header image

Ausgabe 1, Band 8 – April 2016

 

Arendts Plato – unter besonderer Berücksichtigung  ih­res Denktagebuches

 Harald Bluhm

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

 

Was das Verhältnis von Arendt zu Plato betrifft, so scheint die Lage klar zu sein. Der antike Meisterdenker wird in einer apodiktischen Sentenz von ihr am Beginn des Essays „Tradition und die Neuzeit“1 zum Vater der politischen Philosophie erhoben, die mit ihm und Aristoteles beginne und mit Marx ende, wobei das Spezifikum darin liege, dass in dieser Tradition die Politik nicht an einem eigenen Maßstab gemessen wird, sondern an dem der politischen Philosophie. Arendts Lesarten von Plato sind indes nur gelegentlich und kaum näher erkundet worden.2 Das mag daran liegen, dass sich die in der Literatur vorliegenden Einsichten nicht immer leicht finden lassen.3 Vor allem in Briefen erwähnt Arendt über Jahre hinweg immer wieder Plato. So schreibt sie an Karl Jaspers am 4. Ok­tober 1950: „Lese Plato: Politikos, Nomoi, Republik. Mein Griechisch kommt langsam wie­der zum Vorschein.“4 In einem anderen Schreiben an Jaspers vom 4. März 1951 heißt es über die „abendländische Tradition von Plato bis Nietzsche“, „dass diese abendländi­sche Philosophie nie einen reinen Begriff des Politischen gehabt hat und auch nicht haben konnte, weil sie notgedrungen von dem Menschen sprach und die Tatsache der Pluralität nebenbei behandelte“.5 In einem Brief an Kurt Blumenfeld bemerkt sie am 6. August 1952: „Schlage mich gerade mit der Republik rum, lese also wieder Plato und griechisch.“6 Sowie – und damit sei die Blütenlese abgeschlossen – diese Zeilen bezüglich eines Gradu­iertenseminars an der Columbia University, die Arendt Weihnachten 1960 an Mary Mc­Carthy schreibt: „Wir treffen uns einmal die Woche, lesen zusammen Plato und sind mitt­lerweile wie alte Freunde.“7 Die Verweise – es sind beileibe nicht alle – legen es nahe, zu vermuten, dass es da um mehr geht als eine einmalige Auseinandersetzung und dass Pla­to für sie wichtiger sein könnte als Aristoteles, mit dem Arendt zu häufig in Beziehung ge­bracht wird. Nicht selten wird sie fälschlicher Weise als Aristotelikerin verstanden oder gilt als Quelle des Neoaristotelismus.8

Zur Stützung der Vermutung großer Relevanz von Plato sollen zunächst Arendts Lesar­ten dieses griechischen Klassikers mit einem werkgeschichtlichen Akzent überblickshaft eingeordnet werden (I.). In einem zweiten Schritt soll der Weg zu Arendts mit Plato und dem Höhlengleichnis, die sie 1953 forciert hat, näher dargestellt werden (II.). Abschlie­ßend gebe ich ein Resümee und versuche mit einem vergleichenden Blick die Ergebnisse festzuhalten (III.).

Bei diesem Vorgehen werde ich Arendts bisher in der Literatur kaum diskutierte Aus­einandersetzung mit Plato im Denktagebuch erkunden. Es enthält Ausführungen, die zwischen 1950-1973 verfasst wurden. Die Eintragungen zu Plato erstrecken sich beinahe über den gesamten Zeitraum, sind allerdings von unterschiedlichem Umfang und diver­gierender Intensität. Den Schwerpunkt lege ich auf die frühen 1950er Jahre, auf die Kritik an der politischen Philosophie und auf das Höhlengleichnis, die in den wegweisenden Essay „Tradition and the Modern Age“ (zuerst amer. 1954) eingegangen sind.9 Das 2002 publizierte Denktagebuch hat, soweit ich sehe, bisher noch zu wenig Resonanz gefunden. Dabei bietet es die Chance, wie sich zeigen wird, Arendt bei der Ausarbeitung einiger The­men über die Schulter zu sehen, wobei Ideen und Einflüsse sichtbar werden, die bis dato verborgen geblieben sind. Deshalb greife ich relativ extensiv auf das Denktagebuch zu­rück und verweise nur bei dieser Quelle im Anschluss an die Zitate mit dem Kürzel DT auf die entsprechenden Seiten. Die recht große Textnähe meiner Argumentation und die vie­len Belege erscheinen mir als unerlässlich, wenn man Akzentverschiebungen gegenüber verbreiteten Lesarten plausibilisieren möchte.
Insgesamt deute ich, soviel sei vorab gesagt, Arendts politische Theorie als erfahrungs­bezogenes Konzept, das auf eine neue Sicht der Tradition abzielt; eine Tradition, die nur noch selektiv und variiert für die Gegenwart genutzt werden könne.10 Das Erfahrungsver­ständnis ist für Arendt von zentraler Bedeutung, sucht sie doch in Begriffe und Sprache eingebettete Erfahrungen zu bergen und mit gegenwärtigen Erfahrungen zu relationie­ren,11 um so zu einem Verständnis des Politischen zu kommen. Dabei werden soziale Er­fahrungen von politischen, die an gemeinsames Handeln im öffentlichen Raum gebunden sind, deutlich unterschieden.12 Darüber hinaus spricht sie von philosophischer Erfahrung, der Erfahrung der Kontemplation, d.h. des Denkens im emphatischen Sinne, das nicht auf ein Resultat zielt, sondern unentwegtes Fragen ins Zentrum rückt, was eine Abwen­dung von der Welt und die üblichen Gegebenheiten einschließt. Dies ist eine höchst indi­viduelle Erfahrung, die im Dialog mit sich selbst bzw. wenigen anderen gewonnen werden kann. Arendts Konzept des Politischen ist gegenwartsdiagnostisch und recht fern von einer „German homesickness for Greece“ oder Polisnostalgie (Dolf Sternberger)13, die ihr oft attestiert wird.

Meine im Folgenden präsentierte Lesart ist selbstverständlich nicht völlig neu, sondern stellt auf spezifische Weise darauf ab, dass Plato für Arendt wichtiger war als Aristoteles und dass ihre Plato-Kritik sowohl eine Kritik an diesem als auch eine Kritik an Heidegger ist. Zugleich erkenne ich darin ein methodisch informiertes Programm der Destruktion von Tradition, das den faktischen Traditionsbruch mit großem historischem Atem unter­sucht. 

I. Arendt und Plato: werkgeschichtliche Einordnung

Arendt beginnt ihren akademischen Weg bekanntlich als Philosophin, wird durch die historischen Umwälzungen am Anfang des 20. Jahrhunderts und insbesondere durch den Totalitarismus zur politischen Theoretikerin und nimmt erst in ihrem späten Schriften wie Life of the Mind (1977)/Vom Leben des Geistes (1979) eine partielle Rückwendung zur Philosophie vor. Ihre Faszination für die Philosophie ist eng mit dem Schaffen von Martin Heidegger und Karl Jaspers verbunden. Mit Heidegger gegen Heidegger, und zwar unter Aufnahme von Motiven, die Jaspers mit seinem starken Akzent auf Kommunikation und Freiheit, mithin auf Öffentlichkeit gesetzt hat,14 setzt Arendt sich dann dezidiert mit der politischen Philosophie auseinander und wendet sich der politischen Theorie als ad­äquatem Medium der Reflexion von Politik zu. Dieser Denkweg ist schon häufiger be­schrieben worden, er soll im Folgenden im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Plato im Denktagebuch skizziert werden.15 Wenn ich Arendts Kritik an Plato als von Heidegger beeinflusst und zugleich als eine scharfe Kritik an ihm lese,16 so folge ich der Linie von Jacques Taminiaux und Dana Villa, die diese doppelte Stoßrichtung betonen. Arendts Zu­wendung zur Politik geht mit einer starken Akzentuierung von Pluralität einher, die sie in ein expressives Konzept von Öffentlichkeit einfasst, das auf einem dramaturgischen Handlungsverständnis ruht; ein Verständnis nach dem sich die Menschen als politische Akteure in der Öffentlichkeit zeigen, enthüllen und formen.17 Ungeachtet der deutlichen Kritik an Heidegger gibt es, was das Verständnis der ‚Lehre‘ eines Autors, des Denkens und von Wahrheit betrifft, erhebliche Nähen zu ihm, die freilich zu anderen Konsequen­zen geführt werden. Denn Arendt entfaltet eine Kritik der politischen Philosophie, zu der Heidegger nicht einmal vorgedrungen ist, da er das Verhältnis von Philosophie und Politik systematisch nicht durchdrungen hat.
Arendt dürfte mit Plato seit der Schule vertraut gewesen sein, aber erst Heideggers Pla­to-Deutung von 1924 (sie hört zuerst die Sophistes-Vorlesung bei ihm)18 bringt sie auf ein ganz neues Niveau.19 Die Spuren der Plato-Kritik seit Mitte der 1920er Jahre können hier nicht verfolgt werden. In ihren Texten taucht Plato erst im Buch über den Totalitarismus bzw. in den vorab veröffentlichten Aufsätzen, die in das Buch eingehen, auf.20 Allein – es hieße den Einfluss von Heidegger, nach Arendt der „heimliche König“ der Philosophie in den 1920er Jahren zu überschätzen, wenn man nicht berücksichtigt, dass ihre Lesart zu­dem durch Kierkegaard21 und die Plato-Kritik Nietzsches22 imprägniert ist. Aber wie wich­tig Heidegger war, kann man am Aufsatz „Philosophie und Soziologie“23 – einer Ausein­andersetzung mit Karl Mannheims Ideologie und Utopie (1929) – erkennen. Dort fun­giert Heidegger in methodischer Hinsicht als Wegweiser, denn Arendt bezieht sich expli­zit auf die in Sein und Zeit (1927) im § 6 entwickelte Konzeption der Destruktion von Tra­dition. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang ein Text, den ich für Arendts wichtigs­ten philosophiegeschichtlichen Essay halte, nämlich: „Tradition und die Neuzeit“. Dieser zu selten interpretierte Aufsatz erwuchs aus einer Vorlesung von 1953, die die totalitären Ursprünge in der politischen Philosophie zu bestimmen sucht. Das ist eine Aufgabe, der sich Arendt nach dem englischen Original des Buches über den Totalitarismus, The Orig­ins of Totalitarianism (1951), und während der Erstellung der deutschen Neufassung, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955), angenommen hat. Dafür hatte sie be­kanntlich 1952 ein Stipendium der Guggenheim-Stiftung bekommen.24 Das Resultat, der glänzend komponierte Essay, der sorgsam zu lesen ist (was ich hier nur im Hinblick auf eine Frage tun kann), erwächst aus einer längeren Auseinandersetzung mit Plato, von der es einige Spuren im Denktagbuch gibt.
Wie wichtig die Plato-Heidegger-Thematik ist, kann man wiederum einem Brief von Arendt entnehmen. Sie schreibt bezüglich des Wunsches von Dolf Sternberger, sie möge Heideggers Brief über den Humanismus (1949) rezensieren: „Und es tut mir leid, dass Du erst mal eine Absage bekommst. Ich kenne die Heideggersche Schrift: die Interpretation des Höhlengleichnisses25 stammt übrigens aus den früheren Jahren, so um 1930 herum. Ich bin ehrlich gesagt der Meinung, dass das echte Philosophie ist – und zwar im Gegen­satz zu den Dingen, Aufsätzen und Vorlesungen, die ich aus den dreißiger Jahren hier und da zu Gesicht bekommen habe.“ Weiter heißt es: „Dass er die Grundlagen des abendländi­schen Denkens in seinem Brief gegen den Humanismus antastet, schreckt mich auch nicht. Auf seine vornehm gelassene und maßhaltende Weise tut das Jaspers doch auch, wenn er den Rahmen der westlichen Kultur auf jeden Fall sprengen will. Wie man es dreht und wendet, das ist heute ein Gefängnis geworden, aus dem Heidegger gewalttätig ausbricht; was auf mich, wie Du siehst, seinen Eindruck nicht verfehlt hat. Aber selbst wenn das wieder ein Holzweg sein sollte, wenn es auch nur im mindesten echte Philoso­phie ist, hat Polemisieren gar keinen Sinn. Gegen Philosophie hilft nur Philosophie. Und ich habe keine auf Lager.“26
Wenn man diese Aussagen ernst nimmt, muss man genauer hinsehen und auf einer an­deren Ebene danach suchen, was die Beziehung von Heidegger und Arendt hinsichtlich der Plato-Deutung betrifft. Dabei sollen im Folgenden drei konzeptuelle Gesichtspunkte hervorgehoben werden: die Wahrheitsauffassung, die Konzeption des Denkens und der Begriff der Lehre.27 Diese Punkte stehen meist weniger im Zentrum interpretatorischer Aufmerksamkeit, weil – wie Seyla Benhabib gezeigt hat – der Weltbegriff und das „In-der-Welt-sein“ für Arendt der entscheidende Anstoß von Heidegger waren, den sie, an­ders als der Schwarzwald-Philosoph, in der Auffassung der Politik entfaltet hat.28 Wäh­rend Heidegger das Sein zum Tode pointiert, ist es für Arendt die Mitwelt, die die Da­seinsanalyse auszeichnet. Von dort kommt sie gleichermaßen zur Erfahrung der Weltlo­sigkeit als Quelle des Totalitarismus wie auch zur Öffentlichkeit als dem Medium der poli­tischen Konstruktion von gemeinsamer Welt. Anhand der Einträge aus den frühen 1950er Jahren im Denktagebuch und dem Essay lassen sich in diesem Kontext die erwähnten drei konzeptuellen Gesichtspunkte, die Arendt und Heidegger verbinden, aufzeigen.
Die Auseinandersetzung mit Plato und mit methodischen Fragen der von ihm inaugu­rierten Tradition, deren Ende durch äußere historische Ereignisse manifest wird, aber auch durch die innerhalb der Tradition selbst angelegte Problematik, sind es, die Arendt zwischen 1950 und 1955 bei der Vollendung ihres Totalitarismuskonzeptes beschäftigen, die erst mit der deutschen Ausgabe vollbracht ist.29 Dem Aufsatz „Tradition und die Neu­zeit“ kommt dabei eine wesentliche Bedeutung zu, die man erst anhand des Denktagebu­ches nachvollziehen kann. Hier wird nämlich das „Denken ohne Geländer“ methodisch zum Thema.

Im unvollendeten, bereits erwähnten und posthum erschienenen Vom Leben des Geis­tes (1979) sind Heidegger und Plato Anfang der 1970er Jahre wieder präsent, wobei Arendt thematisch über die Reflexionen im Denktagebuch hinausgeht. Hier sind Rück­wendungstendenzen von ihr zur Philosophie zu konstatieren, die seinerzeit noch nicht vollzogen worden sind.

II. Arendt und ihre Plato-Lesarten

II.1 Auf dem Wege zum Essay „Tradition und die Neuzeit“

Der Essay wird mit Neulektüren von Plato in den Jahren 1950-53 vorbereitet, wobei Arendt nicht, wie man erwarten könnte, mit einer erneuten Lektüre der Politeia beginnt. Schon im Politikos entdeckt sie Platos Grundprobleme und liest ihn konzeptionell. In die­sem Sinne heißt es leitmotivisch im schon zitierten Brief an Jaspers vom 4. März 1951 über die abendländische Philosophie, dass diese „nie einen reinen Begriff des Politischen gehabt hat und auch nicht haben konnte, weil sie notgedrungen von dem Menschen sprach und die Tatsache der Pluralität nebenbei behandelte.“30 Trotz dieser kritischen Einstellung glättet Arendt Plato nicht, sondern hält seine Zwiespältigkeit im Denktage­buch fest, die sie im Hirtenmodell der Politik erkennt, wonach der Politiker als Hirte die Menge leitet und hütet. Auch Platos Kritik, dass Gesetze nie das Individuelle regeln, gilt ihr als trefflich, werde aber von Plato dahingehend überzogen, dass ihm Gesetze nur als Er­satz „für die absolut beherrschte Staatskunst“ (DT, 19) gelten. Hier sieht man, wie Arendt in praxi die Idee umsetzt, dass dort, wo große Denker unklar und widersprüchlich sind, die interessanten Probleme liegen.31
Wie sehen nun die Ergebnisse der Lektüren im Denktagebuch aus? Im September/Ok­tober 1950 sind  neben dem Dialog Politikos und den Briefen die Nomoi Gegenstand der Eintragungen. Bei den vielen Notaten von Arendt geht es darum, dass Gerechtigkeit mehr ist als bloße Gesetze, aber ausgestellt werden auch das Einheitsdenken und die anti­plurale Tendenz bei Plato. 1951 sticht das vergewissernde Zwischenresümee heraus: „Die Welt- und Politikfremdheit [als] Basis aller politischen Philosophie.“ (DT 67). Zusätzlich werden Hegel, Marx, Heidegger und Nietzsche Thema. Darüber hinaus sind einige Bestä­tigungen in den Lektürenotaten anzutreffen und Formulierungen des republikanischen Credos: „Politik eine Sache von Experten, der der Bürger entraten kann. Darauf läuft die gesamte Tradition des politischen Denkens des Abendlandes hinaus, Marx inclusive!“ (DT 115). Pointiert wird zudem bereits: „Marx stellt Hegel auf den Kopf, und Nietzsche dreht den Platonismus um – so vollzieht sich das Ende der abendländischen Philosophie.“ (DT 131). – Zumindest am Rande sei vermerkt, dass Nietzsche hier als Endpunkt der Tradition gilt, was Arendt später nicht mehr so akzentuiert. Dennoch ist Nietzsche für sie, was das Freiheitsverständnis angeht, wohl auch ein wichtiger Autor und nicht nur die häufig ge­nannten Autoren wie Montesquieu, Kant und die amerikanischen Revolutionäre wie Au­toren der Federalist-Papers. So schreibt Heinrich Blücher an Arendt in einer selten be­achteten Briefpasssage am 23. Mai 1952, deren Überzeugungen sie gewiss geteilt hat: „Der Schluß des Existenzkurses aber, […], der erste Entwurf absolut unabhängigen und freien Denkens des Menschen, da sind sie [die Studenten, H.B.] in Schrecken geraten. Wie glücklich war Nietzsche, dass er seine Zuhörer nicht zu sehen brauchte, dies scheint mir der eigentliche Lohn für die Mühen des Schreibenden zu sein. Ich habe ihnen [den Studenten] den freien Menschen vorgestellt […], und sie sind davor zurückgeschreckt wie vor dem Übermenschen und haben deutlich gezeigt, wie sehr sie lieber der letzte Mensch sein wollen als dieser freie Mensch.“32 Der letzte Mensch ist bekanntlich jener Mensch, der einem Gleichnis in Friedrich Nietzsches Zarathustra zufolge die Welt nicht aneignet und erobert, sondern sich nur selbstzufrieden einfügt. Der Übermensch hingegen ist die Steigerung der menschlichen Möglichkeiten. Der freie Mensch, den Blücher wie Arendt weniger elitär als Nietzsche fassen, ist jener, der das Leben eigenverantwortlich wagt. Der in die Welt hinauszieht, Welt konstituiert, etwas unternimmt, sich ausprobiert, seine Grenzen kennenlernen möchte, da wie auch Karl Jaspers betont, in den Grenzsituationen, die Herausforderungen für die menschliche Existenz und das Philosophieren stecken.33
Im Mai 1952 wird im Denktagebuch die Politeia Lektüregegenstand, wobei im August die Auseinandersetzung intensiviert wird. Zur berühmten Philosophen-Könige-Passage Platos hält Arendt fest: „Die Zentralstelle seiner politischen Philosophie gerade hat philo­sophisch keine Basis.“ (DT, 233). Während ihr dies einen Kommentar wert ist, scheint sie sich mit ihrer an Heidegger angelehnten Deutung des Höhengleichnisses, auf die ich noch eingehen werde, im Klaren zu sein, denn sie notiert zur ganzen Passage nur äußerst knapp: „die Technik der Herumwendung“ (DT, 235). Mit Blick auf das 10. Buch der Poli­teia wird allerdings noch die Fehlidentifikation von Wahrheit und Sein moniert, um dann die etwas kantianisch anmutende Konklusion zu ziehen, in welcher der hehre Anspruch von Plato fixiert wird, nämlich: „Herrsche über andere so, wie du über dich selbst herrschst. Herrschaft gründet auf Selbstbeherrschung. Der Stolz, die Überzeugung, dass es zur Würde des Menschen gehört, niemandem zu gehorchen ausser sich selbst.“ (DT, 241). Auch 1953 taucht Plato auf, aber nun wird der Bezug auf den Traditionsbruch im­mer stärker, dieser Bruch sei nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen, aber „als Bruch gar nicht mehr notiert“ worden (DT, 300). Später im Jahr werden noch Phaidon, Ideenleh­re34, aber auch die Dialoge Gorgias, Laches und Euthyphron Thema. Das sind die sichtba­ren Spuren im Denktagebuch, die dem aus einem in der Vorlesungsreihe in Princeton 1953 gehaltenen Vortrag in der Reihe „Karl Marx and the Tradition of Western Political Thought“ entstandenen Essay „Tradition and the Modern Age“ vorausgehen, der im Janu­ar/Februar Heft der Partisan Review 1954 zuerst erscheint und 1957 unter dem Titel „Tra­dition und die Neuzeit“ im Band Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart auf Deutsch publiziert wird.35
II.2 „Tradition und die Neuzeit“ als Schlüsseltext36
Wenn, wie ich behaupte, „Tradition und die Neuzeit“ als philosophiegeschichtlicher Essay zu begreifen ist, der eine substantielle Ergänzung zum Totalitarismus-Buch dar­stellt,37 dann bietet es sich an, den Argumentationsgang knapp zu rekapitulieren, um sei­ne Reichweite und Radikalität aufzeigen.38 Der auf Deutsch wenig veränderte, zuerst 1957 erschienene Aufsatz „Tradition und die Neuzeit“ ist deutlich von Heideggers Konzepten inspiriert, aber er nimmt eine völlig andere Wendung des Gedankens vor. Freilich fiel lan­ge nur dem sorgsamen Leser die heideggersche Imprägnierung auf, ist doch von den ‚Leh­ren‘ also dem, was nach Heidegger Denker unausgesprochen lassen, die Rede.39 Die Briefe und das Denktagebuch bieten jedoch neue Materialien, und die starke Verbundenheit mit einigen Motiven ist nun sehr deutlich. Näher mit der Arendtschen Lesart des Höhlen­gleichnisses haben sich wohl nur Miguel Abensour und Günter Magiera auseinanderge­setzt.40 Allerdings gehen beide nur kursorisch auf den m.E. entscheidenden Aufsatz, näm­lich „Tradition und die Neuzeit“ ein, den ich jetzt erörtern möchte. Auch in diesem Ab­schnitt greife ich mehrfach auf Notizen aus dem Denktagebuch zurück, aber nun, um Aussagen aus dem Essay über die Tradition zu explizieren.
Die erklärte Intention von Arendts Essay über die Tradition ist die Suche nach totalitär­en Wurzeln in der politischen Philosophie, wobei Marx den Bezugspunkt bildet. Von der These ausgehend, dass am Anfang und Ende von Traditionen erkennbar sei, was in ihnen steckt, wird von Arendt eine Tradition der politischen Philosophie beschrieben. Dabei rücken sachlich drei Rebellionen – die alle an Hegel anschließen – in den Mittelpunkt, nämlich Kierkegaard auf dem Gebiet der Religion, Marx auf dem Feld der politischen Phi­losophie und Nietzsche im Bereich der Metaphysik. Alle drei Rebellionen gelten Arendt als nicht radikal genug und würden den Rahmen, der der Tradition zugrunde liegt, nicht verlassen. Gewollt oder nicht, die Tradition wirke in ihnen weiter, besonders Marx, der sich primär als Rebell sehe, stecke tief in ihr. Ungeachtet dieser Kritik gelten die drei Re­bellen als die ersten Philosophen, die ein „Denken ohne Geländer“ gewagt haben,41 wes­halb nun, und zwar prinzipiell vom zeitgenössischen Ende der Tradition her, auf den An­fang geblickt werden könne und müsse. Dieser Anfang ist besonderer Art, denn er gibt einen Grundakkord vor, den Arendt in Plato und dessen Höhlengleichnis erkennt. Aus­drücklich bestimmt sie dieses Gleichnis als das Zentrum seiner ‚Lehre‘, wie sie mit Hei­degger formuliert,42 und das ist prinzipiell gemeint. So hält Arendt im Denktagebuch au­ßerordentlich treffend fest: „Ad Heideggers Interpretationen: Das Neue besteht in Folgen­dem: Heidegger nimmt nicht nur an (was andere vor ihm taten), dass jedes Werk ein ihm spezifisch Unausgesprochenes in sich trägt, sondern dass dies Unausgesprochene seinen eigentlichen Kern bildet […] Auf diesen Platz setzt sich Heidegger, also in die Mitte des Werkes, in der sein Autor gerade nicht ist, als sei dies der ausgesparte Raum für den Leser oder Hörer. Von hier aus rückverwandelt sich das Werk aus dem Resultathaft-tot-Ge­druckten in eine lebendige Rede, auf die Widerrede möglich ist. Es ergibt sich ein Zwiege­spräch, bei dem der Leser nicht mehr von aussen kommt, sondern mittendrin beteiligt ist.“ (DT 353f.). Plato wird genau in diesem Sinne von Arendt ebenfalls tiefenhermeneu­tisch aufgrund einer philosophischen Erfahrung und der Erzeugung eines philosophi­schen Konzeptes, in dem die Abwendung von der Welt der wirklichen Dinge leitend ist, beurteilt. Plato verallgemeinere jedoch nicht nur eine philosophische Erfahrung und wen­de sich von der Politik ab, messe sie an der Philosophie und stelle ihr den Himmel der Ideen gegenüber, vielmehr habe er bereits eine erste Umkehrung vollzogen. Er kehre nämlich, und das ist die Pointe von Arendt, die homerische Welt um. Aber nicht eine Rückkehr zur homerisch-kriegerischen Ethik à la Nietzsche ist es, was Arendt hier anzielt, sondern das Aufdecken einer praktischen, unverstellten Erfahrung des Politischen bei den Griechen vor Plato. Letzterer hat demnach nicht nur die Seinsfrage verstellt (Heideg­ger), sondern keinen Zugang zur politischen Philosophie gefunden oder paradox ausge­drückt, eine unpolitische-politische Philosophie geschaffen, deren Grundakkord nach Arendt bis zu Marx reichen wird.43
Der groß angelegte Gedankengang ist mithin massiv von Motiven Heideggers beein­flusst, von dessen Interpretation des Höhlengleichnisses, der Idee der Destruktion der Geschichte der Philosophie, um zu ursprünglichen Einsichten und Erfahrungen zurück­kehren zu können, sowie der Aufspaltung der griechischen Tradition. Aristoteles fällt aus­drücklich mit in dieses Programm der Destruktion einer Tradition. Scharf heißt es im Denktagebuch einmal, er ersetze Idee durch Telos und verbleibe damit im problemati­schen Rahmen, ungeachtet seiner treffenden Kritik an Plato, nach der dieser bekanntlich die Polis falscher Weise mit dem Oikos identifiziert.44 Genuin politische Erfahrungen sind erst – wie knapp umrissen – mit Rekurs auf Homer zu gewinnen. Arendt variiert die Mo­tive jedoch nicht nur, sondern reiht auch Heidegger auf spezifische Weise in die Tradition „un“politischer Philosophie ein, da er sich nicht der Politik zuwendet und sie nicht an ih­rem eigenen Maßstab zu messen vermag. Seine Kritik der Metaphysik, der Philosophie, bleibe somit unvollständig. Und es sei kein Wunder, dass er in politischen Dingen sub­stantiell und auf dramatische Weise fehl geht. Der Philosoph im alten Sinne bestehe in Heidegger fort.
Innerhalb dieses Rahmens wird das Höhlengleichnis näher erörtert. In „Tradition und die Neuzeit“ heißt es: „Den Anfang setzte Plato im ‚Staat‘, genauer im Höhlengleichnis, das, weil es weder von Philosophie noch von Politik handelt, sondern von der Beziehung zwischen ihnen, den eigentlichen Kern von Platos politischer Philosophie darstellt.“45 Dies ist zugleich eine Kritik an Heidegger, der diese Relation ebenfalls nicht angemessen the­matisiert habe. Aber in der Wahrheitsauffassung und dem Konzept des Denkens folgt sie Heidegger gegen Plato. Das Schlüsselzitat zum Wahrheitsverständnis, das eng mit dem Konzept des Denkens verbunden ist, lautet: „Der Hauptirrtum ist zu glauben, daß Wahr­heit ein Ergebnis ist, das sich am Ende eines Denkprozesses einstellt. Wahrheit ist, im Ge­genteil, immer ergebnis-los. Das ist der Unterschied zwischen ‚Philosophie‘ und ‚Wissen­schaft‘: Wissenschaft hat Ergebnisse, Philosophie nie. Das Denken beginnt, nachdem eine Wahrheitserfahrung eingeschlagen hat, sozusagen.“46
Es ist genau diese Wahrheitskonzeption, die in die weitreichende These eingewoben wird, dass am Anfang und am Ende einer Tradition, also in der Krise, die Probleme, hier das Verhältnis von Philosophie und Politik, in ihrer Schärfe hervortreten. Demnach hat bei Plato eine Wahrheit, eine Erfahrung eingeschlagen: Der Tod des Sokrates und der Rückzug der Philosophie aus dem öffentlichen Raum führen zum zurückgezogenen philo­sophischen Denken.47 Erst nach dieser Rückzugsbewegung entwickelt Plato sein Konzept. Am Ende der Tradition steht die Erfahrung des Bruches der abendländischen Tradition, der im Ersten Weltkrieg seinen Anfang nimmt und in den Konzentrations- und Vernich­tungslagern vollendet wird. Im Denktagebuch findet sich dafür eine weitere Explikation: „Nicht Kants Zweifel am Inhalt des Glaubens und nicht die platonische Verachtung der Praxis, [sondern] Kierkegaards Übertragung des Zweifels in den Glauben und Marx’ Übertragung des dialektischen Logos in die Praxis haben Glauben und Handeln unmög­lich gemacht.“ Das kennt man von Arendt, aber die Pointe ist eine andere, es geht nämlich weiter: „Also die scheinbare Erhöhung der Politik und Religion haben sie den Kopf gekos­tet.“ (DT, 310). Diesen Gedanken herauszustreichen lohnt sich, weil Arendt nicht selten so gelesen wird als wenn sie vor allem der Politik einen besonders hohen Rang zuschrei­ben möchte. Das ist in gewisser Hinsicht richtig, es geht ihr ja darum, die Politik als sol­che richtig zu begreifen. Deshalb spricht sie auch lobend über Machiavelli, der versucht habe, die Politik in ihrer alten Würde wieder einzusetzen.48 Mit ‚alte Würde‘ ist hier die griechisch-römische Wertschätzung der Politik im Gegensatz zur mittelalterlichen Vari­ante gemeint. Aber der Hinweis darauf, dass Politik nicht in falscher Weise überhöht wer­den dürfe, wie es bei Marx geschieht, ist wesentlich, erinnert er doch daran, dass Politik immer im Kontext der anderen praktischen und theoretischen Tätigkeitsformen verstan­den werden sollte. Das Konzept läuft also mitnichten auf einen Politizismus, eine Zentral­stellung und Überschätzung der Politik hinaus.
Mit Heidegger unterscheidet Arendt vier Stufen im Höhlengleichnis:49 Die Ausgangsla­ge ist der Blick der Gefesselten nach vorne, wo sie die Schatten der hinter ihnen herumge­tragenen Gegenstände sehen; die zweite Stufe beginnt mit der Entfesselung einzelner, die sich umwenden und hinter sich blicken können, also in das Feuer, vor dem die Gegen­stände getragen werden; die dritte Stufe stellt auf den Gefangenen am Höhlenausgang ab, der von der Sonne geblendet ist und die „wirkliche Welt“ zunächst nur im Spiegel einer Pfütze wahrnehmen kann, bis er nach einer Gewöhnungszeit frei umherzuschauen ver­mag; die vierte Stufe betrifft die Rückwendung in die Höhle, den Abstieg in die Tiefe zu den Gefesselten. Diese Stufen heben weit mehr als jene Blickwendungen heraus, welche die wirkungsmächtige neuhumanistische Deutung von Werner Jäger in Paideia beschreibt. Aber in Jägers klassischer Studie gibt es einen wichtigen Hinweis, dort heißt es: „Aber we­nige beachten den ersten Satz des siebten Buches, der das Höhlengleichnis einleitet, in dem Plato es ausdrücklich als ein Gleichnis der Paideia bezeichnet. […] Es sieht die Pai­deia nicht wie das Sonnengleichnis vom Unbedingten aus, sondern vom Menschen aus: als die Wandlung und Läuterung der Seele zur Schau des höchsten Wesens.“50 Er erkennt das Wesen der philosophischen Erziehung als „Umdrehung oder Umkehrung der ‚ganzen Seele‘ zum Licht der Idee des Guten, dem Ursprung des Alls.“51 Diese Umwendung ist zwar schon recht weit gefasst, aber bei Heidegger ist es eben nicht nur Seele, sondern das praktische „in-der-Welt-Verhalten in der Welt“, das sich jeweils bei jeder Wendung ändern muss.52
Auch Arendt betont die Änderung praktischen Verhaltens im Aufsatz „Tradition und Neuzeit“53, aber zum Teil im Denktagebuch noch dezidierter, jeder Veränderung der Lage entspreche zunächst eine Blendung (DT, 455). Nur die letzte Stufe sei ein mühsames Her­absteigen und Gewöhnung an die Dunkelheit. Jedoch über diese letzte Stufe hätte Plato kaum etwas in der Politeia gesagt, in andere Schriften fänden sich aber drei Argumente: der Zwang des Körpers, die Angst des Menschen von Schlechteren regiert zu werden und schließlich die Pflicht des Bürgers und auch des Philosophen, den Anderen mitzuteilen, was er weiß (DT, 497). Zudem verbindet Arendt die Ideen stark mit dem Höhlengleichnis und stellt nicht nur deren Maßstabscharakter für alles Wirkliche heraus. Insofern sieht auch sie den Schwenk von der Wahrheit zur Richtigkeit und der daraus folgenden Tyran­nei des Wissens. Aber Arendt hält fest, dass das Höchste unaussprechlich ist, kein Bild hat, und weil es keine Bilder und vernünftigen Aussagen über die Ideen gibt, „erfand Plato den Ausweg der Ideen. Die Idee drückt das Unsagbare aus.“ (DT, 484). Hier wird erneut deutlich, wie wenig die Interpretin sich mit schlichten Einsichten begnügen kann, viel­mehr müssen Komplexes und Kehrseiten stets erkundet werden.
Arendt – und das zeigt wiederum eine Nähe zu Heidegger, aber auch zu Nietzsche – spaltet die antike Tradition auf, es gilt nicht bei Plato und Aristoteles stehen zu bleiben, sondern weiter zurückzugreifen. In diesem Sinne pointiert sie, dass Plato selbst eine erste Umkehrung vorgenommen hat, nämlich die Umkehrung der sinnenfrohen, aktions- und erfahrungsreichen homerischen Welt, weil dessen Unterwelt bei Plato zur normalen Welt in der Höhle werde. Plato sei auf Homer neidisch (DT, 237). Mehr noch, Homer avanciert bei Arendt mit seinen Narrationen zum Schöpfer der athenischen Politik. Er eröffne einen agonalen-öffentlichen Raum, der gemeinsames Agieren, Versprechen und Verzeihen wie auch Identitätsbildung ermöglicht und mithin das Politische erst gestattet.54 Die Denkfi­gur der Umkehrung kommt bei Arendt nicht nur prominent bei der Auslegung des Höh­lengleichnisses vor, sondern auch bei der Interpretation von großen Autoren wie Nietz­sche und Marx. Bei der Kritik von Marxens Umstülpung/Umkehrung von Hegel landet die Theoretikerin der Natalität einen ihrer metaphorologischen Volltreffer, wenn sie poin­tiert, dass bei derartigen Umkehrungen die Mitte, also der Nabel, wenn man die Meta­pher konsequenterweise personal im Sinne des Marxschen‚ vom Kopf auf die Füße stellen‘ denkt, an der gleichen Stelle bleibe.55
Arendts später in Vom Leben des Geistes erneut diskutierte Rückkehr des Philosophen, setzt einen anderen Akzent, denn sie betont, es gebe keine Beispiele für die Feindschaft der Vielen; eher das Lachen und Angst vor dem Lachen treibe Plato an, wollte er doch, und das spricht für seine Angst, im Idealstaat das Lachen verbieten.56 Wenn Arendt in dieser Frage nun nachlegt,57 so zielt sie mit ihrer Kritik an „einer natürlichen Feindschaft der vielen“ gegenüber der Philosophie auf Heidegger, aber auch, wenngleich implizit, auf Leo Strauss. Letzterer hat auf seine Weise Anregungen von Heidegger aufgenommen und naturalisiert die Feindschaft zwischen Philosoph und Stadt bzw. Menge. Darüber hinaus macht er dies zum Angelpunkt seiner Unterscheidung von esoterischem, nur für Philoso­phen verständlichem Schreiben, und exoterischem Schreiben, mit dem sich der Philosoph auf einer Oberflächenschicht durch rhetorische Selbstverharmlosung gegenüber der Men­ge schützt, gleichzeitig aber kodierte Signale auf andere Sinnebenen des Textes sendet.
Interessanterweise diskutiert Arendt zwar die Rückkehr des Philosophen in die Höhle (v.a. DT, 497f.) und spricht über verschiedene Aspekte dieser Stufe des Gleichnisses; re­gelrecht frappierend ist aber, dass das große Motiv dieses Gleichnisses, das auch in der nächtlichen Versammlung der Nomoi leitend ist, nämlich die Korruptionsresistenz – die nötig ist, um in der Politik unabhängig bestehen zu können – kaum Thema wird. Das ist in mehrfacher Hinsicht erstaunlich, denn Arendt vermag es ja sonst oft, die Kehrseiten von Prozessen und Thesen zu eruieren. Zudem ist Korruption in ihrem politischen Den­ken ja ein relevantes Thema. So hebt sie hervor, dass Machiavelli nahezu alle ihrer For­men untersucht habe.58 Aber möglicherweise ist hier die republikanische Perspektive hin­derlich, sind es doch moralisch-politische Tugenden, die bei Plato die Korruptibilität ver­hindern sollen. Mit Machiavelli stellt Arendt nämlich auf eine scharfe Differenzierung moralischer und politischer Tugenden ab. Gerade mit Blick auf Plato und seine Reisen nach Syrakus und die in die Plato-Kritik eingeschriebene Distanzierung von Heidegger, wird deutlich, dass Arendt von der Korruptionsresistenz der Philosophen durch Politik und Herrschaft wenig hält. Vielmehr bildet gerade die notwendige Ergänzung der Philo­sophie durch ein bewusstes Verhältnis zur Politik, zur Pluralität und Öffentlichkeit ihr Credo. Beim antiken Meisterdenker wird demzufolge ein Rangunterschied in den Teilen seiner Philosophie konstatiert: Plato erreicht bei der Politik nie die Tiefe wie sonst (DT, 15f.). Auch Gründe, die keinen Eingang in den Essay über die problematische philosophi­sche Tradition kenntlich machen, werden markiert, wenn Arendt bei der Nomoi-Lektüre pointiert: „Die Tyrannei der Erkenntnis: Dies der zweite Grund der Vorliebe für den Ty­rannen. Es ist nicht die Herrschaft der Philosophen, sondern der Wissenschaft – des Recht-haben-Wollens.“ (DT, 31). In diesem Kontext werde Platos Motiv, der Furcht, von Schlechteren regiert zu werden, wirksam; es sei der Grund der ihn wie Philosophen über­haupt zur Politik ziehe. Eine solche Auffassung gehe automatisch mit wenig Institutio­nenvertrauen einher (DT, 207).
Zur problematischen Tradition der politischen Philosophie zählt auch Aristoteles, wie ich noch einmal herausstellen möchte, ohne dem en detail nachgehen zu können.59 Das Ziel der Arendtschen ‚Destruktion‘ der Tradition ist die Bestimmung bzw. Wiedergewin­nung eines angemessenen Verständnisses des Politischen. Hier findet sich wiederum eine Schlüsselpassage, ein Eintrag vom Juli 1955 im Denktagebuch, der hohen explikativen Wert hat. Arendt bestimmt das Politische60 dort in mehreren Gegensätzen, die ich wegen ihrer Dichte und der griechischen Einschübe paraphrasierend wiedergebe, um die Kom­plexität nicht zu reduzieren. Erstens als das Öffentliche im Gegensatz zum Privaten (Polis vs. Haus) aber auch als Polyarchie vs. Monarchie, als Meinung gegenüber der Idee, als Ge­sehen- und Gehörtwerden im Gegensatz zu Mit-Sich-Selbst-Sein; zweitens als Plurali­tät im Gegensatz zur Singularität sowie Zusammenleben/Zusammenhandeln und Mitein­anderreden gegenüber dem Einen, nämlich reiner Anschauung und purem Wahrnehmen; drittens als vita activa im Gegensatz zur vita contemplativa und schließlich viertens als das Gesellschaftliche im Gegensatz zum Intimen, als Sicherung des Lebens des „Ge­schlechts“ im Gegensatz zum Leben des Einzelnen, als Gemeinschaft vs Individuum. (Vgl. DT, 535f.). Das ist ein weites Bestimmungsset von vier Gegensatzpaaren, welches Arendt weder ausformuliert noch in der definitiven Fassung von Elemente und Ursprünge tota­ler Herrschaft, die 1955 erscheint, ausbuchstabiert hat. Hier aber zeigt sich deutlich, wo sie mit ihrem politischen Denken hin will, wie weit sie von Plato und Heidegger entfernt ist. Vor allem wird das Gravitationszentrum, um welches die Auseinandersetzung mit Pla­to und Heidegger kreist, die Totalitarismuskritik und das damit verbundene pluralistisch-re­publikanische Gegenmodell deutlich.

Das methodische Konzept von Arendt stammt, wenn man die Texte in der Folge des Erscheinens inklusive des Denktagebuches zur Kenntnis nimmt, mithin viel mehr aus dem 1954er Aufsatz „Tradition und die Neuzeit“. Die Benjaminschen Überlegungen, die in dem Band Zwischen Vergangenheit und Zukunft enthalten sind, bilden eigentlich eine zweite, die Heideggerschen Konzepte, überlagernde Schicht, die von den Lesern dieser Ausgaben als solche kaum wahrgenommen wird. Festgehalten werden muss, dass der Text „The Gap Between Past and Future“ von 1961 (dt. 1994) die Essaysammlung von Bet­ween Past and Future eröffnet. Die spätere leichte Überzeichnung der Heideggerschen Einflüsse durch Benjaminsche Überlegungen, die Arendt vorgenommen hat, geht gewiss auf die vertiefte Benjamin-Auseinandersetzung zurück, die Arendt im Kontext der 1960er Jahren im Zusammenhang mit der Herausgabe und Einleitung der Illuminations (New York 1968) vorgenommen hat.

II. 3 Spätere Plato-Lektüren

Auch nach 1953 bleibt Plato Gegenstand kritischer Reflexion, und zwar sowohl im Denktagebuch, als auch in den Schriften. 1954 schreibt Arendt an Heidegger auf dessen Frage, woran sie arbeitet, sogar, dass sie seit drei Jahren drei Sachen bearbeite, wobei nach der Erwähnung einer von Montesquieu inspirierten Analyse der Staatsformen und einer Analyse der verschiedenen praktischen Tätigkeiten geschrieben steht: „3. Vom Höh­lengleichnis (und Deiner Interpretation ausgehend) eine Darstellung des traditionellen Verhältnisses von Philosophie und Politik, eigentlich die Stellung von Plato und Aristote­les zur Polis als die Grundlage aller politischen Theorie.“61 Manche andere der späten Be­merkungen im Denktagebuch sind nur en lisant, andere wiederum vergewissernde Bestä­tigungen, aber es gibt auch bemerkenswerte Vertiefungen von Gedanken. In meiner Sicht kreisen sie um das Verständnis des Denkens, so wird immer wieder das bohrende Den­ken, der „Vorrang des Fragens“ bei Sokrates betont (DT, 693). Selbst nach der Publikati­on von Vita activa (amer. 1958), gehen die Reflexionen zum Denken weiter. Im Denkta­gebuch findet sich die schöne Formulierung: „Das Sokratische: je mehr ich Gerechtigkeit denke, je weniger weiss ich, was es ist und je gerechter werde ich.“ (DT, 735) Wenig später heißt es im gleichen Notat „der Gedanke wirkt, wenn er gedacht wird“ (DT, 735). Immer wieder begegnet die Akzentuierung, dass das Denken ein ergebnisloser, andauernder Pro­zess sei (z.B. DT, 749), wobei in diesem Zusammenhang ab und an Heidegger aufgerufen wird. Eine letzte Notiz zum platonischen Höhlengleichnis findet sich Anfang 1958. Dort heißt es: „Das philosophierende Denken lässt weder sich noch die Anderen zur Ruhe kommen. Daraus entsteht die Gefahr für den Philosophen. Im Höhlengleichnis ist es um­gekehrt: Die Vielen lassen den Philosophen nicht in Ruhe. Die Initiative hat gewechselt. Der Philosoph braucht Ruhe, bei Sokrates umgekehrt: Er hat nicht einmal die [schole] Muße für die öffentlichen Angelegenheiten.“ (DT, 586f.). Das existentielle-politische Den­ken von Arendt favorisiert – wie man hier leicht erkennen kann – Sokrates gegenüber Plato, setzt auf die Öffentlichkeit und Einmischung im Gegensatz zur akademischen Ab­geschiedenheit. Jedoch ist dies keine generelle Bestimmung des Denkens, denn das philo­sophische Denken bedarf der Einsamkeit, Zurückgezogenheit, des Dialogs mit sich. Die vita contemplativa bildet, wie Arendt nicht müde wird in Vita activa zu behaupten, kei­nen angemessenen Maßstab für die Politik, sie verfehlt sie systematisch und führt zu poli­tischer Philosophie im von ihr vehement kritisierten Sinn. Daher kann Arendt 1968 noch einmal pointieren: „Bei Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit: ‚Das Wesen der Wahrheit ist die Freiheit.‘ Abgelesen an Platos Höhlengleichnis, wo der Mensch aus der Höhle, von den Fesseln befreit, ins Freie kommt. Aber das macht nicht die Wahrheit frei, sondern umgekehrt, die Befreiung ermöglicht Wahrheit“ (DT, 675) – wobei Wahrheit hier im oben skizzierten existentiellen Sinn gemeint ist. Die unvollendeten Monographie Vom Leben des Geistes rückt Plato dann auf andere Weise ins Zentrum, denn darin geht es nicht um die Politik, die Schrift beginnt mit Motti von Plato (aus dem Politikos) und Heidegger (aus Was heißt Denken), aber deren Relevanz ist ein eigenständiges Thema.62

III. Resümee & Ausblicke

Das Denktagebuch kann also, wie seine Herausgeberinnen Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann vermutet haben,63 zu neuen Lesarten verhelfen. Es ist ein Schlüssel, um die Entstehung des wegweisenden Essays „Tradition und die Neuzeit“ und die Ausformung der Konzeption eines politischen „Denkens ohne Geländer“ nach dem Bruch der Tradition Anfang der 1950er Jahre zu erklären. Dass dabei die kritische Auseinandersetzung mit Plato und Heidegger eine wesentliche Rolle gespielt hat, hoffe ich, gezeigt zu haben. Den Konzepten der Lehre, des Denkens und der Wahrheitsauffassung kommen dabei wesent­liche Funktionen zu. Arendt nimmt sie von Heidegger auf, kehrt sie gegen ihn und führt sie zu Konsequenzen bei einer Neubestimmung des Politischen, die im Denktagebuch in­klusive einiger Gegenbegriffe sogar weiter angelegt wurden, als sie in ihren publizierten Schriften ausgeführt sind. Zugleich ist der emphatische Begriff des ergebnislosen Den­kens, das existentielle Wahrheit auszubuchstabieren sucht, die Basis für die große Distanz von Arendt zu den eher analytischen, an überprüfbaren Ergebnissen orientierten Sozial­wissenschaften.
Leitend für die gesamte zeitgenössische Auseinandersetzung mit Plato ist die kritische Durchdringung des Totalitarismus, die Arendt Mitte der 1950er Jahren zu einem vorläufi­gen Abschluss bringt. Plato spielt dabei als Vater, oder besser als Urgroßvater, einer pro­blematischen Tradition eine zentrale Rolle, die nicht von sich aus zum Totalitarismus führt. Zugleich ist er neben vielen Anregungen eine Quelle für Arendts in Vita activa ent­faltete Unterscheidung von archein und prattein, was gesondert untersucht werden müss­te.64 Die endgültige Gestalt des Totalitarismus-Buches, die deutsche Fassung von 1955, de­ren Veränderungen dann in die amerikanische Erstausgabe von 1951 eingearbeitet wer­den, ist demnach nicht nur philosophiegeschichtlich und methodisch in erheblicher Wei­se auf eine Auseinandersetzung mit Plato und auch Heidegger zurückzuführen. Darüber hinaus zeigen die Notate im Denktagebuch, dass Arendt ihre Umarbeitung nur vorneh­men konnte, weil sie eine andere Auffassung des Politischen, eine Differenzierung von Tä­tigkeiten im Ansatz entwickelt hatte, die erst in späteren Schriften ausformuliert werden.
Wenn man den Blick auf Arendts Auseinandersetzung mit Plato nicht nur über die 1950er Jahre hinaus weitet, sondern auch Ko-Texte einbezieht, dann zählt zu den bemer­kenswerten Ergebnissen meiner Betrachtungen, dass die Protagonistin eines dramaturgi­schen Modells politischen Handelns, das auf die Enthüllung von Personen im öffentlichen Raum, auf das kreativ-kollektive Beginnen von Neuem abstellt, auftretende Theoretike­rin65 sich nicht für den dramatischen Charakter der Dialoge von Plato interessiert. Sie liest die Texte in einem politischen Gesamtrahmen, klopft sie auf eine implizite Lehre ab, sucht in Begriffe eingekapselte Erfahrungen und nimmt die Thesen häufiger auch für sich genommen ernst. Die Inszenierung selbst bleibt außen vor, also das, was beispielsweise Leo Strauss herausstreicht: die Veränderung des dramaturgischen Settings in der Poli­teia, nämlich dadurch, dass der alte Kephalos verschwindet (erst dann kann die Rücksicht gegenüber dem Alter fallen gelassen werden);66 die Relevanz der Diskussion über das Weintrinken in den Nomoi, die eine Radikalisierung der Thesen vorbereitet, da so das politische Gebot der Mäßigung suspendiert wird;67 die Kommentierung von Text durch Handlungen, die uns helfen, Ironie zu verstehen. Hier hat Arendt einen anderen Weg ein­geschlagen. Mit ihrer Konzentration auf Plato steht sie freilich nicht allein, Plato war na­hezu eine Manie deutscher Theoretiker in der Weimarer Zeit. Schon deshalb lagen die kri­tische Auseinandersetzung und Relektüren, wie sie dann einsetzten, nahe. An ihr haben sich, um nur ein paar Namen zu nennen, Autoren wie Werner Jäger, Hans Kelsen68, Leo Strauss, Karl-Raimund Popper, Eric Voegelin69 und viele andere beteiligt.70
Fraglos gräbt Arendt in ihrer diesseits und jenseits von Totalitarismuskritik liegenden Auseinandersetzung mit Plato tiefer als andere Autoren wie etwa Popper. Gerade weil es ihr um die Destruktion einer dauerhaften und problematischen Tradition geht, stehen weder Fehler noch falsche Methoden oder gar lineare Wege von Plato zu Hitler im Zen­trum der Kritik. „Tradition und die Neuzeit“ ist vielmehr ein konzeptiver Aufsatz, der Arendts Totalitarismuskritik auf philosophiegeschichtlichem Gebiet vermittels ‚Destrukti­on einer Tradition‘ abrundet und den Weg zum „Denken ohne Geländer“ methodisch re­flektiert beschreitet. Dass dies auf einer intensiven Relektüre von Plato ruht, bei der des­sen Politeia und das Höhlengleichnis im Zentrum stehen und darin eine unausgesproche­ne ‚Lehre‘ erkannt wird, muss herausgehoben werden. Wiewohl sich Arendt in ihrer Deu­tung von Plato vielfach Heideggerscher Einsichten bedient, zielt sie zugleich auf eine Kri­tik an Heidegger, der auf seltsame Weise in Fallen der von Arendt inkriminierten (unpo­litischen) politischen Philosophie, tappt, ohne politische Themen ernsthaft zu erörtern, sondern seine Philosophie occasionell politisch ausmünzend. Von der politischen Blindheit und dem unpolitischen Kern seiner Philosophie ist in der späten Heidegger Würdigung von Arendt71 allerdings viel weniger zu erkennen als in ihrem Denktagebuch und ih­rer scharfen Kritik an der politischen Philosophie.

Werkgeschichtlich kann ein Ergebnis meiner Überlegungen wie folgt pointiert werden: Wiewohl Between Past and Future (1961, erw. 1968) nicht ins Deutsche übersetzt wurde und der Band erst später von Ursula Ludz in erweiterter Form als Zwischen Vergangen­heit und Zukunft. Übungen in politischen Denken I (1994) erschienen ist, bildet der 1957er Band Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, sachlich und methodisch den Nukleus des späteren amerikanischen Buches, das in me­thodischer Hinsicht durch die Einleitung „The Gap Between Past and Future“ ergänzt wurde. Es lohnt sich jedoch, auf den methodischen Ansatz von „Tradition und die Neu­zeit“ zurückzugehen, weil er die wesentlichen Impulse enthält, die in der späteren Einlei­tung erweitert und mit Benjaminschen Überlegungen ergänzt wurden. Arendts Band zum politische Denken ist in Deutschland überhaupt spät aus dem Schlagschatten der Mono­graphien (Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Vita activa und Über die Revo­lution) getreten; die glänzende Essaysammlung verdient viel mehr Aufmerksamkeit als ihr bisher geschenkt wurde, zumal die Essays hierzulande schon wegen des Genres gerne zu leicht genommen werden.

Insgesamt gesehen hat sich die gern etwas leichthändig zur Aristotelikerin erklärte Arendt wohl viel mehr mit Plato auseinandergesetzt, wenngleich sie im eingangs zitierten Satz bekanntlich Aristoteles neben seinem philosophischen Lehrer als Begründer der von ihr kritisierten politischen Philosophie namhaft macht. Ein Grund für diese Vorliebe könnte in Platos radikalem Problemdenken liegen, das Arendts „Denken ohne Geländer“ und existentieller Wahrheitsauffassung näher steht als der stets vermittelnde Systemati­ker aus Stageira.

 

 

1Arendt, Hannah: „Tradition und die Neuzeit“, in: dies. Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Den­ken der Gegenwart. Vier Essays, Frankfurt a. M. 1957, 9-45, hier 9 (amer. 1954).  

2Vgl. als Überblick das Lemma Sokrates/Platon. In: Heuer, Wolfgang/Heiter, Bernd/Rosenmüller, Stefanie (Hg.): Arendt Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, 185-188.

3Vgl. u.a. Magiera, Günter: Die Wiedergewinnung des Politischen. Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Platon und Heidegger, Frankfurt a.M. 2007 und Seitz, Jacob Stefan: Hannah Arendts Kritik der philosophi­schen Tradition - unter Einbeziehung der französischen Literatur zu Hannah Arendt, München 2002, v.a. 64-75.

4In: Wahrheit gibt es nur zu zweien. Briefe an Freunde. Hg. v. Ingeborg Nordmann, München/Zürich 2015, 124.

5Ebd., 127.

6Ebd., 154.

7Ebd., 261.

8Für Sternberger ist Arendt eine Aristotelikerin. Vgl. Sternberger, Dolf: Die versunkene Stadt: Über Hannah Arendts Idee der Politik. In: Merkur 30 (341), 935-945. Zum Neoaristotelismus vgl. Strassenberger, Grit: „Neoaristotelismus und narrativistische Wendungen politischer Theorie. Hannah Arendt, Michael Walzer und Martha Craven Nussbaum.“ In: Bluhm, Harald/Gebhardt, Jürgen (Hg.): Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik, Baden-Baden 2006, 155-180. Vgl. auch Gutschker, Thomas: Aristote­lische Diskurse. Aristoteles in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 2002. Seine Arbeit ist vor dem Erscheinen des Denktagebuchs fertig geworden und überschätzt daher nicht zufäl­lig die Relevanz von Aristoteles für Arendt.

9Es gibt weitere Spuren, deren Verfolgung sich lohnen würde, was aber über den Rahmen dieses Aufsatzes hinausgeht. Unter III. wird eine dieser Spuren, die auch mit Plato-Bezug diskutierten Tätigkeitsformen (Kon­templation, Handeln, Herstellen, Arbeiten) zumindest angedeutet.

10Vgl. Althaus, Claudia: Erfahrung denken. Hannah Arendts Weg von der Zeitgeschichte zur politischen Theo­rie, Göttingen 2000.

11Dezidiert heißt es später im Vorwort zu Zwischen Vergangenheit und Zukunft (München 1994, 18): “einer In­terpretation, deren Hauptziel ansonsten darin besteht, die wirklichen Ursprünge der traditionellen Begriffe zu entdecken, um aus ihnen ihren ursprünglichen Geist neu herauszukristallisieren.“

12Vgl. Bluhm, Harald: „Von Weimarer Existentialphilosophie zum politischen Denken. Hannah Arendts Kri­senkonzept und ihre Auffassung politischer Erfahrung.“ In: Probst, Lothar/Wilfried (Hg.): Die Entdeckung der Frei­heit. Amerika im Denken Hannah Arendts, Bodenheim, 2003, 69-92.

13Sternberger, Dolf: „Die versunkene Stadt: Über Hannah Arendts Idee der Politik.“ In: Merkur 30 (341) S. 935-945.

14Vgl. Jaspers, Karl: Philosophie, [1932] Berlin/Göttingen/Heidelberg 1948, 2. Buch erster Hauptteil zur Kom­munikation, S. 350 werden Momente für ein expressives Modell von Öffentlichkeit, das Arendt später entwi­ckeln wird, deutlich. Dort heißt es: „In der Kommunikation werde ich mir mit dem anderen offenbar.“ Vgl. zur Rolle der Kommunikation bei Jaspers auch Hannah Arendt: Was ist Existenzphilosophie [1948], Frank­furt a.M. 1990, 40f. (amer. 1946).

15In ähnliche Richtung, aber viel genereller ohne Akzent auf den wenigen Schlüsseltexten, wie ich es versuche, Magiera, Günter: Die Wiedergewinnung des Politischen. Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Platon und Heidegger, Frankfurt a.M. 2007.

16Vgl. den Überblick zur Beziehung Arendt und Heidegger und Deutungen dieser Beziehungen in Karin Fry: Arendt: A Guide for the Perplexed, London/New York 2009, 114-119. Die Nähe zwischen Plato und Heidegger tritt auch in Arendt, Hannah: „Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt“ [1969]. In: dies.: Menschen in finste­ren Zeiten. Hg. v. Ursula Ludz München/Zürich 1989, 172-184 hervor. Beide gelten als Vertreter von bohren­dem Denken, die nie über etwas, sondern das jeweilige Etwas erkunden.

17[1] Vgl. Taminiaux, Jacques: The Thracian Maid and the Professional Thinker. Arendt and Heidegger [frz. 1992], New York 1997 (hier steht der Zusammenhang von Heidegger und Arendts Vita activa im Zentrum), Villa, Dana R.: The Fate of the Political. Arendt and Heidegger, 1995 und zum expressiven Modell der Öf­fentlichkeit vgl. Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne [engl. 2000], Frankfurt a.M. 2006. Die andere Linie der Deutung eines eher schädlichen Einflusses von Heidegger auf Arendt, die ihre mangelnde Distanz betont, repräsentieren Hinchman, Lewis P./ Hinchman, Sandra K.: „In Heidegger’s Shadow: Hannah Arendts’s Phenomenological Humanism“. In: Review of Politics, vol. 46, April 1984, No. 2, 183-211), Bernstein, Richard J.: Hannah Arendt and the Jewish Question, Cambridge MA 1996 und Wolin, Richard: Heidegger Children. Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas und Herbert Marcuse, Princeton 2001.

18Die Vorlesungen finden sich in: Heidegger, Martin: Platon: Sophistes. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe II. Abteilung: Vorlesungen 1919-1944, Band 19, Frankfurt a.M. 1991.

19Vgl. den vielzitierten Brief von Hannah Arendt an Martin Heidegger vom 8. Mai 1954. In: Hannah Arendt/Martin Heidegger: Briefe 1925-1975, aus den Nachlässen. Hg. v. Ursula Ludz, Frankfurt a.M.: Klos­termann, 2013 (4. Aufl.), 144-147, hier 146.

20 In der amerikanischen Erstausgabe von The Origins of Totalitarianism (New York 1951) gibt es nur einen Verweis auf Plato, dort S. 9, in der deutschen Ausgabe (1955) hier nach derjenigen von 1991 zitiert, ist der auf S. 34 zu finden. Die anderen Verweise in der deutschen Ausgabe finden sich zum einen auf Seite 466 zu Plato und die Grenzen des Machbaren (Gott und nicht der Mensch muss das Maß sein – das berühmte Zitat aus den Nomoi St. 716c) und zum anderen Seite 527 - dort bringt Arendt das erste Mal die Differenz von archein-prattein aus dem Politikos von Plato ein und kritisiert, dass damit nur das Geben und Vollziehen von Befeh­len gemeint ist.

21Arendt hörte eine Vorlesung über Kierkegaard bei Romano Guardini als Teenager in Berlin (im Jahr vor ih­rem Abitur, vgl. Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit (1986), Frankfurt a.M. 1991, 76 (amer. 1981), dort ist auch von den frühen Griechischzirkeln die Rede). Vgl. dazu die Würdigung von Kierkegaard in der Reichsausgabe der Frankfurter Zeitung vom 29. Jan. 1932, in der Arendt Kierkegaard als Revolte eines Philosophen gegen die Philosophie deutet, die die Bedingungen des Philosophierens klärt und dieses als prozesshaften Vorgang begreift. Vgl. den Neuabdruck im Anhang  von Glöckner, Dorothea: Das Versprechen. Studien zur Verbindlichkeit menschlichen Sagens in Søren Kierkegaards Werk „Die Taten der Liebe“, Tübingen 2009, 216-219.

22Arendt stellt mehrfach dessen umgekehrten Platonismus heraus und, was mir noch bedeutsamer erscheint, sie lässt gelegentlich die von ihr kritisierte politische Philosophie mit Nietzsche enden. Vgl. Brief an Jaspers vom 4. März 1951. In: Wahrheit gibt es nur zu zweien. Briefe an Freunde, hg. v. Ingeborg Nordmann, Mün­chen/Zürich 2015, 127.

23Arendt, Hannah: „Philosophie und Soziologie“ [1930]. In: Der Streit um die Wissenssoziologie, hg. v. Volker Meja und Nico Stehr, Frankfurt a. M., 1982, Bd. 2, 515-531. Heidegger wirft in seinen Plato-Vorlesungen 1931/32 der Wissenssoziologie vor, in der „Höhle“ der Meinungen herumzutappen, ohne sie verlassen zu kön­nen. Vgl. Heidegger, Martin: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet (Win­tersemester 1931/32). In: ders.: Gesamtausgabe Bd. 34, Frankfurt a.M. 1988, 86. Arendt argumentiert zwar mit einem ähnlich emphatischen Begriff des Denkens, aber sie begreift schon seinerzeit die Höhle anders und bindet Politik bekanntlich prinzipiell an die Meinungen der Pluralität von Akteuren.

24 In diesem Zusammenhang reist sie nach Europa, trifft Heidegger, hörte zwei Stunden seiner Vorlesung „Was heißt Denken“ und hält Vorträge über Ideologie und Terror. Vgl. Herausgeberinnen Erläuterungen in DT, 968.

25 Arendt bezieht sich auf Heidegger, Martin: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und The­ätet, Frankfurt a.M. 1943.

26 Arendt Brief an Sternberger vom 26. Aug. 1949. In: Wahrheit gibt es nur zu zweien. Hg. v. Ingeborg Nord­mann 2015, 86-88, hier 86f.

27Haucke Brunkhorst hat betont: „Es ist falsch, wie oft behauptet wird, erst Arendt habe aus Heideggers Begriff der ‚Welt‘ ein pluralistisches Konzept gemacht.“ … „Erst am Ende von Sein und Zeit scheint Heidegger die in­dividualistische und pluralistische Tendenz des Buches aufheben zu wollen zugunsten eines Pluralismus von Kollektivbegriffen wie ‚Generation‘ und ‚geschichtliches Volk‘.“ Brunkhorst, Hauke: Hannah Arendt, Mün­chen 1999, S. 19. So richtig dies ist, vertritt Heidegger dennoch nie einen politischen Pluralismus, weil sein Verständnis von Öffentlichkeit dies nicht zulässt, wie Brunkhorst ebenda S. 21f. konzediert. Deshalb kann Arendt allerdings zu Recht festhalten: „Diese Pluralität ist seit Plato (und bis Heidegger) dem Menschen im Wege – in dem Sinne, dass sie ihm nicht seien Souveränität lassen will.“ DT, 79f.

28 Vgl. Benhabib, Seyla: Hannah Arendt, die melancholische Denkerin der Moderne [1996], übers. v. Karin Wördemann, Ham­burg 1998, 97-103.

29Vgl. Ursula Ludz: Zu diesem Band, in: Hannah Arendt/Eric Voegelin: Disput über den Totalitarismus. Texte und Briefe. Hg. v. Hannah Arendt-Institut in Zusammenarbeit mit dem Eric Voegelin Zentrum, Göttingen 2015, 7-10 sowie Ingeborg Nordmann: How to write about totalitarianism. Entwicklung eines Konzepts, das Fragen offenlegt. In: ebenda, 65-83.

30Ebd., 127.

31Arendt, Hannah: „Tradition und die Neuzeit“. In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hg. v. Ursula Ludz, München/Zürich 1994, 33. Dort heißt es, in einer Va­riation des Heideggerschen Konzept von ‚Lehre‘ über die Widersprüche: „Bei den großen Autoren führen sie meist in den eigentlichen Mittelpunkt ihres Werkes und bilden den wichtigsten Schlüssel für ein echtes Ver­ständnis ihrer Probleme und ihrer neuen Einsichten.“

32Heinrich Blücher an Hannah Arendt am 23. 5.52. In: Hannah Arendt Heinrich Blücher. Briefe 1936-1968. Hg. v. Lotte Köhler, München/Zürich 1996, 271-273.

33Man wünscht sich eine Arbeit, die den verstreuten und durchaus vielfältigen Spuren von Nietzsche im Schrifttum von Arendt nachgeht. Anregungen dazu finden sich bei Dana R. Villa, vgl. seinen Eintrag zu Nietz­sche in: Heuer, Wolfgang/Heiter, Bernd/Rosenmüller, Stefanie (Hg.): Arendt Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, 228-233. Der Bezug auf Plato und die Freiheit fehlt dort allerdings. Auch hier bietet das Denktagebuch Anknüpfungspunkte.

34 Hier bei einer zweiten Lektüre der Politeia werden erst die vier Stufen des Höhlengleichnisses, auf die ich im nächsten Abschnitt zu sprechen komme, erörtert vgl. DT, 454-456.

35 Arendt, Hannah: „Tradition und die Neuzeit“. In: Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Vier Essays, Frankfurt am Main, 1957, 9-45, der Text geht dann in den Band Zwischen Ver­gangenheit und Zukunft (amer. O 1961, erw. 1968, dt. hg. Ursula Ludz 1994 (Übungen im politischen Denken I) ein (vgl. ebenda 23-53), der die bekannte Einleitung „Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft“ ent­hält (ebenda, 7-19).

36Ich greife im Folgenden auf Überlegungen aus dem Aufsatz von Bluhm „Variationen des Höhlengleichnisses – Hannah Arendt und Leo Strauss“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 47, H 6, 1999, 911-933 mit verändertem Akzent zurück.

37Ich halte diesen Aufsatz für wichtiger als die spätere Einleitung („Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zu­kunft“, engl. 1961) in dem Band Zwischen Vergangenheit und Zukunft (1994), wiewohl dort wichtige Überle­gungen enthalten sind, inklusive der inzwischen fast zu häufig interpretierten Benjaminschen Metapher vom „Perlentauchen“. Vgl. dazu auch Schöttker, Detlev/Wizisla, Erdmut: „Hannah Arendt und Walter Benjamin Konstellationen, Debatten, Vermittlungen.“ In: dies. (Hg.): Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente, Frankfurt a.M. 2006, 11-44, hier 23-31.

38Ich diskutiere nicht, inwieweit die Darstellung der Rebellionen hermeneutisch besonders angemessene Inter­pretationen sind, sondern zeige nur, wie Arendt ihre These anlegt.

39Heidegger, Martin: Platos Lehre von der Wahrheit [1942, geht auf eine VL von 1931/32 zurück], Frankfurt a.M. 41997, 5.

40Abensour, Miguel: “Against the Sovereignty of Philosophy over Politics: Arendt’s Reading of Plato’s Cave Al­legory”. In: Social Research vol. 74, No. 4, Winter 2007, 955-982, Magiera, Günter: Die Wiedergewinnung des Politischen. Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Platon und Heidegger, Frankfurt a.M. 2007.

41Arendt, Hannah: “Tradition und die Neuzeit“. In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, Übungen im politi­schen Denken I. Hg. v. Ursula Ludz München 1994, 37.

42Ebenda S. 23. Dort heißt es: „Die abendländische Tradition politischen Denkens hat einen klar datierbaren Anfang, sie beginnt mit den Lehren [meine Herv. HB.] Platos und Aristoteles‘.“ Das amerikanische Teaching verdeckt den Sinn der kategorialen Bestimmung.

43Auch Heidegger sieht die Tradition der Philosophie von Plato bis Marx reichen – vgl. Magiera, Günter: Die Wiedergewinnung des Politischen. Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Platon und Heidegger, Frank­furt a.M. 2007, 33.

44Zudem wirft Arendt Aristoteles Subjektivierung vor. Vgl. DT, 25f.

45Arendt, Hannah: „Tradition und die Neuzeit“, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politi­schen Denken I. Hg v. Ursula Ludz, München 1994, 9.

46Brief von Hannah Arendt an Mary McCarthy vom 20. August 1954. In: Brightman, Carol (Hg.): Hannah Arendt/Mary McCarthy: Im Vertrauen. Briefwechsel 1949-1975, München/Zürich 1995, 73-79, hier 76f. (amer. 1995).

47Vgl. Arendt, Hannah: “Tradition und die Neuzeit”. In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, Übungen im politischen Denken I. Hg. v. Ursula Ludz München 1994, 33.

48 Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben, München 71992, 36 (amer. 1958).

49Vgl Arendt, Hannah: „Tradition und die Neuzeit“, S. 46-49 sowie Magiera, Günter: Die Wiedergewinnung des Politischen. Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Platon und Heidegger, Frankfurt a.M. 2007, 75-84 und wiederum DT, 454.

50 Jäger, Werner: Paideia [1933], Berlin 21989, 894.

51Ebd., 895.

52Nur am Rande sei vermerkt, das Höhlengleichnis kommt auch bei Jaspers in dessen Psychologie der Weltan­schauungen, Berlin 61971 (1919, 60) vor, aber auf völlig undramatische Weise.

53Arendt, Hannah: Tradition und die Neuzeit. In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen in politischem Denken I, hg. von Ursula Ludz, München 1994, 47f.

54Zur Rolle von Homer für Arendt vgl. Arendt, Hannah: Was ist Politik? Hg. v. Ursula Ludz, München/Zürich 1993, 46, 92-95 sowie Straßenberger, Grit: Hannah Arendt zur Einführung, Hamburg 2015, 62ff, 100f, 117f.

55Vgl Arendt, Hannah: „Tradition und die Neuzeit“, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (amer. O 1961, erw. 1968, dt. hg. Ursula Ludz 1994 (Übungen im politischen Denken I), 49f.

56Magiera S. 61

57Vgl. Vom Leben des Geistes (S. 87f)

58Hannah Arendt: Über die Revolution [1965], München 41994, 132 (amer. 1963).

59Vgl. DT, 17 wo es zum Essentialismus im Konzept des Menschen als ‚politischem Wesen‘ harsch heißt: „ …, als ob es im Menschen etwas Politisches gäbe, das zu seiner Essenz gehöre.“ Ähnlich kritisch äußert sie sich zum Menschen als sprechenden Wesen, vgl. DT 392. DT 414 hält zudem fest, dass Aristoteles eine Milderung von Plato ist, aber nicht mehr, auch er sucht eine Lebensform, die die Polis voraussetzt, aber außerhalb ihrer liegt.

60 Darüber wird Arendt noch mehrfach nachsinnen (v.a. in den aus dem Nachlass herausgegebenen Vorlesun­gen Was ist Politik? Hg. von Ursula Ludz, München 1993).

61Brief von Hannah Arendt an Martin Heidegger vom 8. Mai 1954. In: Hannah Arendt/Martin Heidegger: Briefe 1925-1975, aus den Nachlässen. Hg. v. Ursula Ludz, Frankfurt a.M.: Klostermann, 42013, 144-147, hier 146.

62Um noch ein weiteres Beispiel von Plato-Deutungen zu geben, die sich gegen das wendet, was später Logo­zentrismus genannt wird. In der Vorlesung Hannah, Arendt Über das Böse, München 2015 (amer. 2003) for­muliert Arendt „Nicht der ‚logos‘ überzeugt sie, sondern das, was sie mit den Augen des Geistes sehen, und das Höhlengleichnis ist teilweise auch eine Erzählung von der Unmöglichkeit, solch Gesehenes überzeugend in Worte und Argumente zu bringen.“ (Ebenda, 67)

63Vgl. Ludz, Ursula/Nordmann, Ingeborg: Nachwort der Herausgeberinnen. In: DT, 825-862, hier 847.

64Vgl. DT, 28, 203f., 327, 367, 389f., 487. Auch Gebürtlichkeit wird mit Blick auf Sokrates und die damit ver­bundene Hebammenkunst diskutiert DT 430, 684. „Es ist, als haben die Menschen seit Plato das Faktum des Geborenseins nicht ernst nehmen können, sondern nur das des Sterbens.“ DT, 463. Wichtiger noch ist die Hervorhebung aus den Nomoi, die auf das Göttliche Moment im Anfang und dessen Bewahrung abstellt DT, 37 sowie DT, 33. Am Rande sei bemerkt, dass auch die Frage nach dem Ort des Denkens, aus Platos Sophistes zurückgeführt und aufgenommen wird, DT 749. Die Unterscheidung der praktischen Tätigkeiten wird bei  Arendt in sehr komplexer Weise in Vita activa entwickelt. Für klarer halte ich den Vortrag „Labor, Work, and Action“ von 1964, vgl. die deutsche Übersetzung mit einer knappen Einleitung von mir. In: Deutsche Zeit­schrift für Philosophie, 46. Jg. (1998), Heft 6, 99-1009 sowie Bluhm, Harald (1998): Hannah Arendts Phä­nomenologie der Tätigkeiten des praktischen Lebens. In: ebenda, 992996.

65Vgl. Bluhm, Harald: Hannah Arendt und das Problem der Kreativität politischen Handeln., In: Bluhm, Ha­rald/Gebhardt, Jürgen (Hg.): Konzepte politischen Handelns. Kreativität - Innovation – Praxen, Baden-Ba­den, 2001, 73 – 94.

66Strauss, Leo: The City and Man [1964], Chicago/London 1968, 59 dort werden die Dialoge als “dramas in prose”, die als solche gelesen werden müssen, bestimmt, zu Cephalos vgl. 65 – das ist zugleich ein Beispiel dafür, wie in den platonischen Dramen Taten, Thesen kommentieren und konterkarieren.

67Vgl. Strauss, Leo: What is Political Philosophy? [1959], Westport Conn. 1973, 31f.

68Ich spiele hier auf den 1933er Aufsatz an („Die platonische Gerechtigkeit“ in: Kant Studien 38, 1-2, 91-117) und Kelsens posthum veröffentlichten umfangreichen Band Die Illusion der Gerechtigkeit. Eine kritische Untersuchung der Sozialphilosophie Platons, hg. von Kurt Ringhofer und Robert Walter, Wien 1985.

69blumenbergBrief von Eric Voegelin an Leo Strauss vom 18. April 1950 über Die Offene Gesellschaft und Ihre Feinde von Popper: „3. Popper is philosophically so uncultured, so fully a primitive ideological brawler, that he is not able even approximately to reproduce correctly the contents of one page of Plato.” In: Emberley, Peter/Cooper, Barry (ed.): Faith and Political Philosophy. The Correspondence Between Leo Strauss and Eric Voegelin, 1934-1964, Pennsylvania State University Press, 1993, 67-69, hier 68.

70Wenn man den Blick weiter schweifen lässt, muss man wenigstens Hans Blumenbergs grandiose Höhlenaus­gänge (1989), Frankfurt a.M. 1996 nennen. Erwähnt sei auch Pohle, Richard: Platon als Erzieher – „Pla­ton-Renaissance“ und Antimodernismus in Deutschland (1900-1945) Diss., Uni Halle 2015, erscheint 2016 bei Vandenhoek & Ruprecht.

71 Arendt, Hannah: „Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt“ [1969]. In: dies.: Menschen in finsteren Zeiten. Hg. v. Ursula Ludz München/Zürich 1989, 172-184.