Ausgabe 1/2, Band 6 – November 2011
Thomas Wild, Nach dem Geschichtsbruch: Deutsche Schriftsteller um Hannah Arendt, Berlin (Matthes & Seitz) 2009.
Ein Deutscher, ein Jude, und Freunde Oder: Versuch über das Und
Als Hannah Arendt im Dezember 1975 in New York redend und rauchend in ihrem Sessel starb, las man im New Yorker: „Some days ago Hannah Arendt died, at the age of sixty-nine. We felt a tremor, as if some counterweight to all the world’s unreason and corruption had been removed.“ Und: “She revered the poets of the world, as though she did not know – is it possible she did not know? – that cerebration itself, when it was hers, became poetry.”
Arendts Dichterverehrung erschien der Öffentlichkeit auf jener Seite des Atlantiks als „Gegengewicht“ zu Unverstand und Korruption in der Welt. Ihr Denken öffnete neue Welten und schuf dem Denken selber neuen Grund – wie die Poesie. So sahen es ihre US-amerikanischen Zeitgenossen. Ihr Wirken in Deutschland hingegen scheint zu Lebzeiten weit weniger grundbildend gewesen zu sein. Natürlich gab es sie auch hier, die Intellektuellen und Schriftsteller, die mit ihr im Austausch standen, Doch war ihre Aufnahme in der Bundesrepublik, wie der Literaturwissenschaftler Thomas Wild das wiedergibt: „verquerer“. Sie selbst witzelte darüber einmal in einem Brief an einen jungen Studenten. „Wir selber pflegten dazu im Hause zu sagen: ‚Korf erfand eine Art von Witzen, die erst 24 Stunden später wirkten.’“
Wild zitiert diesen Brief in seiner Arbeit „Nach dem Geschichtsbruch“. Er hat sich dem unbekannten Gebiet von Arendts Aufnahme unter Schriftstellern in der BRD gewidmet. Wen hat sie gekannt, mit wem hat sie sich geschrieben und worüber? Nicht mit Günther Grass, nein: mit Uwe Johnson befreundete sie sich im Goethe-Haus in New York bei einer Lesung; auf die gleiche Weise lernte sie auch Ingeborg Bachmann kennen. Hilde Domin erlebte Hannah Arendt 1958 in der Paulskirche und war elektrisiert; Hans Magnus Enzensberger gelangte über den Merkur-Herausgeber Hans Paeschke mit Arendt ins briefliche Gespräch über sein Buch Politik und Verbrechen. Bei Hochhuth war es die zeitliche Nähe des Stellvertreter-Skandals mit Arendts Eichmann-Streit.
Thomas Wild konzentriert sich in seiner Studie auf Schriftsteller und zwar auf jene, mit denen Arendt irgendwann im brieflichen Kontakt stand. So erklärt sich, warum eine so wichtige Figur wie der Literaturkritiker und Schriftsteller Reinhard Baumgart (geb. 1929) nicht gesondert beleuchtet wird, obwohl er einige der interessantesten Rezensionen in der BRD über Arendts Arbeiten verfasst hat. Abgesehen von der fast gleichaltrigen Jüdin Hilde Domin (geb. 1909) sind alle übrigen Personen, deren Beziehung Wild untersucht hat, im Nationalsozialismus aufgewachsen (Bachmann geb. 1926, Enzensberger geb. 1929, Hochhuth geb. 1931, Uwe Johnson geb. 1934). Alle 5 Personen treffen auf Hannah Arendt -- so erkennt man, auch wenn Thomas Wild das nicht in allen Fällen deutlich sagt -- im Moment einer eigenen biographischen und denkerischen Neuorientierung. Enzensberger traf auf Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft während seiner Ablösung von der Frankfurter Schule. („Dass man nach der Lektüre eines Buches sagt, von heute an sehe ich die Dinge ganz anders“, sei eine Erfahrung, die man nicht oft mache, zitiert ihn Thomas Wild.) Hilde Domin befand sich am Scheidepunkt ihrer Rückkehr nach Deutschland, als sie 1958 Arendts Preisrede in der Paulskirche hörte, Ingeborg Bachmann stand an der Schwelle zu ihren Todesarten, und Hochhuth musste sich (zur gleichen Zeit wie der Eichmann-Skandal) den öffentlichen Attacken auf sein Stück Der Stellvertreter stellen. Wer auf der Suche ist begegnet Hannah Arendt, denn: Sie denkt nicht mit dem üblichen Geländern, sie tritt der Wirklichkeit entgegen und entfaltet in Zeiten vorherrschender ideologischer Gewissheiten (Kalter Krieg) die Kunst des Unterscheidens und des Selbstdenkens („Politics is the art of drawing distinctions“). „Hilflos“ sei die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik gegenüber ihrem Ansatz, schreibt Hannah Arendt. Was es mit dieser Hilflosigkeit auf sich hat, wird nicht weiter ausgeführt.
Wild hat die große Gabe, und das macht dieses Buch so lesenswert, den spärlichen vorhandenen Materialien (Brief, Rezension, Essay) andere geistige Korrespondenzen hinzuzugesellen, und so liefert er, indem er den Raum der Begegnungen ausleuchtet, wie nebenbei Fragmente eines Porträts der Bundesrepublik. „Wir denken in vielen Dingen ähnlich“, formuliert es Arendt im Bezug auf Ingeborg Bachmann. Wild baut seine Studie auf dem Begriff der „Konstellation“ und betont, dass durch derartige Konstellationen „Facetten des Denkens und Schreibens dieser Autoren sichtbar“ würden, „die nur in dieser Konstellation, mit Hannah Arendt, sichtbar werden können“ (so wie nur bestimmte Freunde bestimmte Seiten einer Person zur Erscheinung bringen). Ob Domins Bild von der „Spruchbebänderung der Welt“ oder Bachmanns „Herstellung einer anderen Wirklichkeit in der Sprache“ tatsächlich durch das Treffen mit Hannah Arendt in neuem Lichte erscheinen, darüber werden Literaturwissenschaftler nun weiterforschen können. Auch die Spuren, die Wild im politischen Debakel der Nachkriegsrepublik erkennt und selber legt, bieten Stoff zum Weiterdenken. Arendts Leidenschaft, „Unterscheidungen zu treffen“, war sicher für viele eine Grundierung des Denkens: Man könne, hatte Arendt in ihrer Lessing-Preisrede gesagt, dem Nationalsozialismus nicht mit dem Satz „Wir sind doch alle Menschen!“, sondern nur mit der Haltung „Ein Deutscher, ein Jude, und Freunde“, begegnen. Arendt ihrerseits ist offensichtlich neugierig auf jene Vertreter der Kriegsjugend-Generation, die „zu Hause“ sind, wenn die Schuld an der Tür pocht (Bachmann). Doch Arendt kritisierte gegenüber Enzensberger auch den „scheinbaren Radikalismus“ des Generalnenners: „Sie wissen überhaupt nichts, aber sie wissen alles besser.“ Am Konkreten festhalten und Unterschiede nicht zugunsten von Konstruktionen verwischen, lautete ihre Botschaft an Enzensberger.
Geistige Korrespondenzen und Fragen prägen, so beschreibt es Thomas Wild, die Begegnungen. Was ist Gestern und was Morgen? Ist Poetik eine Praxis zwischen Menschen? Doch Begegnung ist nicht Begegnung. Beim Tod von Karl Jaspers formulierte Hannah Arendt: „Hie und da taucht unter uns einer auf, der das, was wir sonst nur als Begriff oder Ideal kennen würden, leibhaftig verkörpert.“ Enzensberger, Domin und Hochhuth blieben letztlich in Arendts Kosmos am Rande. Ähnlich sieht, so Thomas Wild, auch die Bekanntschaft mit Ingeborg Bachmann aus, die nach einigen wenigen Briefen beendet schien; Bachmanns Utopie-Gedanke sei der Beziehung vielleicht im Wege gestanden, mutmaßt der Autor.
Tatsächlich war die Begegnung mit Bachmann für Arendt nicht zu Ende und es wurde in ihr Grundlegenderes berührt als in den anderen Bekanntschaften. Spuren dazu finden sich im Briefwechsel mit Uwe Johnson. Im August 1974 schrieb Arendt aus dem Schweizerischen Feriendomizil Tegna an den gemeinsamen Freund über Bachmanns Novelle „Drei Wege zum See“: „Wie schön die letzte Novelle mit der großen Liebe!“ Und an seinem Bachmann-Porträt, das er ihr zusandte, monierte sie: „Wäre es in ihrem (Bachmanns, MLK) Sinne gewesen, die Männer einfach aus ihrem Leben zu streichen?“ Uwe Johnson muss diesen Hinweis falsch verstanden haben. („Was Frau Bachmanns privates Leben angeht, so hätte ich mir nicht vorstellen können, darauf hinzudeuten.“) Arendt hatte nicht im Sinn, dass Johnson über Bachmanns Männergeschichten Auskunft geben sollte. Vielmehr ging es ihr vielleicht darum, dass Bachmann ihr, Arendt, ein „Ideal verkörperte“, im Jasperschen Sinne: Das Entbrennen für die Liebe macht den Menschen zum Menschen.
Sollt ich die kurze schauerliche Zeit
nur mit Gedanken Umgang haben und alleinnichts Liebes kennen und nichts Liebes tun?
Muß einer denken? Wird er nicht vermißt?
heißt es schließlich in Bachmanns vielleicht berühmtestem Gedicht.
Marie Luise Knott