3 Vgl. ebd., S. 916.
4 Ebd., S. 942.
5 Die meisten Interpretationen beschäftigen sich ausführlicher mit anderen Teilen dieses Werkes, wie etwa Max Deutscher (Judgment after Arendt), umfassender betrachtet auch Jacques Taminiaux in seinem Buch The Thracian Maid and the Professional Thinker über das Verhältnis zwischen Heideggers und Arendts Philosophie. Dag Javier Opstaele thematisiert in seinem Buch Politik, Geist und Kritik. Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff gerade dieses Fehlen guter Studien über Arendts letztes Buch und erläutert das Verhältnis zwischen ihrem früheren Werk und dem Buch Vom Leben des Geistes.
6 Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, aus dem Amerikanischen von Hermann Vetter (1978) [zwei Bände in einem], München-Zürich 2008, S. 442.