Ausgabe 1, Band 8 – April 2016
Prekäre Politik. Hannah Arendt zur Flüchtlingsfrage
Angesichts der gegenwärtigen öffentlichen Debatten, die zwischen Humanitarismen, Kontingentierung und Rechtsruck orientierungslos mäandern, gilt es ein analytisches Register zu finden, um die Situation besser zu durchdringen. Das Problem der Flüchtlinge ist nicht nur eines der Hilfsstrategien und -mittel, obwohl sich diese Fragen am dringlichsten stellen. Der politische und ökonomische Horizont, in dem das Problem als solches überhaupt entsteht bzw. entstehen kann, muss untersucht werden. Denn es ist auch dieser Horizont, der den Spielraum eröffnet oder verengt, in dem gehandelt werden kann.
In ihrem frühen Werk hat sich Hannah Arendt in einer bis heute noch aufschlussreiche Weise mit den politischen Ursachen von Flucht und Staatenlosigkeit auseinandergesetzt. Noch stärker als die Kritische Theorie der ersten Generation hat sie die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs politisch betrachtet und die damaligen Möglichkeitsbedingungen und Effekten des Verlusts des politischen Status untersucht. In ihren späteren politischen Hauptwerken Vita activa, Über die Revolution, Macht und Gewalt ist der Bezug zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs nicht mehr so vordergründig. Dennoch lassen sie sich allesamt als konstruktive Reaktionen auf diese frühen Diagnosen und Themen verstehen, denn in all diesen Werken geht es Arendt um die Konzeption einer anderen Politik und eines neuen Rechts, die nicht mehr derart die Möglichkeit von radikaler Ausgrenzung in sich tragen.
Ich werde im Folgenden daher vor allem zwei große Linien in Arendts Werk nachzeichnen, die m.E. für die gegenwärtige Situation fruchtbar gemacht werden können. Die erste liefert eine Analyse und Kritik der institutionellen politischen Bedingungen von Staatenlosigkeit und Ausgrenzung. Die zweite artikuliert eine Phänomenologie der Situation der Betroffenen, eröffnet aber auch die Perspektive auf eine mögliche Politik der Ausgeschlossenen. Beide Linien möchte ich vom frühen zum späten Werk spannen und dieses wiederum als Antwort auf die früheren diagnostischen und phänomenologischen Ausführungen lesen.
Konkret heißt das: Ich werde zunächst auf Arendts Kritik des Nationalstaats und der Souveränität eingehen, um dann ihre Lektüre der Menschenrechte und des amerikanischen Konstitutionalismus als Versuch zu deuten, eine alternative Tradition rechtlich-politischen Denkens aufzuspüren und zu entfalten. Anschließend werde ich auf Arendts Phänomenologie der Staatenlosigkeit sowie auf ihre kurzen Anmerkungen zu einer Politik der Flüchtlinge eingehen, um ihre spätere Konzeption der Macht als Element einer nicht-souveränen Politik von outcasts herauszustellen.
In beiden Fällen bietet Arendts Werk keine praktischen Lösungen an, weder für die damaligen noch für die aktuellen Probleme. Indem sie auf luzide Weise zeigt, wie tief das Phänomen der Staatenlosigkeit in den politischen Strukturen der Moderne verankert ist, macht sie aber auch deutlich, dass es hierfür – jenseits von den sicherlich nötigen Hilfestellungen – keine einfache praktische Lösung geben kann. Die Frage der Flüchtlinge und Staatenlose erfordert vielmehr eine tiefgreifende Veränderung unserer politischen Formen, sowohl auf der Ebene der Institutionen als auch auf der unserer politischen Praktiken. Indem Arendt die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten und tiefsitzenden Strukturen unserer Politik aufzeigt und kritisiert und indem sie andere politische Formen und Praktiken erschließt, eröffnet sie jenen Denkraum, der unabdingbar ist, um die Frage anzugehen, in welchem politischen Horizont wir überhaupt leben und leben wollen, und damit zumindest die Perspektive für eine mögliche Veränderung.
Der Niedergang des Nationalstaats
Dies wird heutzutage besonders deutlich, wo die Nationalstaaten angesichts der angeblich so bedrohlichen Flüchtlingsmassen ihre Grenzregime verschärfen, unterstützt durch das Wiederaufblühen nationalistischer Ideologien. Obwohl Arendt weder in Elemente und Ursprünge noch anderswo eine direkte Kritik am Nationalstaat formuliert, so wendet sie sich vehement gegen das moderne Prinzip der Souveränität und die ihm eingeschriebenen Homogenisierungstendenzen, welche ja die Matrix der modernen nationalstaatlichen Ordnung sind.
Souveräne Politik
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich diese kriegerische und feindliche Matrix heute nicht nur in Kriegs- oder Terrorsituationen bemerkbar macht, sondern auch in der Konfrontation mit höheren Flüchtlingswellen, die als Freiheitsbedrohung empfunden werden. Und daher ist es leider auch nicht verwunderlich, dass die Massen der Asylsuchenden wie „Feinde“ behandelt werden und in Einrichtungen untergebracht sind, die nominell zwar keine sind, de facto aber sehr wohl Gefängnissen ähneln.
Arendts Kritik an der Souveränitätskonzeption trifft diese in ihrem ideellen Kern. Sie zielt daher nicht auf eine Reform oder Verbesserung dieser Konzeption, sondern auf deren Überwindung. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum nach der Diagnose vom Niedergang des Nationalstaats in Elemente und Ursprünge eine Lektüre der Menschenrechte folgt. Denn die universalistische Erneuerung, die dort artikuliert wird, ist zumindest auf dem ersten Blick dem exklusiven souveränen Recht diametral entgegengesetzt.
Ein anderes Recht
Obwohl die Menschenrechte ihrem Buchstaben nach neuartig klingen, so könnte man Arendts Gedanken reformulieren, war ihre Grundlage oder Quelle nicht wirklich neu. Das Naturrecht, das sich als dieses neuartige Fundament ausgibt, stellt für Arendt in Wirklichkeit keine Grundlage dar, weil die angeblich natürlichen Fakten, auf die es sich beruft – eine angeborene Freiheit und Gleichheit aller Menschen – keine wirklichen Fakten sind und aus ihnen daher auch keine Rechte erwachsen können. Das Faktum der Freiheit und Gleichheit ist für Arendt ein politisches Faktum, also ein Zustand, den es als realisiertes nur innerhalb einer politischen Gemeinschaft gibt. All jene, die aus einer politischen Gemeinschaft herausfallen, genießen daher weder Freiheit noch Gleichheit – jedenfalls nicht im Sinne der Menschenrechte. Fällt das Naturrecht als neue Rechtsgrundlage weg, so bleibt keine andere Quelle übrig als der nationalstaatliche Souverän.
Mit dem suggestiven „Recht, Rechte zu haben“ gibt Arendt dem Anliegen der Menschenrechte einen adäquateren Ausdruck, löst aber nicht das Problem der Staatenlosigkeit. Die praktische Frage, wer dieses Recht denn nun faktisch durchsetzt, stellt sich weiterhin. Dass diese Frage nicht wirklich beantwortet wird, zeigt sich nicht zuletzt an einer gewissen Aporie der Formulierung. Denn ein „Recht, Rechte zu haben“ anerkennt den Staat, wenn auch nicht mehr den Nationalstaat, als die einzige Quelle des Rechts, und situiert sich dennoch selbst auf der Ebene eines überstaatlichen Rechts.
In ihrem späteren Werk entscheidet sich Arendt entsprechend auch explizit für die Burkesche Seite der Aporie, also für die Annahme, dass die Quelle von Rechten nur Staaten sein können. Die Frage nach einem anderen als dem souveränen Recht kann sich daher nur in ihrem Innern oder an ihren Grenzen, aber nicht vollkommen jenseits staatlicher Strukturen stellen. Arendts institutionelles rechtliches und politisches Interesse verlagert sich entsprechend auf den Aspekt der Verfassung und Verfasstheit von Staaten. Es ist dieses Terrain, auf dem sich ihre Bemühung um eine Alternative zur souveränen Tradition der Moderne fortsetzt.
Constitutio libertatis
Arendts Deutung der amerikanischen Verfassung ist darauf ausgerichtet, in dieser eine Offenheit auszumachen, die die starren Inklusionsbedingen des Nationalstaats überwindet und mit der das festgefahrene Verständnis von Staatlichkeit und verfasster Ordnung aufgeweicht werden kann, die für die europäischen Staaten so prägend geworden sind. Es ist eben dieses Verständnis, das die europäischen Staaten heute die eigenen Grenzen so scharf kontrollieren lässt, um Flüchtlinge und Asylsuchende schon im Vorfeld zurückzuschicken oder, wenn sie nicht mehr abgewiesen werden können, in Nicht-Orten unterzubringen, in denen sie möglichst wenig in Kontakt mit anderen treten. Diese inzwischen fast alltägliche Praxis ist tief im Selbstverständnis von Politik und Bürgerschaft verankert und sie zu destabilisieren ein äußerst schwieriges Unterfangen.
Nicht zuletzt aus einem solchen Bewusstsein heraus beschäftigt sich Arendts gesamtes Werk vordergründig mit einer Bestimmung der Natur und Möglichkeit politischen Handelns und vergleichsweise weniger mit den daraus entstehenden Institutionen. Im Falle von Flüchtlingen und Staatenlosen ist die Möglichkeit einer politischen Beteiligung stark eingeschränkt, wie Arendt in ihrer Phänomenologie der Staatenlosigkeit als ein zentrales Unrecht dieser Situation herausstellt, aber immerhin keine Unmöglichkeit.
Staatenlosigkeit
Santner verweist nicht nur auf die ontologische Verletzlichkeit des Menschen, sondern auch auf die verstörenden und entsetzlichen Effekte der Ausstellung dieser Verletzlichkeit. Santners „Kreaturen“ sind in dem Sinne ent-setzlich, dass sie mit ihrem Dasein die angebliche „Unverletzlichkeit“ von autoritativen Instanzen oder etablierten Status’, wie sie für jeden Bürger eines nationalen Volkes selbstverständlich sind, durch ihre eigene Ausgesetztheit in Frage stellen und daher auch herausfordern. Der Zustand der Staatenlosigkeit bedeutet daher den Verlust elementarer menschlicher Fähigkeiten (Arendt), eine unnatürlich natürliche Form von Privation (Agamben) und die Zurichtung der eigenen Person zu einer „entsetzlichen“ Erscheinung (Santner).
Aus einem solchen Zustand heraus erscheint die Möglichkeit eines politischen Widerspruchs besonders schwer, dennoch sondiert Arendt trotz aller Drastik ihrer Beschreibung die Möglichkeit einer Politik der Flüchtlinge, wenn auch im vollen Bewusstsein ihrer Seltenheit und Fragilität.
Politik der Flüchtlinge
Die Ausstellung der Gefahr eines solchen Aktes ist aber auch nicht einfach nur als Warnung gemeint. Nicht nur vollzieht Arendt diesen Akt ja selbst, gerade indem sie den Text verfasst. Der Hinweis darauf, dass „menschliche Wesen schon eine geraume Weile nicht mehr existieren“ bedeutet ja auch, dass eine Existenz als solche, also jenseits von gesicherten Staatsrechten, keine vollkommen unmögliche Existenz ist, auch wenn sie unter den gegebenen Bedingungen, wo Rechte eine derart existentielle Bedeutung gewonnen haben, eine extrem fragile und gefährliche Angelegenheit ist. Anders als Agamben, der vor allem die existentielle Bedeutung von souverän verliehenen Rechten unterstreicht, eröffnet Arendt mit ihren Worten einen, wenn auch minimalen Hiatus, zwischen diesen und der Möglichkeit politischen Handelns.
In diesem Sinne verweisen auch andere Stellen im Text auf die Möglichkeit politischen Handelns, selbst wenn es sich auf den ersten Blick um eine ganz andere Art von Politik handelt als jene, die Arendt später in Vita activa beschreiben wird. Denn die Politik der Flüchtlinge ist eine Politik, die gerade nicht durch die Teilhabe an einer gemeinsam öffentlichen Sphäre entsteht, sondern aufgrund des Mangels an einer solchen. Dieser Mangel versperrt den Flüchtlingen nicht die Möglichkeit politischen Handelns und doch ist dieses anderer Art als die eines demokratischen Mit- und Gegeneinander der Freien und Gleichen. Die Politik der jüdischen Flüchtlinge bewegt sich auf einer anderen Ebene als die der demokratischen Mitbestimmung, denn ihr fehlt beides: das politische „Mit“ (zumindest mit der sie aufnehmenden Gesellschaft), das gegebenenfalls auch ein „Gegen“ ermöglicht, wie auch die „Bestimmung“, zu der die Flüchtlinge ja nicht berechtigt sind.
In unserer heutigen Situation lässt sich eine zunehmende Politisierung von MigrantInnen und Flüchtlinge gerade in diesem Sinne beobachten. Ihre Formen sind vielfältig: Dort, wo Abschiebung unmittelbar droht, sind sie zumeist sehr existentiell (Hungerstreiks, Besetzungen, camps in der Stadt etc.), sie können aber auch auf Information und Dokumentation ausgerichtet, oder spielerisch und experimentell sein, insbesondere dort, wo es um die Verbindung zu anderen Gruppen geht. Denn die Politiken der Flüchtlinge sind umso mehr auf Allianzen angewiesen, als nur eine weit geteilte alternative Praxis ihre Anerkennung stärken kann.
Im Folgenden möchte ich auf diese ‚Grenzen’ bzw. die Fragilität einer Politik der Flüchtlinge genauer eingehen. Um ihre eigentümliche Situation zu fassen, möchte ich die Bezeichnung des „Prekären“ ins Spiel bringen. Dabei geht es mir aber um alles andere als um eine resignierte Ermahnung zur realistischen Einschätzung. Die Fragilität der Situation als solche zu benennen, steht vielmehr im Kontext eines Versuchs – der m.E. auch Arendts Versuch ist – die hartnäckige Erbschaft einer souveränen Prägung von Politik auch auf der aktivistischen Ebene zurückzuweisen. In einer solchen Perspektive lässt sich jedenfalls auch Arendts Begriff der Macht anders deuten, auf den ich nach einigen Ausführungen zur prekären Politik der Flüchtlinge heute kurz eingehen möchte.
Prekäre Transformationen
Die Politisierung der Flüchtlinge ist von besonderer Brisanz, denn sie bedeutet entweder den gefährlichen Austritt aus der Klandestinität oder aber sie stellt, wie im Falle von AsylbewerberInnen, einen für den Staat unmöglichen Akt dar. AsylbewerberInnen haben aufgrund der in den europäischen Verfassungen verankerten Menschenrechte sehr wohl Rechte. Was ihnen aber nach wie vor abgesprochen wird, sind alle politischen Rechte (inkl. Versammlungsrechte). Bei den sog. „irregulären MigrantInnen“ wie auch bei AsylbewerberInnen gilt also, dass ihr politisches Handeln und die politische Selbstorganisation eigentlich von der staatlichen Politik als illegal angesehen werden.
In diese Richtung ließe sich nun Arendts Verweis auf die Macht des Handelns deuten, die sie strikt von Gewalt getrennt wissen möchte. Diese Trennung, die häufig als unrealistisch und letztlich auch als unpolitisch abgetan wurde, wird plausibler, wenn man Gewalt hier vor allem mit souveräner Gewalt gleichsetzt – also mit einer Gewalt, die, mit welchen Mitteln auch immer, von einer prinzipiell definierten Gruppe gegen andere oder jedenfalls auf deren Kosten ausgeübt wird. Die Hervorhebung eines gewaltlosen und dennoch machtvollen Handelns dagegen, kann als der Versuch gedeutet werden, auch auf der Ebene des politischen Aktivismus von der Semantik der Souveränität abzukommen und eine andere Form der Wirksamkeit anzuvisieren.
Wie auch schon auf der institutionellen Ebene handelt es sich bei Arendt auch hier mehr um die Andeutung einer Richtung, denn um die tatsächliche Lösung eines Problems. Diese Richtung ist aber mehr als radikal, denn sie führt an die Grenzen unseres abendländischen Politikverständnisses, mit seinen grundlegenden Kategorien von Souveränität, Bürgerschaft und Nation. Arendts Betonung von Pluralität statt Souveränität, von Prozessualität (der Verfassung) statt Status (der Nation), von Macht statt Gewalt lassen sich als der Versuch verstehen, eine andere politische Grammatik und Dynamik offenzulegen, die fortzuspinnen wäre.
Zweierlei Menschenrechte
Daher ist das Einklagen von Menschenrechten von Seiten der AktivistInnen ein zweischneidiges Unterfangen und Arendts Hinweis auf deren aporetischen Charakter weiterhin aktuell. Denn wenn die Menschenrechte auf der einen Seite als die Rechte derer aufgerufen werden, die keine Rechte haben, sind sie auf der anderen Seite zur Norm der internationalen Politik und der angeblichen „good governance“ geworden, die sie selbst für menschenrechtsverletzende Politiken instrumentalisiert.
*Francesca Raimondi ist seit 2015 Juniorprofessorin für Philosophie an der Kunstakademie in Düsseldorf und lebt in Berlin. 2009-2015 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt/M. und am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Politischen Philosophie und der Rechtstheorie sowie der Ästhetik. Zu ihren Publikationen gehören u.a. die Monographie Die Zeit der Demokratie. Politische Freiheit nach Carl Schmitt und Hannah Arendt (2014) sowie der zusammen mit Christoph Menke herausgegebene Sammelband Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen (2011).
1 Gilles Deleuze, „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, in: ders., Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 254-262, hier: S. 260.
2 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 175ff. Für eine facettenreiche Diskussion nicht nur von Agambens These zum Lager in der Moderne vgl. Ludger Schwarte (Hg.), Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas in der politischen Philosophie, Bielefeld: transcript 2007.
3 Zum Weltflüchtlingstag 2014 teilte das UNO-Flüchtlingskommissariat UNHCR mit, dass die Zahl der Flüchtlinge, Asylsuchende und Binnenvertriebene Ende 2013 weltweit die 50 Millionen überschritten habe. Sie hatte also bereits vor drei Jahren ein ähnliches Ausmaß wie im Zweiten Weltkrieg erreicht. (http://www.unhcr.org/53a155bc6.htmlx ) 2014 ist die Zahl bereits auf fast 60 Millionen gestiegen (https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html) und wächst weiter an, zusammen mit den Todeszahlen, die im Zusammenhang mit Flucht und Migration stehen (allein im Mittelmeerraum: http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/neue_schaetzung_mindestens_23000_tote_fluechtlinge_seit_dem_jahr_2000/).
4 Eine Ausnahme stellt hier die Arbeit von Christian Volk dar: vgl. u.a. ders., Die Ordnung der Freiheit. Recht und Politik im Denken Hannah Arendts, Baden-Baden: Nomos 2010.
5 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München-Zürich: Piper 1986, S. 560.
6 Ebd., S. 560 u. 563.
7 Vgl. dazu auch Etienne Balibar, „Die Nation-Form: Geschichte und Ideologie“, in: ders./Immanuel Wallerstein, Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg: Argument 1990, S. 107-130.
8 Hannah Arendt, „Freiheit und Politik“, in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München-Zürich: Piper 1994, S. 214f.
9 Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 126 [Herv. F.R.].
10 Ebd., S. 134. [Herv. F.R.]
11 Ebd.
12 Arendt, „Freiheit und Politik“, S. 213f.
13 Marc Augé, Nicht-Orte, München: Beck 2010, S. 83.
14 Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 601-605.
15 Ebd., S. 605.
16 Ebd., S. 614 sowie Hannah Arendt, „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“, in: Christoph Menke/Verf. (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2011, S. 394-410, hier: S. 401.
17 Zu einer solchen Deutung von Arendts Argument vgl. Christoph Menke, „Die „Aporien der Menschenrechte“ und das „einzige Menschenrecht“. Zur Einheit von Hannah Arendts Argumentation“, in: Eva Geulen/Kai Kauffmann/Georg Mein (Hg.), Hannah Arendt und Giorgio Agamben. Parallelen – Perspektiven – Kontroversen, München: Fink 2008, S. 131-147.
18 Vgl. Hannah Arendt, Über die Revolution, München-Zürich: Piper 1981, S. 183-231.
19 Für eine genauere (kritische) Rekonstruktion dieses Gedankens siehe Verf., Die Zeit der Demokratie. Politische Freiheit nach Carl Schmitt und Hannah Arendt, Konstanz: Konstanz UP 2014, S. 90-92 sowie Bonnie Honig, „Declarations of Independence. Arendt and Derrida on the Problem of Founding a Republic“, in: The American Political Science Review 85/1 (1991), S. 97-113.
20 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München-Zürich: Piper 1981, S. 213ff.
21 Ebd.
22 Und selbst dann bleiben sie fragil wie alle offenen politischen Strukturen. Dies führt Arendt mit Bezug auf die weitere Entwicklung Amerikas aus, in der sie ein nachträgliches Scheitern der Revolution durch das Überhandnehmen ökonomischer Interessen sieht. Ebendies wird heute auch an der Politik der USA gegenüber Flüchtlingen etwa syrischer Herkunft mehr als deutlich.
In diesem Sinne ist jene offene, politisch-dynamische Verfassung, die Arendt mit Amerika in Über die Revolution verbindet, eine noch zu realisierende Vorstellung, die sich niemals voll entfaltet hat. Sie ist „im Kommen“, also nicht vollkommen irreal und dennoch nicht da, wie sich Jacques Derrida mit Bezug auf die Demokratie und deren Gerechtigkeit ausdrückt.
23 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 615.
24 Arendt, „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“, S. 401. Arendt beschreibt diese Situation auch als eine der Rechtlosigkeit, was nicht mehr ganz zutrifft, da der Status des Staatenlosen inzwischen selbst eine rechtliche Kategorie ist. Genauer ist Agambens Wendung von einer „einschließenden Ausschließung“, die darauf hinweist, dass die souveräne nationalstaatliche Ordnung in sich selber Enklaven und Ausnahmen kennt und macht, in denen das Recht nur partiell bzw. auf eine hochgradig verzerrte Weise zur Anwendung kommt. (vgl. Agamben, Homo sacer, S. 31.)
25 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 624.
26 Ebd., S. 620.
27 Ebd., S. 614.
28 Ebd., S. 624.
29 Vgl. Hannah Arendt, „Wir Flüchtlinge“, in: dies., Zur Zeit. Politische Essays, Berlin: Rotbuch Verlag 1986, S. 7-21.
30 Arendts Artikel wendet sich an Juden in Amerika, die der Deportation in den KZs entflohen sind.
31 Die existentielle Wichtigkeit rechtlicher Anerkennung wurde auch von der späteren kritischen Theorie sowie von der feministischen und auch psychoanalytischen Rechtstheorie hervorgehoben – bei Letzteren allerdings auch im Bewusstsein der Zweischneidigkeit rechtlicher Anerkennung für minoritäre Gruppen. Vgl. u.a. Wendy Brown, „Rights and Losses“, in: dies., States of Injury. Power and Freedom in Late Modernity, Princeton: Princeton UP 1995, S. 96-134; Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, insbes. S. 148-226; Costas Douzinas, „Menschenrechte und postmoderne Utopie“, in: Christoph Menke/Verf. (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 186-214.
32 Eric L. Santner, The Royal Remains. The People’s Two Bodies and the Endgames of Sovereignty, Chicago-London: Univ. of Chicago Press 2011, S. 5-6.
33 Arendt, „Wir Flüchtlinge“, S. 17.
34 Ebd., S. 21.
35 Ebd., S. 19.
36 Ebd.
37 In dem Fall unter vollkommener Ausblendung der ungeheuerlichen Ausrottung der Urbevölkerung Amerikas.
38 Vgl. Arendt, Vita activa, S. 217-218.
39 Arendt, „Wir Flüchtlinge“, S. 16.
40 Vgl. Arendt, Vita activa, S. 215-16.
41 Arendt, „Wir Flüchtlinge“, S. 21.
42 Eine solche Form der politischen Ermächtigung lässt sich auch in der partizipatorischen Tradition der Menschenrechte verorten. Vgl. dazu Menke/Verf. (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte, S. 373ff.
43 Vgl. Andreas Kalyvas, „The Stateless Citizen: Irregular Migration and Cosmopolitan Citizenship“, http://www.lse.ac.uk/newsAndMedia/videoAndAudio/channels/publicLecturesAndEvents/player.aspx?id=1635
44 An den gewaltsamen Abschiebungen und der Art und Weise, wie die Flüchtlinge behandelt werden, wird deutlich, was diese Souveränität, die dem Normalbürger so selbstverständlich erscheint, an Sicherheit und Immunität vor staatlicher Gewalt bedeutet. Gleichzeitig kann dieser Umstand aber auch kippen, so dass der souveräne Staat auch gegen seine eigenen Mitglieder gewaltsam vorgeht, so zuweilen bei Demonstrationen oder im Falle von Staatsrassismus. Dies geht heutzutage zwar nicht bis zur Deportation, doch Agambens Homo sacer hebt zu Recht hervor, dass das souveräne Recht die Individuen grundsätzlich in eine prekäre Position versetzt, in der der Verlust an Rechten niemals gänzlich ausgeschlossen ist.
45 Vgl. Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin: b_books 2006.
46 Wobei sich hier die Frage stellt, auf die ich jedoch nicht weiter eingehen kann, inwiefern das moderne Verständnis von Revolution nicht selbst von Souveränitätsvorstellungen durchsetzt ist.
47 So etwa bei Kalyvas.
48 Vgl. Rosi Braidotti, „Affirmation versus Vulnerability: On Contemporary Ethical Debates“, in: Symposium: Canadian Journal of Continental Philosophy 10/1 (2006), S. 235-254, hier: 244f.
49 Vgl. Miriam Ticktin, „Where ethics and politics meet: The violence of humanitarianism in France“, in: American Ethnologist 33/1 (2006), S. 33-49. Zur Logik des Humanitären siehe auch: Didier Fassin, The Humanitarian Reason. A Moral History of the Present, Berkeley-Los Angeles: University of California Press 2012.
50 Mit Bezug auf eine Neubestimmung der Verfassung jenseits staatlicher Souveränität lässt sich hier auf die systemtheoretisch informierte Arbeit von Gunther Teubner verweisen: s. etwa Gunther Teubner, Verfassungsfragmente. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung, Berlin: Suhrkamp 2012.