Ausgabe 1, Band 8 – April 2016
Das Politische bei Arendt
Einleitung
Diese Thesen werden begründet, indem gezeigt wird, dass Arendt erstens innerhalb des Politischen zwischen Angelegenheiten, Ordnungen und Handlungen unterscheidet und zweitens das Politische nicht nur vom Präpolitischen absetzt, sondern sich auch das Politische selbst als etwas Duales vorstellt, das eine vorpolitische und eine politische Dimension aufweist. Zu diesem Zweck wird im Folgenden nicht nur im Einzelnen beschrieben, was Arendt unter politischen Angelegenheiten, politischer Ordnung und politischen Handlungen im Gegensatz zu präpolitischen Angelegenheiten, präpolitischer Ordnung und präpolitischen Handlungen versteht, sondern auch dargelegt, dass sich die dem Politischen innewohnende Dualität nach Arendt darin äußert, dass sie innerhalb des Politischen zwischen vorpolitischen Angelegenheiten, vorpolitischer Ordnung und vorpolitischen Handlungen und politischen Angelegenheiten, politischer Ordnung und politischen Handlungen unterscheidet.
I. Das Politische als menschliche Angelegenheit
Arendt unterscheidet zunächst die Angelegenheiten, die als politische jeden angehen, von den privaten und sozialen bzw. von den präpolitischen Angelegenheiten im Allgemeinen. Bei den politischen Angelegenheiten geht es nach Arendt anders als bei nicht politischen Angelegenheiten nicht um die Sicherung des Überlebens und um rein private Interessen, sondern um die gemeinsame Welt, die gerade dort beginnt, wo die Sorge um das Überleben endet und eine Welt anfängt, die sich nicht um die Interessen Einzelner kümmert (Arendt 2005, 38-47).
Arendt unterscheidet politische nicht nur von präpolitischen oder besser gesagt apolitischen, sondern auch von vorpolitischen Angelegenheiten. Denn für Arendt ist nicht jede Angelegenheit, über die Menschen mit- und gegeneinander reden, auch gleich eine politische Angelegenheit. Sie macht vielmehr einen Unterschied innerhalb der Dinge, die zwischen den Menschen liegen. Solche Dinge können sowohl vorpolitisch als auch politisch sein. Hierbei stellt sich allerdings die Frage, was eine vorpolitische Angelegenheit ist und wie Arendt zwischen vorpolitischen und politischen Dingen unterscheidet.
Warum jedoch sind solche Werke, Taten und Worte lediglich vorpolitisch und nicht politisch bzw. wie unterscheidet Arendt die vorpolitischen Dinge von den politischen? Der Unterschied zwischen vorpolitischen und politischen Angelegenheiten kann nur dann begriffen werden, wenn man zeigt, was Arendt unter vorpolitischer und politischer Ordnung versteht, denn die Unterscheidung zwischen den Angelegenheiten hängt eng mit der in der Sekundärliteratur vielfach unterschiedlich ausgelegten und rezipierten, ordnungsbezogenen Unterscheidung zusammen (vgl. Benhabib 1998, 200 ff.; d´Enterèves 1994, 84 f.; Kateb 2000, 133 ff; Taminiaux 2000, 165 ff.; Villa 1999, 128 ff; Villa 2000, 8 ff.). Um diese Frage zu beantworten, muss deswegen an dieser Stelle zuerst dargelegt werden, wie Arendt auf der einen Seite die politische Ordnung von der präpolitischen Ordnung absetzt und auf der anderen Seite innerhalb des Politischen zwischen vorpolitischer und politischer Ordnung unterscheidet.
II. Das Politische als spezifische Weise des Zusammenlebens
Es stellt sich jedoch die Frage, wie Arendt die politische von der vorpolitischen Ordnung unterscheidet und welche Gemeinsamkeiten sie trotz ihrer Unterschiede haben. Der Unterschied lässt sich nun besser erschließen, wenn bedacht wird, dass Arendt die vorpolitische genauso wie die politische Ordnung als Raum begreift, in dem die Menschen sich unter ihresgleichen bewegen (vgl. Arendt 2007, 47). Dies ist nicht deshalb der Fall, weil sie von Natur aus gleich sind, sondern weil sie sich in unnatürlicher Art und Weise als Gleiche anerkennen und behandeln, wenn sie sich auf gemeinsame Unternehmungen einlassen (vgl. Arendt 2012, 104; Arendt 1986, 225; Arendt 2005, 34 f.). Dementsprechend bemerkt Arendt in „Die Ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus“, dass man sich klarmachen muss,
„daß sowohl Freiheit wie Gleichheit als politische Prinzipien weder durch eine transzendente Instanz, vor der alle Menschen qua Menschen gleich sind, noch durch ein allgemeinmenschliches Schicksal wie den Tod, der alle Menschen gleichermaßen eines Tages aus dieser Welt nimmt, bestimmt sind. Sie sind vielmehr innerweltliche Prinzipien, die aus dem Zusammen der Menschen, ihrem Miteinanderleben und Gemeinsamhandeln, direkt erwachsen.“ (Arendt 2012, 104)
Die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit entspringen nach Arendt deshalb „aus dem Zusammen der Menschen, ihrem Miteinanderleben und Gemeinsamhandeln“ (ebd., 194), weil „niemand alleine handeln kann.“ (Arendt 2006b, 427) Sie behauptet „daß das Handeln zwar in Vereinzelung begonnen und von wenigen Entschlusskräftigen, die sich über ihre Motive einig sind, beschlossen wird, daß es aber nur durchgeführt werden kann in einer gemeinsamen Anstrengung, welche die Vielen miteinbezieht“ (Arendt 1986, 225). Aus diesem Grunde muss jeder, der in der Welt etwas erreichen möchte, sich zunächst an andere richten und sie ansprechen, um sie für eine gemeinsame Unternehmung gewinnen zu können. Wenn man sich um einer gemeinsamen Unternehmung willen an andere richtet und sie anspricht, richtet man sich implizit auch an den Prinzipen der Gleichheit und Freiheit aus.
Wie unterscheidet aber Arendt beide Räume voneinander, wenn sie davon ausgeht, dass sich in diesen Räumen Menschen unter ihresgleichen bewegen? Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der vorpolitischen und der politischen Ordnung sind sowohl in „Vita activa“ als auch in „Was ist Politik?“ Gegenstand ihrer Betrachtungen, obgleich diese Unterscheidung in „Was ist Politik?“ eine zentrale Rolle in der Analyse spielt und in „Vita activa“ eher am Rande erfolgt (vgl. Arendt 2005, 248 f.; Arendt 2007, 44-53):
Allerdings ist es nur natürlich, daß sich nun in diesem im eigentlichen Sinne politischen Raum das verschiebt, was man unter Freiheit verstand; der Sinn des Unternehmens und des Abenteuers tritt mehr und mehr zurück, und das, was bei diesen Abenteuern gewissermaßen nur das unerlässliche Beiwerk war, die ständige Anwesenheit der Anderen, der Verkehr mit seinesgleichen in der Öffentlichkeit der Agora, die, wie Herodot sagt, ‚isegoria‘, wird zum eigentlichen Inhalt des Frei-Seins. (ebd., 47, Hervorhebung von K. S.)
Während also im vorpolitischen Zusammensein die gegenseitige Anerkennung der Menschen als Gleiche und Freie zwar ein unerlässliches, aber doch lediglich Beiwerk ist, ist dies in der politischen Ordnung die Maxime, an der sich alle Handlungen auszurichten haben. Die institutionalisierte Form des Zusammenlebens der Menschen als Gleiche und Freie ist also politisch, wohingegen der zufällig und spontan entstandene öffentliche Raum, in dem sich die Menschen unter ihresgleichen bewegen, vorpolitisch ist.
III. Das Politische als Handeln
Unter dem Politischen versteht Arendt auch Handlungen, die spezifisch geartet sind und sowohl eine vorpolitische als auch eine politische Dimension aufweisen und sich von dem nicht politischen Sich-Verhalten absetzen.
Für Arendt ist also die Polis nicht nur eine Bühne, auf der sich die Helden treffen und sich mittels Worten und Taten enthüllen können, sondern auch ein politischer Raum, in dem die Möglichkeit der Beteiligung an den menschlichen Angelegenheiten rechtlich gesichert und auf Dauer gestellt ist (vgl. ebd., 96 f.). Politisches Handeln in der Polis vollzieht sich nicht durch ein agonistisches ‚Sich-Aneinander-Messen‘, sondern durch ‚Miteinander-Reden‘ über die Dinge, die jeden angehen und betreffen. In dieser Freiheit des Miteinander-Redens über die menschlichen Angelegenheiten werden die Dinge der allen gemeinsamen Welt von unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und erst darin ersteht „die Welt als das, worüber gesprochen wird, in ihrer von allen Seiten her sichtbaren Objektivität“ (ebd., 52).
Richtet sich der Blick auf das Fragment 3a von „Was ist Politik?“, das den Titel „Den Sinn von Politik“ trägt, dann kann jedoch auch festgestellt werden, dass vorpolitisches Handeln im Homerischen Erscheinungsraum kommunikativere Züge trägt als gemeinhin angenommen wird; und dass die dramaturgische Dimension des Handelns ein zwar nicht unwichtiger, aber dennoch nur ein Nebeneffekt des vorpolitischen Handelns ist. Denn die von den materialen Sorgen befreiten Helden, die den Mut finden, die Schwelle des Hauses, in dem die Menschen geboren und verborgen sind, zu verlassen, um etwas Unerhörtes zu beginnen, sind auf die Unterstützung der Mithandelnden angewiesen, die bei der Durchführung ihrer Unternehmung zur Hilfe eilen (vgl. ebd., 48 ff.). Das Handeln kann, so Arendt, „niemals in Isolation erfolgen, sofern derjenige, der etwas beginnt, damit nur zu Rande kommen kann, wenn er Andere gewinnt, die ihm helfen. In diesem Sinn ist alles Handeln ein Handeln ‚in concert‘, wie Burke zu sagen pflegte“ (ebd., 50). Das Handeln, das sich nur zusammen mit anderen vollziehen kann, kann nicht auf das agonistische ‚Sich-Aneinander-Messen‘ reduziert werden, weil diejenigen, die etwas Unerhörtes anfangen wollen, mit ihrem Handeln vielmehr die Anderen in Bewegung setzen müssen, um das Angefangene zu Ende zu führen (vgl. ebd., 50, 94 ff.). Deshalb heißt es in „Vita activa“ auch, dass das Handeln und Sprechen sich in demjenigen Bereich bewegt, „der zwischen Menschen qua Menschen liegt, sie richten sich unmittelbar an die Mitwelt, in der sie die jeweils Handelnden und Sprechenden auch dann zum Vorschein und ins Spiel bringen, wenn ihr eigentlicher Inhalt ganz und gar ‚objektiv‘ ist, wenn es sich um Dinge handelt, welche die Welt angehen, also den Zwischenraum, in dem Menschen sich bewegen und ihren jeweiligen, objektiv-weltlichen Interessen nachgehen.“ (Arendt 2005, 224) Wenn man also – gleichgültig, ob im institutionalisierten Raum des Politischen oder im vorpolitischen Erscheinungsraum – handelt, richtet man sich an die Anderen und versucht, diese zu bewegen. Handeln und Sprechen dienen nicht der Selbstdarstellung – vielmehr spricht man die Anderen an und bewegt sich auf sie zu, um sie bewegen zu können, wobei dann ganz ohne Zutun der Handelnden zum Vorschein kommt, wer man ist (vgl. ebd., 224 f.).
Doch was versteht Arendt unter vorpolitischem Handeln? Vorpolitisches Handeln unterscheidet sich von dem politischen vor allem dadurch, dass es in einem ungesicherten Erscheinungsraum der Freiheit stattfindet; in diesem Raum ist das Handeln-Können viel zu sehr von dem Mut und der Tatkraft derjenigen abhängig, die es trotz der Risiken wagen, sich an den menschlichen Angelegenheiten zu beteiligen – weshalb solche Handlungen heroische Züge aufweisen, da das Handeln in diesem Bereich gleichbedeutend damit ist, sein Leben zu riskieren (vgl. Arendt 1994, 208; Arendt 2007, 51). Was hier im Gegensatz zum politischen Raum fehlt, ist nicht nur die durch das Recht gewährleistete Sicherheit, sondern auch die durch Institutionen garantierte Dauer. Denn der Erscheinungsraum entsteht selbst erst durch das spontane Zusammen-Handeln der Vielen und er verschwindet auch wieder, wenn sie auseinandergehen. In diesem Bereich ist das Handeln identisch damit, etwas Neues ins Dasein zu rufen oder Prozesse zu durchbrechen (vgl. Arendt 2005, 216). Überall dort, wo, aus welchen Gründen auch immer, der politisch-öffentliche Raum nicht vorhanden ist oder zerstört wurde, ist diese Identität von Handeln und ‚etwas Neues in die Wirklichkeit rufen‘ gegeben. Denn diejenigen, die es trotz der Risiken in diesem Bereich wagen, etwas Gemeinsames mit anderen zu unternehmen, rufen den Raum der Erscheinungen ins Leben, auf den nach Arendt der institutionell gesicherte politisch-öffentliche Raum gegründet werden kann. Der Erfolg hängt dabei nicht nur von dem Mut der Handelenden ab, sondern auch deren Tatkraft bzw. ihrer Performanz.
Schluss
Zwei Thesen zu Arendts Begriff des Politischen lagen diesem Aufsatz zu Grunde, der beabsichtigt hat, das System, das Arendts Verständnis der Politik innewohnt, zu enthüllen: Erstens wenn Arendt von Politik oder vom Politischen spricht, meint sie damit, je nach Zusammenhang entweder einen bestimmten Typ von Angelegenheiten oder Ordnung oder Handlungen. Zweitens wurde behauptet, dass Arendts Verständnis des Politischen eine unaufhebbare Dualität innewohnt, die sich vor allem darin äußert, dass Arendt nicht nur zwischen dem Politischen und dem Präpolitischen unterscheidet, sondern auch innerhalb des Politischen selbst zwischen einem vorpolitischen und einem politischen Bereich differenziert. Zur Begründung dieser Thesen wurde im Einzelnen beschrieben, was Arendt jeweils unter präpolitischen, vorpolitischen und politischen Angelegenheiten, Ordnungen und Handlungen versteht – und wie sie sie voneinander unterscheidet.
Im ersten Schritt, in dem das Politische als ein bestimmter Typ von Angelegenheiten genauer betrachtet wurde, wurde gezeigt, dass für Arendt alle diejenigen Angelegenheiten als präpolitisch einzustufen sind, die privater und sozialer Art und daher nicht Bestandteile einer allen gemeinsamen Welt sind. Kennzeichnend für diese Dinge ist Arendt zufolge die Möglichkeit, sie verwaltungsmäßig zu erledigen, weil man, so Arendt, mit Sicherheit Maßnahmen zu deren Erledigung errechnen kann. Dargelegt wurde auch, dass vorpolitische und politische Angelegenheiten demgegenüber zur allen gemeinsamen Welt gehören, weil sie alle Menschen angehen und das Interesse der Vielen wecken. Zu diesen Angelegenheiten gehören aus Arendts Sicht Verfassungen, Gesetze, Institutionen, Sachverhalte, große Taten und Reden, Ereignisse, Dinge und Konflikte, die allesamt öffentlich bedeutsam sind und öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In diesem Zusammenhang wurde auch erläutert, dass Arendt mit Blick auf die Angelegenheiten, die der allen gemeinsamen Welt angehören, zwischen vorpolitischen und politischen Angelegenheiten differenziert: Während das Kennzeichen der vorpolitischen Angelegenheiten, zu denen außerordentliche Taten und das erhabene Verhalten der heldenhaften Frauen und Männer gehören, in deren Glanz und Größe besteht, sind die politischen Angelegenheiten wesentlich durch ihre Strittigkeit gekennzeichnet. Im Unterschied zu den Werken, Taten und Worten der Helden umfassen die politischen Angelegenheiten all das, was Menschen unterschiedlich erscheinen kann und wozu sie sich unterschiedlich verhalten können, sodass bei der Regelung derartiger Dinge ein Diskussionsbedarf entsteht.
Im nachfolgenden zweiten Schritt, der dem Politischen im Sinne eines bestimmten Typus des Zusammenlebens bzw. der Ordnung gewidmet war, wurde erstens hervorgehoben, dass die Ordnung des präpolitischen Bereichs bedingt ist durch die natürlichen Ungleichheiten zwischen den Menschen, die dem Zusammenleben in diesem Bereich inhärent sind. Denn in diesem Bereich existieren feststehende, von allen anerkannte und zu verwirklichende Zwecke. Da nun hinsichtlich der Frage danach, welche Mittel und Strategien geeignet sind, beispielsweise lebensnotwendige Konsumgüter zu präparieren und lebensförderliche Gebrauchsgüter herzustellen, sach- und fachkundige Menschen einen Wissensvorsprung gegenüber anderen haben, gibt es in diesem Bereich fest angelegte Hierarchien, innerhalb derer zwischen Befehlenden und Befehlsempfängern unterschieden wird. Das Leben im politischen Bereich ist demgegenüber ein Leben unter Gleichen, weil es in dieser Sphäre gerade keine allseitig anerkannten Zwecke und regulativen Maßstäbe gibt. Diese werden vielmehr selbst zum umstrittenen Diskussionsgegenstand. Die Abwesenheit unumstrittener Zwecke bzw. der darüber geführte Streit hat zur Folge, dass in diesem Bereich niemand Wissen darüber beanspruchen kann, was die gemeinsamen Angelegenheiten in ihrem Wesen ausmacht und wie diese geregelt werden sollen. In diesem Zusammenhang wurde auch dargelegt, dass Arendt die politische Ordnung nicht nur von der privaten, von ihr als nicht-politisch eingestuften Ordnung unterscheidet, sondern diese auch noch parallel und zusätzlich von der vorpolitischen Ordnung absetzt. Denn obwohl beide Ordnungstypen ihre Gemeinsamkeit in den leitenden Prinzipien finden, an denen sich die Menschen in ihrem Tun und Lassen richten – nämlich Freiheit und Gleichheit –, so besteht dennoch ein wesentlicher Unterschied zwischen ihnen: Die aus dem Zusammensein und dem gemeinsamen Handeln der Menschen entspringende vorpolitische Ordnung bleibt aus Arendts Sicht etwas Flüchtiges, das sich wieder auflöst, wenn die Menschen wieder auseinander gehen. Demgegenüber ist die politische Ordnung eine stabilisierte Ordnung der Freiheit, die explizit auf die dem Handeln immanenten Prinzipien der Freiheit und Gleichheit ausgerichtet ist. Während das vorpolitische Zusammensein als Zusammensein spontan aus der Verpflichtung auf eine gemeinsame Unternehmung hervorgeht und hierbei die wechselseitige Anerkennung der Menschen als Gleiche und Freie als unerlässliches Beiwerk umfasst, ist das charakteristische Merkmal der politischen Ordnung ihre Verfassung, weil diese Ordnung den immanenten Prinzipien des Handelns gemäß konstituiert ist. Hier wurde auch dargelegt, dass da ohne vorpolitische Ereignisse und Erfahrungen keine politische Ordnung im Sinne Arendts gegründet werden kann, die Dualität, die dem Arentschen Verständnis der politischen Ordnung eingeschrieben ist, unaufhebbar ist.
Im letzten Schritt wurde schließlich dargelegt, dass unter das Politische für Arendt auch spezifisch geartete Handlungen fallen, die ebenfalls vorpolitische sowie politische Dimensionen aufweisen und vom präpolitischen Sich-verhalten abgegrenzt werden. Während sich die Menschen bei ihrem im präpolitischen Bereich angesiedelten Tun und Lassen nur verhalten, weil sie hierbei entweder sachgerechte Befehle erteilen oder durchführen, ist vorpolitisches und politisches Handelns durch Freiheit gekennzeichnet. Diese Freiheit versteht Arendt wiederum als Fähigkeit, ‚etwas Neues in die Wirklichkeit zu rufen‘. Obwohl also sowohl das vorpolitische als auch das politische Handeln durch Freiheit geprägt ist, wurde auch in diesem Zusammenhang auf den wesentlichen Unterschied zwischen beiden Typen hingewiesen: Während das politische Handeln seinen Ort in einem gesicherten Raum der Freiheit findet, in dem die Menschen versuchen, die Meinung der anderen über unterschiedliche gemeinsame Angelegenheiten durch Reden und Überreden sowie durch die Eröffnung unterschiedlicher Perspektiven zu verändern, findet das vorpolitischen Handeln in einem ungesicherten Raum der Erscheinungen statt, in dem sich die Menschen mit der Absicht aufeinander zubewegen, etwas neues in die Wirklichkeit zu rufen oder bestimmte Prozesse zu durchbrechen.
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*Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft an der TU-Darmstadt, promovierte mit einer Arbeit zu Hannah Arendt unter dem Titel Krise, Macht und Gewalt. Hannah Arendt und die Verfassungskrisen der Türkei von der spätosmanischen Zeit bis heute, Baden-Baden: Nomos (i. E.). Aktuelle Veröffentlichung: „Die türkische Verfassung unter dem Einfluss des EU-Reformprozesses“, in: Der Staat, B. 54, H. 2, 2015, S. 159–199«. E-Mail: (kahramansolmaz@yahoo.de).
1Nach Maurizio Passserin d´Entrèves unterscheidet Arendt auf der einen Seite „expressive“ und „communicative“ Typen des Handelns voneinander, auf der anderen Seite macht sie ihm zufolge einen Unterschied zwischen Politik als „performance of noble deeds by outstanding individuals [und Politik als, K.S.] collective process of deliberation and decision-making“ (d´Entrèves 1994, 85). Aus der Sicht von Seyla Benhabib differenziert Arendt zwischen politischem Handeln und politischem Raum, wobei sie auf der Seite des Handelns wiederum zwischen „agonalem“ und „narrativem“ Handeln und auf der Seite des politischen Raumes zwischen Erscheinungsraum – bei dem der narrative Typus des Handelns zur Geltung kommt – und dem öffentlichen Raum als Ort des agonalen Handlungstypus,unterscheidet (Benhabib 1998, 200 ff.). Jacques Taminiaux geht ähnlich wie d´Entrèves von der Unterscheidung zwischen kommunikativen und agonalen Typen des Handelns aus, wobei beide Typen in dem gleichen Raum, nämlich in der Polis vonstatten gehen können (vgl. Taminiaux 2000, 174 ff.) Andreas Kalyvas unterscheidet zwischen „agonistic, heroic, and self-revelatory aspects of politics“ (Kalyvas 2009, 200) wie in „Vita activa“ und Politik als „founding“ wie in „Über die Revolution“ (vgl. ebd. 200 ff.). Demgegenüber ist Dana Villa derjenige Autor, der die von den anderen Autoren wahrgenommene Dualität des Politischen bei Arendt zwar nicht klein reden will, aber dennoch zu zeigen versucht, dass beide Momente des Politischen bei Arendt zusammengehören und nicht strikt voneinander unterschieden werden können (vgl. Villa 1999, 128 ff.). Aus Villas Sicht trifft Arendt die Unterscheidung, weil sie uns die „nature of a healthy public sphere and the reasons for its contemporary decline [beibringen will, K.S.].“ (Villa 1999, 130)
2Arendt unterscheidet begrifflich nicht zwischen der Politik und dem Politischen. Ein Blick in „Was ist Politik?“ zeigt, dass sie beide Wörter synonym verwendet (vgl. Arendt 2007, 38). Sie interessiert sich auch nicht nur für das Sein und Wesen des Politischen, sondern auch dafür, welche Organisationsform das Politische gemäß seiner Beschaffenheit mit sich bringt (für die Unterscheidung zwischen Politik und dem Politischen vgl. Bedorf 2010, 13 ff.).
3Die Welt ist nach Arendt im Gegensatz zum Raum des Privaten das, was uns allen gemeinsam ist (Arendt 2005, 65; vgl. auch Benhabib 1998, 206). Sie ist der Raum, der immer wieder entsteht, wenn Menschen zusammenkommen und sich aneinander richten und miteinander reden – und sie ist der Ort, an dem sich alle menschlichen Angelegenheiten abspielen (vgl. Arendt 2005, 224 f.; Arendt 2007, 24 f.).
4In diesem Sinne ist die Differenz zwischen Arendt und Max Weber nicht allzu groß. Auch Weber geht z. B. in „Politik als Beruf“ davon aus, dass nur bestimmte Berufe Menschen die Möglichkeit geben, sich an Politik zu beteiligen, wobei andere Berufe Menschen eher von der Politik wegführen, weil sie diese zu sehr in Anspruch nehmen (Weber 2006, 572 ff.). Für beide gilt auch, dass derjenige, der sich politisch betätigt, „im innerlichen Sinne ‚sein Leben daraus‘ [mache]“ (Weber 2006, 571).
5Arendt ist bemüht, die Arbeit sowie soziale Fragen als Gegenstände darzustellen, über die man nicht räsonieren muss, da es angeblich eine von allem öffentlichen Vernunftgebrauch unabhängige, sachgerechte Antwort auf die Probleme gibt, die in diesem Bereich auftreten. Dies beruht wiederum auf ihrer Annahme, dass es einen Unterschied gibt zwischen Problemen, die mit Sicherheit errechnet und gelöst werden können und Dingen, die durch Reden- und Überreden geregelt werden müssen (vgl. Arendt 2006a, 89 ff.). Hier J. Regii
6Rahel Jaeggi weist darauf hin, dass es bei Strittigkeit bzw. bei möglichem Dissens und bei Konfliktträchtigkeit nicht um die „wirtschaftsliberale Vorstellung von Konkurrenz und Nutzenmaximierung“ (Jaeggi 2007, 247) geht. Es geht vielmehr darum fortwährend die gemeinsam beste Lösung zu finden, die aufgrund der prinzipiellen Unabschließbarkeit von Entscheidungsprozessen immer vorläufig bleibt (ebd.).
7Arendt betont, dass Freiheit seinen ursprünglichsten Sinn zunächst hier erfuhr, und zwar im Sinne von ‚gehen können, wohin es einem beliebt‘. Freiheit ist also in seiner ursprünglichsten Form „Bewegungsfreiheit“ (vgl. Arendt 2007, 44).
8Die Angewiesenheit auf gleichberechtigte Andere bei der Hervorbringung großer Taten bringt Arendt in „Was ist Politik“ folgendermaßen zum Ausdruck: „Öffentlich wird dieser Bereich, in den die Tatenlustigen vorstoßen, weil sie unter ihresgleichen sind und einander jenes Sehen und Hören und Bewundern der Taten gewähren können, auf deren Hörensagen hin der Dichter und Geschichten-Erzähler dann später ihnen den Ruhm bei der Nachwelt sichern kann. Im Gegensatz zu dem, was im Privaten und in den Familien geschieht, in der Verborgenheit der eigenen vier Wände, erschient hier alles in jenem Licht, das nur die Öffentlichkeit, und das heißt die Anwesenheit der Anderen, erzeugen kann“ (Arendt 2007, 45).
9Arendt bemerkt in „Was ist Politik?“ beispielsweise: „Für ein Verständnis unseres politischen Freiheitsbegriffes, wie er in seinem Ursprung in der griechischen Polis erscheint, ist diese enge Verbundenheit des Politischen mit dem Homerischen von großer Bedeutung. Und dies nicht nur, weil Homer schließlich der Erzieher dieser Polis wurde, sondern weil dem griechischen Selbstverständnis zufolge die Einrichtung und Gründung der Polis aufs engste an die Erfahrungen gebunden waren, die innerhalb des Homerischen vorlagen. So konnte man den zentralen Begriff der freien, von keinem Tyrannen beherrschten Polis, den Begriff der ‚isonomia‘ und ‚isegoria‘ ohne Schwierigkeit in die Homerische Zeit zurückverlegen, […] weil die ungeheure Erfahrung der Möglichkeiten eines Lebens unter seinesgleichen in der Tat in den Homerschen Epen vorbildlich vorlag; und man konnte, was vielleicht noch wichtiger war, die Entstehung der Polis als eine Antwort auf diese Erfahrung verstehen.“ (Arendt 2007, 46)
10Hier wird auch offenkundig, dass Arendt die Unterscheidung zwischen öffentlichen und politischen Räumen über das Merkmal der An- bzw. Abwesenheit der Institutionalisierung vornimmt.
11Arendt geht davon aus, dass der Raum des Politischen (die Polis) durch die Veralltäglichung des Raums des Öffentlichen – also durch die Veralltäglichung des „Heereslagers“ entstanden ist. Die Griechen machen Arendt zufolge die „ungeheuere Erfahrung“, dass das Leben unter seinesgleichen für die Verwirklichung der Menschen einen Raum öffnet, den es weder im Bereich der Arbeit und des Herstellens noch im Bereich des Denkens gegeben hat. Die Entstehung der Polis beruht auf dieser Erfahrung (vgl. Arendt 2007, 46). So heißt es bei Arendt: „Die Polis mußte gegründet werden, um für die Größe menschlichen Tuns und Redens eine Bleibe zu sichern, die verlässlicher war als das Andenken, das der Dichter im Gedicht festhielt und dauernd machte. Es konnte auch positiv verstanden werden, […] daß die Polis aus dem Zusammentreffen großer Ereignisse im Krieg oder in anderen Taten entstanden sei, also aus den politischen Tätigkeiten selbst und ihrer eigentümliche Größe. In beiden Fällen ist es, als ob das Homersche Heereslager sich nicht auflöst, sondern nach der Rückkehr in die Heimat sich aufs Neue zusammenfinde, die Polis gründet und nun einen Raum gefunden hat, wo es ständig zusammenbleiben kann. Wieviel sich durch diese Ständigkeit nun in Zukunft ändern mag, der Inhalt des Raumes der Polis bleibt doch an das Homerische als seinen Ursprung gebunden.“ (ebd., 46-47)
12Als institutionalisierter Raum des Politischen beruht die Polis auf dem Erscheinungsraum der Homerschen Helden, wobei dieser Raum durch die Herstellung eines Rahmenwerkes zustande kommt (vgl. Arendt 2005, 246). Auf der anderen Seite behauptet Arendt, dass Polis als ein Raum konstituiert ist, in dem Freiheit möglich ist (vgl. ebd., 246 f.).
13Ähnlich heißt es in „Was ist Politik?“: „Der Sinn des Politischen hier, aber nicht sein Zweck, ist, daß Menschen in Freiheit, jenseits von Gewalt, Zwang und Herrschaft, miteinander verkehren, Gleiche mit Gleichen, die nur in Not-, nämlich Kriegzeiten einander befahlen und gehorchten, sonst aber alle Angelegenheiten durch das Miteinander-Reden und das gegenseitige Sich-Überzeugen regelten.“ (Arendt 2007, 39)
14Während die klassische politische Philosophie vom Aristotelischen ‚zoon politicon‘ ausging und das Politische als ein Wesensmerkmal des Menschen betrachtete, versteht Arendt unter dem Politischen eine Ordnung, eine in bestimmter Weise geartete Form des menschlichen Zusammenlebens, die es nicht überall gibt, wo Menschen sind, sondern nur dort, wo das Leben politisch organisiert ist (vgl. Arendt 2007, 37; Arendt 1994, 201). So heißt es auf dem Punkt gebracht in „Was ist Politik?“: „Aristoteles, für den das Wort ‚politikon‘ durchaus ein Adjektiv der Polis-Organisation und nicht eine beliebige Bezeichnung für menschliches Zusammenlaben überhaupt war, meinte keineswegs, daß alles menschliches Zusammenleben überhaupt politisch war, meinte keineswegs, daß alle Menschen politisch seien oder dass es Politik, nämlich eine Polis, überall gäbe, wo Menschen lebten.“ (Arendt 2007, 37)
15George Kateb behauptet, dass die menschlichen Angelegenheiten nach Arendt deshalb nicht Gegenstand administrativer Maßnahmen sein dürften, weil sie das Ergebnis von erinnerungswürdigen Taten der Menschen sind: „What is memorable, what is transforms political action into memorable deeds cannot be, Arendt thinks, politics driven by concern that are better handled by procedures that are administrative and hierarchical.“ (Kateb 2000, 133) Arendt bemerkt aber – wie oben ausführlich beschrieben – sowohl in „Was ist Politik?“ als auch in „Diskussion mit Freunden in Toronto“, dass diejenigen Angelegenheiten, die unterschiedlichen Menschen verschieden erscheinen, politische Angelegenheiten sind. Nicht die Größe, sondern die Strittigkeit macht eine Angelegenheit zu einer politischen. Denn solche Dinge sind Stoff für politische Diskurse sowie Debatten und sie verbinden Menschen und trennen sie voneinander (vgl. Arendt 2006a, 91). Sie sind politisch in dem Sinne, dass sie Bezüge zwischen und qua Menschen schaffen. Für Arendt sind die „memorable deeds“ von großen Frauen und Männern, von denen Kateb spricht, keine politischen, sondern vielmehr vorpolitische Angelegenheiten.
16Zu diesen Produkten, die in erster Linie handwerkliche Gegenstände sind, gehören Häuser, öffentliche Plätze, Möbel etc., die Generationen überdauern können, sowie Kunstwerke, die sogar Jahrtausenden trotzen können (vgl. Arendt 2005, 201-203). Diese Gegenstände bestehen aber nicht aus voneinander unabhängigen Dingen, sondern sie verweisen aufeinander und bilden ein bedeutungsvolles Ganzes, das Arendt die physische Welt der Menschen nennt (vgl. ebd., 161-164).
17Rainer Forst zufolge weist politisches Handeln, wie Arendt es versteht, acht Dimensionen auf: dramaturgische, heroische, zeitliche, historische, sachliche, epistemische, ethische und institutionelle Dimensionen. Forst äußert sich jedoch nicht zu der Frage, in welchem Zusammenhang diese unterschiedlichen Dimensionen stehen (vgl. Forst 2007, 235 f.).
18Dazu gehören auch d´Entrèves, Benhabib und Taminiaux, wobei Tsao einen Schritt weiter geht, wenn er behauptet, dass Arendt ihr Verständnis des politischen Handelns eher im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit dem agonistischen Handeln bei den Griechen entwickelt (vgl. d´Entrèves 1994, 64 ff.; Benhabib 200 ff.; Taminiaux 2000, 174 ff.; Tsao 2006, 369 ff.). Aus dieser Perspektive gibt es eigentlich keinen Zusammenhang zwischen Arendts Verständnis des politischen Handelns und der griechischen Polis – abgesehen von der Tatsache, dass sie ein Raum der Gleichen war. Mit der in „Vita activa“ gelieferten Analyse der Polis will Arendt nur zeigen, welch bedrohliche Tendenzen in der Sphäre der Arbeit und des Herstellens für den politischen Bereich verborgen sind (vgl. Tsao 2006, 379).
19Arendt zufolge machen Griechen diese Erfahrung im Krieg gegen die Trojaner, wobei erst die Römer einen dieser Erfahrung gemäßen politischen Raum ins Leben gerufen haben (vgl. Arendt 2007, 95). Zwei Erfahrungen, die die Griechische Polis im Trojanischen Krieg gemacht hat, waren für die Polis konstitutiv: Die erste Erfahrung beruht auf der Einsicht, dass Menschen oder Völker erst im Kampf die Möglichkeit bekommen, wirklich in Erscheinung zu treten (vgl. ebd., 94 f.). Im Kampf ging es also nicht um den Sieg der Stärkeren, sondern um das ‚In-Erscheinung-Treten‘ der Sieger und Besiegten (vgl. ebd.). Dieser agonale Geist lebt in der Polis in Form von Wettkämpfen und Redekämpfen fort (vgl. ebd., 95). Die zweite Erfahrung beruht darauf, dass alle Siege und Niederlagen nicht eindeutig ausfallen, sondern – wie der Sieg des Achill exemplarisch zeigt – „jeder Sieg zweideutig wird […] und [jede, K. S.] Niederlage so ruhmreich werden kann wie die des Hektor.“ (ebd.) Diese Erfahrung rettet Homer, indem er nicht nur dem Sieg der Griechen, sondern auch der Niederlage ihrer Gegner die gebührende Aufmerksamkeit zukommen lässt (vgl. ebd., 96). Dieser Erfahrung entsprechend wird das Politische bzw. die Polis nach Arendt so konstituiert, dass jeder zu Wort kommen und seine Sicht der Dinge anderen mitteilen kann, damit die öffentliche Dinge und Ereignisse in ihrer „Allseitigkeit zur Geltung kommen können.“ (ebd.)
20Ernst Vollrath weist mit Blick auf die Arendt-Rezeption darauf hin, dass durch die Überbetonung des Spontaneismus des politischen Handelns nicht wahrgenommen wird, dass sich politisches Handeln in einer institutionalisierten und auf Dauer gestellten Ordnung vollzieht (vgl. Vollrath 1995).
21Ähnlich heißt es auch in Fragment 3c von „Was ist Politik?“: „Sofern der politisch-öffentliche Raum für die Griechen das Gemeinsame (‚koinon‘) ist, in dem sich alle versammeln, ist er der Bereich, in welchem alle Dinge erst voll in ihrer Allseitigkeit zur Geltung kommen können.“ (Arendt 2007, 96)
22Das Handeln als Akt des Anfangens und des ‚etwas Neues ins Leben Rufens‘ wird erst in einer Welt, in der der institutionalisierte Raum des Politischen vernichtet ist und totalitäre Regime die Welt und die Menschen nach einer bestimmten Idee transformieren wollen, als Ausweg und Rettung aus der katastrophalen Entwicklung entdeckt. Da also in der Welt, in der wir leben, noch viele Gefahren lauern, die die Welt der Menschen und den Menschen selbst bedrohen, wird Arendt heute immer noch als „Denkerin des Anfangs“ rezipiert – und weniger als Denkerin einer dauerhaften, stabilen politischen Ordnung. .