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Ausgabe 1, Band 8 – April 2016

 

 

Prekäre Politik. Hannah Arendt zur Flüchtlingsfrage

Franceca Raimondi*
Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch. Allerdings hat der Kapitalismus als Konstante beibehalten, dass drei Viertel der Menschheit in äußerstem Elend leben: zu arm zur Verschuldung und zu zahlreich zur Einsperrung. Die Kontrolle wird also nicht nur mit der Auflösung der Grenzen kon­frontiert sein, sondern auch mit dem Explodieren von Slums und Ghettos.1
Die Prognose, die Gilles Deleuze 1990 aufstellte, hat sich bewahrheitet, aber auf eine Wei­se, die er nicht gänzlich ermessen konnte. Slums und Ghettos werden inzwischen von Auffang- und Flüchtlingslagern flankiert, in denen Menschen zwar angeblich nicht einge­sperrt sind und dennoch segregiert werden. So überspitzt Agambens These vom „Lager als nómos der Moderne“ noch vor zehn Jahren geklungen hat, es lässt sich inzwischen nicht mehr leugnen, dass Flüchtlingslager ein Merkmal unserer heutigen Situation sind.2

Angesichts der gegenwärtigen öffentlichen Debatten, die zwischen Humanitarismen, Kontingentierung und Rechtsruck orientierungslos mäandern, gilt es ein analytisches Re­gister zu finden, um die Situation besser zu durchdringen. Das Problem der Flüchtlinge ist nicht nur eines der Hilfsstrategien und -mittel, obwohl sich diese Fragen am dring­lichsten stellen. Der politische und ökonomische Horizont, in dem das Problem als sol­ches überhaupt entsteht bzw. entstehen kann, muss untersucht werden. Denn es ist auch dieser Horizont, der den Spielraum eröffnet oder verengt, in dem gehandelt werden kann.

In ihrem frühen Werk hat sich Hannah Arendt in einer bis heute noch aufschlussreiche Weise mit den politischen Ursachen von Flucht und Staatenlosigkeit auseinandergesetzt. Noch stärker als die Kritische Theorie der ersten Generation hat sie die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs politisch betrachtet und die damaligen Möglichkeitsbedingungen und Effekten des Verlusts des politischen Status untersucht. In ihren späteren politischen Hauptwerken Vita activa, Über die Revolution, Macht und Gewalt ist der Bezug zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs nicht mehr so vordergründig. Dennoch lassen sie sich allesamt als konstruktive Reaktionen auf diese frühen Diagnosen und Themen verstehen, denn in all diesen Werken geht es Arendt um die Konzeption einer anderen Politik und ei­nes neuen Rechts, die nicht mehr derart die Möglichkeit von radikaler Ausgrenzung in sich tragen.

Selbstverständlich sind die unmittelbaren Anlässe für Flucht- und Migrationswellen heutzutage nicht mehr dieselben wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist dennoch inzwischen nicht mehr zu übersehen, dass die Flüchtlingszahlen unter spätkapi­talistischen Bedingungen ein vergleichbares Ausmaß angenommen haben wie im Zweiten Weltkrieg.3 Genauer betrachtet, sind auch die Ermöglichungsbedingungen dieses Phäno­mens nicht vollkommen ausgewechselt. Dasselbe gilt für die Erfahrungen, die mit dem Zustand der radikalen (politischen) Ausgrenzung verbunden sind.

Ich werde im Folgenden daher vor allem zwei große Linien in Arendts Werk nachzeich­nen, die m.E. für die gegenwärtige Situation fruchtbar gemacht werden können. Die erste liefert eine Analyse und Kritik der institutionellen politischen Bedingungen von Staaten­losigkeit und Ausgrenzung. Die zweite artikuliert eine Phänomenologie der Situation der Betroffenen, eröffnet aber auch die Perspektive auf eine mögliche Politik der Ausgeschlos­senen. Beide Linien möchte ich vom frühen zum späten Werk spannen und dieses wieder­um als Antwort auf die früheren diagnostischen und phänomenologischen Ausführungen lesen.

Konkret heißt das: Ich werde zunächst auf Arendts Kritik des Nationalstaats und der Souveränität eingehen, um dann ihre Lektüre der Menschenrechte und des amerikani­schen Konstitutionalismus als Versuch zu deuten, eine alternative Tradition rechtlich-politischen Denkens aufzuspüren und zu entfalten. Anschließend werde ich auf Arendts Phänomenologie der Staatenlosigkeit sowie auf ihre kurzen Anmerkungen zu einer Politik der Flüchtlinge eingehen, um ihre spätere Konzeption der Macht als Element einer nicht-souveränen Politik von outcasts herauszustellen.

In beiden Fällen bietet Arendts Werk keine praktischen Lösungen an, weder für die da­maligen noch für die aktuellen Probleme. Indem sie auf luzide Weise zeigt, wie tief  das Phänomen der Staatenlosigkeit in den politischen Strukturen der Moderne verankert ist, macht sie aber auch deutlich, dass es hierfür – jenseits von den sicherlich nötigen Hilfe­stellungen – keine einfache praktische Lösung geben kann. Die Frage der Flüchtlinge und Staatenlose erfordert vielmehr eine tiefgreifende Veränderung unserer politischen For­men, sowohl auf der Ebene der Institutionen als auch auf der unserer politischen Prakti­ken. Indem Arendt die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten und tiefsitzenden Struk­turen unserer Politik aufzeigt und kritisiert und indem sie andere politische Formen und Praktiken erschließt, eröffnet sie jenen Denkraum, der unabdingbar ist, um die Frage an­zugehen, in welchem politischen Horizont wir überhaupt leben und leben wollen, und da­mit zumindest die Perspektive für eine mögliche Veränderung.

Der Niedergang des Nationalstaats

Hannah Arendts Werk wird vor allem für ihre Begriffe des Handelns und der Öffentlich­keit gelesen. Die institutionellen (rechtlichen und politischen) Implikationen ihrer Über­legungen treten dabei häufig in den Hintergrund, möglicherweise auch, weil sie der Form nach die etablierten philosophischen, politik- und rechtswissenschaftlichen Parameter sprengen.4 Die Auseinandersetzung mit der modernen Form des Staats und des Rechts bildet aber einen integralen Bestandteil des politischen Anliegens, das Arendts Werk vor­antreibt. Denn die Erfahrung der Ausgrenzung, die Voraussetzung für die tödliche Politik totalitärer Regime wurde, verankert Arendt nicht zuletzt in den rechtlichen und staatli­chen Strukturen der Moderne.
In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft führt Arendt den Nationalstaat als ent­scheidenden politischen Faktor im Zuge der Entstehung der Totalitarismen und der Er­möglichung von Vertreibung und Vernichtung ganzer Bevölkerungsmassen ein. Der zwei­te Abschnitt des Buches zum Imperialismus ist eine großangelegte Auseinandersetzung mit der Entstehung und Entwicklung des Nationalstaats bis zu seinem „Niedergang“. Die­ser setzt ein, wenn im Zuge des Ersten Weltkriegs und der damit einsetzenden Inflation größere Migrations- und Fluchtwellen entstehen, die das Prinzip der „Dreieinigkeit von Volk-Territorium-Staat“ zu unterminieren beginnen.5 Weil das nationalstaatliche Inklusi­onsrecht, das auf Abstammung oder territorialer Zugehörigkeit beruht, sie nicht integrie­ren konnte, wurde die Staatenlosigkeit zum Massenphänomen. Der Effekt war ein „Aus­nahmezustand“, ein Zustand der „Anomalien“, in dem „die nationalstaatliche Lebensform nun immer größere Gruppen europäischer Menschen ausschloß und in ein Niemandsland verwies, in dem es weder Recht noch Gesetz, noch irgendeine Form geregelten menschli­chen Zusammenlebens gab.“6 Die totalitären Regierungen, deren expansive Welterobe­rungspolitik eigentlich gegen die Nationalstaaten gerichtet war, machten sich diese Ent­wicklung immerhin zu Nutze, indem sie die Möglichkeit des Entzugs der Staatsbürger­schaft für ihre tödliche Politik bewusst einsetzten.
Fokussiert auf die Möglichkeit totalitärer Regierungen, hebt Arendt nicht wirklich her­vor, dass die Produktion von Ausschluss sowie von recht- und gesetzlosen Räumen ei­gentlich bereits ein „Element“ der nationalstaatlichen Ordnung als solcher ist. Entspre­chend sind es auch nicht erst externe Faktoren wie der Erste Weltkrieg, die das national­staatliche Legitimitätsprinzip der exklusiven Staatsbürgerschaft destabilisieren. Bereits bei ihrer Entstehung – darauf verweist Arendt etwa mit Bezug auf das ehemalige Jugosla­wien sogar selbst – ist die „Dreieinigkeit“, also die Homogenität, die Nationalstaaten ihrer Struktur nach unterstellen, nicht gegeben: Diese Homogenität wird vielmehr erst durch aktive Maßnahmen der Staaten hergestellt und ist nicht deren gegebene Voraussetzung.7

Dies wird heutzutage besonders deutlich, wo die Nationalstaaten angesichts der angeb­lich so bedrohlichen Flüchtlingsmassen ihre Grenzregime verschärfen, unterstützt durch das Wiederaufblühen nationalistischer Ideologien. Obwohl Arendt weder in Elemente und Ursprünge noch anderswo eine direkte Kritik am Nationalstaat formuliert, so wendet sie sich vehement gegen das moderne Prinzip der Souveränität und die ihm eingeschrie­benen Homogenisierungstendenzen, welche ja die Matrix der modernen nationalstaatli­chen Ordnung sind.

Souveräne Politik

Arendts Souveränitätskritik vertieft die Analyse historischer politischer Entwicklungen durch eine Auseinandersetzung mit den ideellen Grundlagen der politischen Moderne. Angelpunkt ihrer Argumentation ist die Freiheitskonzeption, die dem Begriff der Souve­ränität immanent ist und der Arendt eine strukturelle Tendenz zur Homogenisierung zu­schreibt: „Wie die Souveränität des einzelnen ist letztlich auch die Souveränität einer Gruppe oder eines politischen Körpers immer nur ein Schein; sie kann nur dadurch zu­stande kommen, daß eine Vielheit sich so verhält, als ob sie einer wäre und noch dazu ein einziger.“8 Die Rede von einer Einheit des „als ob“ erinnert hier an den Souveränitäts­theoretiker Hobbes. Dieser hatte die komplexe fiktionale Struktur, die dem Souveräni­tätsbegriff inhärent ist, klar benannt: „Eine Menge von Menschen wird zu einer Person gemacht, wenn sie von einem Menschen oder einer Person vertreten wird und sofern dies mit der besonderen Zustimmung jedes einzelnen dieser Menge geschieht. Denn es ist die Einheit der Person des Vertreters, nicht die Einheit der Vertretenen, die bewirkt, dass eine Person entsteht. Und es ist der Vertreter, der die Person, und zwar nur eine Person verkörpert – anders kann Einheit bei einer Menge nicht verstanden werden.“9 Und wei­ter: „Dies ist mehr als Zustimmung oder Übereinstimmung: Es ist eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem zustande kam, als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst. Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinigte Menge Staat, auf Lateinisch ci­vitas.“10 Diese „wirkliche Einheit“, die für Hobbes in der Politik so unabdingbar ist, steht im Zusammenhang mit einer ganz bestimmten Vorstellung ihrer Funktion: „Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen da­durch eine solche Sicherheit zu verschaffen, daß sie sich durch den eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ih­rer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Men­schen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren lassen.“11 Bei Hobbes wird also mehr als deutlich, dass die innere Homogenität des mo­dernen staatlichen Leviathans das Produkt eines besonderen Verfahrens und nicht als solche gegeben ist. Die „wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person“ ist weder Ausdruck einer politischen noch einer kulturellen Einheit. Sie resultiert auch aus keiner Praxis der Freiheit, mag ihr ein Moment der Zustimmung innewohnen, sondern aus einem Akt der kollektiven Unterwerfung. Insbesondere wird bei Hobbes deutlich, dass diese spezifische Form der Vereinigung, in der Einheitlichkeit und Unterwerfung Hand in Hand gehen, nicht zufälliger Weise einem militärischen Verband ähnelt. Ihre Funktion ist die Errichtung eines obersten, handlungsfähigen Willens, der in erster Linie zum Schutz vor äußeren und inneren Angriffen und zur Herstellung von Sicherheit dient.
Auf diese latent kriegerische Grundlage der Souveränitätsvorstellung richtet Arendt ihr Augenmerk: „Politisch hat sich vermutlich kein anderer Bestandteil des traditionellen philosophischen Freiheitsbegriffs als so verderblich erwiesen wie die ihm inhärente Iden­tifizierung von Freiheit und Souveränität. Denn sie führte entweder zur Leugnung von Freiheit – nämlich wenn man einsah, daß Menschen souverän gerade nicht sind – oder zu der dieser Leugnung nur scheinbar entgegen gesetzten Ansicht, daß die Freiheit eines Menschen oder einer Gruppe immer nur auf Kosten der Freiheit, nämlich der Souveräni­tät, aller anderen realisierbar ist.“12 Damit macht Arendt deutlich, dass sich die ‚militäri­sche’ Matrix des Souveränitätsbegriffs nicht zuletzt auf die damit verbundene negative Freiheitskonzeption überträgt, in der Freiheit als eine exklusive Eigenschaft gedacht ist, die nicht mit, sondern gegen andere verwirklicht wird.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich diese kriegerische und feindli­che Matrix heute nicht nur in Kriegs- oder Terrorsituationen bemerkbar macht, sondern auch in der Konfrontation mit höheren Flüchtlingswellen, die als Freiheitsbedrohung empfunden werden. Und daher ist es leider auch nicht verwunderlich, dass die Massen der Asylsuchenden wie „Feinde“ behandelt werden und in Einrichtungen untergebracht sind, die nominell zwar keine sind, de facto aber sehr wohl Gefängnissen ähneln.

Das „Niemandsland“, in dem Flüchtlinge und Asylsuchende gehalten werden, dient aber auch in anderer Hinsicht der Selbsterhaltung des nationalstaatlichen Prinzips. Marc Augé zählt Flüchtlingslager zu den Nicht-Orten, deren Raum „keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt“.13 Flüchtlingslager und ähn­liche Einrichtungen unterbinden Relationen und machen Identitäten unsichtbar, um die angebliche Identität, Gemeinschaft und Geschichte zu wahren, auf die der Nationalstaat seine Legitimität aufbaut. Die Sorge des Nationalstaats um die Aufrechterhaltung seiner eigenen Identität zeigt ex negativo die schwache Grundlage, auf die er steht, nämlich auf das an sich vollkommen kontingente Faktum von Geburtsort und Abstammung.

Arendts Kritik an der Souveränitätskonzeption trifft diese in ihrem ideellen Kern. Sie zielt daher nicht auf eine Reform oder Verbesserung dieser Konzeption, sondern auf de­ren Überwindung. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum nach der Diagnose vom Niedergang des Nationalstaats in Elemente und Ursprünge eine Lektüre der Menschen­rechte folgt. Denn die universalistische Erneuerung, die dort artikuliert wird, ist zumin­dest auf dem ersten Blick dem exklusiven souveränen Recht diametral entgegengesetzt.

Ein anderes Recht

Dieser erste Blick ist aber zunächst einmal trügerisch. Daher ist Arendts Lektüre und Be­zugnahme auf die Menschenrechte in erster Linie kritisch. Denn sie weist nach, dass diese trotz ihres neuartigen Status tief im nationalstaatlichen souveränen Recht verankert wa­ren.14 Auch diese Rechte waren Rechte, die sich der Souverän gab, wenn auch zum Zweck, sich von der übermächtigen und inegalitären staatlichen Gewalt des Ancien Régime zu schützen. Diese „Verquickung“15 von Menschenrechten und Souveränitätsprinzip sei auch der Grund, weshalb sie für jene Menschen, die insbesondere in der Folge des Ersten Welt­kriegs und dann verstärkt noch im Zweiten aller ihrer nationalstaatlichen Rechte beraubt wurden, auch nicht in den Genuss ihrer Menschenrechte kamen. Die Menschenrechte sei­en entsprechend aporetisch, weil sie einen Weg zeigten, der in Wirklichkeit gar keiner ist oder jedenfalls nicht dahinführt, wohin er eigentlich führen sollte.

Obwohl die Menschenrechte ihrem Buchstaben nach neuartig klingen, so könnte man Arendts Gedanken reformulieren, war ihre Grundlage oder Quelle nicht wirklich neu. Das Naturrecht, das sich als dieses neuartige Fundament ausgibt, stellt für Arendt in Wirk­lichkeit keine Grundlage dar, weil die angeblich natürlichen Fakten, auf die es sich beruft – eine angeborene Freiheit und Gleichheit aller Menschen – keine wirklichen Fakten sind und aus ihnen daher auch keine Rechte erwachsen können. Das Faktum der Freiheit und Gleichheit ist für Arendt ein politisches Faktum, also ein Zustand, den es als realisiertes nur innerhalb einer politischen Gemeinschaft gibt. All jene, die aus einer politischen Ge­meinschaft herausfallen, genießen daher weder Freiheit noch Gleichheit – jedenfalls nicht im Sinne der Menschenrechte. Fällt das Naturrecht als neue Rechtsgrundlage weg, so bleibt keine andere Quelle übrig als der nationalstaatliche Souverän.

Arendts Lektüre der Menschenrechte beschränkt sich allerdings nicht auf die bloße Diagnose ihrer aporetischen Struktur. Denn trotz ihrer Verquickung mit dem National­staat artikuliert sich in ihnen dennoch sehr wohl der Versuch der Formulierung eines an­deren, neuen Rechts. An diesem Versuch knüpft Arendt dann auch an, wenn sie von der Kritik dazu übergeht, den Gehalt der Menschenrechte im Sinne eines neuartigen Rechts zu reformulieren. An die Stelle jenes Katalogs von Rechten als den sich die Menschen­rechtserklärungen seit der Französischen Revolution präsentieren, spricht Arendt von ei­nem einzigen Recht, dem „Recht, Rechte zu haben“.16
Dieses Recht, so könnte man Arendts Vorschlag deuten, ist ein eminent politisches Recht im Unterschied zum nationalstaatlichen Recht. Der Nationalstaat anerkennt nur unpolitische Fakten wie Geburtsort und Abstammung, während alle politische Eigen­schaften oder Fähigkeiten der Individuen für ihn irrelevant und kein Anlass zu rechtlicher Anerkennung sind. Das „Recht, Rechte zu haben“ anerkennt insofern ein politisches Mo­ment an den Individuen als es in ihnen Wesen sieht, die auf politische Beteiligung ange­wiesen sind, um eben jene Freiheit und Gleichheit entfalten zu können, von denen die Menschenrechte sprechen.17

Mit dem suggestiven „Recht, Rechte zu haben“ gibt Arendt dem Anliegen der Men­schenrechte einen adäquateren Ausdruck, löst aber nicht das Problem der Staatenlosig­keit. Die praktische Frage, wer dieses Recht denn nun faktisch durchsetzt, stellt sich wei­terhin. Dass diese Frage nicht wirklich beantwortet wird, zeigt sich nicht zuletzt an einer gewissen Aporie der Formulierung. Denn ein „Recht, Rechte zu haben“ anerkennt den Staat, wenn auch nicht mehr den Nationalstaat, als die einzige Quelle des Rechts, und si­tuiert sich dennoch selbst auf der Ebene eines überstaatlichen Rechts.

In ihrem späteren Werk entscheidet sich Arendt entsprechend auch explizit für die Bur­kesche Seite der Aporie, also für die Annahme, dass die Quelle von Rechten nur Staaten sein können. Die Frage nach einem anderen als dem souveränen Recht kann sich daher nur in ihrem Innern oder an ihren Grenzen, aber nicht vollkommen jenseits staatlicher Strukturen stellen. Arendts institutionelles rechtliches und politisches Interesse verlagert sich entsprechend auf den Aspekt der Verfassung und Verfasstheit von Staaten. Es ist die­ses Terrain, auf dem sich ihre Bemühung um eine Alternative zur souveränen Tradition der Moderne fortsetzt.

Constitutio libertatis

Die Fokussierung auf Fragen der Verfassung steht in einem Zusammenhang mit Arendts eigenen Erfahrungen in und mit Amerika. In Über die Revolution baut sie daher allmäh­lich einen klaren Gegensatz zwischen der souveränen nationalstaatlichen Ordnung eines Frankreichs, die die Französische Revolution nur weiter verfestigt hat, und dem liberalen Amerika, dessen Verfassungsgeschichte Arendt auf eigene Weise rekonstruiert.18 Ihre Re­konstruktion ist darauf bedacht aufzuzeigen, wie die amerikanische Verfassung eine voll­kommen neue Form von Legitimität beansprucht. Trotz ihres Wortlautes stütze sie sich eigentlich nicht auf eine abstrakte Instanz wie etwa den Willen der Nation, sondern auf den Zusammenschluss der Vielen, der performativ allmählich zu deren Entstehung ge­führt habe.19 Anders als im revolutionären Frankreich habe in Amerika, das nicht mit ei­ner Spaltung und gravierenden Ungleichheiten im Innern zu kämpfen hatte, eine neue politische Praxis Fuß gefasst, die auf wechselseitige Verpflichtung und der daraus ent­springenden Gewaltenteilung beruhte. Diese politische Praxis, die Arendts Begriff des Handelns entspricht,20 sei nicht nur die Quelle der Verfassung, sondern würde auch die weitere Funktionsweise der amerikanischen Verfassung prägen. Ebenso wie das Handeln, aus dem sie hervorgegangen ist, beschreibt Arendt die amerikanische Verfassung als eine, die in keiner substantiellen Identität und in keinem vorgängigen Zustand verankert ist, daher prozessual und dynamisch offen bleibt für die Aufnahme neuer Mitglieder. Arendt betrachtet sie als ein Recht, so könnte man sagen, das die Flexibilität und Unabgeschlossenheit des Handelns in sich trägt, und damit als ein Recht, das nicht nur die politische ‚Natur’ der Individuen anerkennt, sondern selbst politisch ist.
Politik verbindet Arendt, in genauem Gegensatz zur Tradition der Souveränität, nicht mit Einheit und Geschlossenheit, sondern mit „Pluralität“21 und offenen Konturen. Ge­nauso wie das Handeln nicht notwendigerweise auf ein bestimmtes Kollektiv reduziert ist, sondern immer größere Kreise schlagen kann, ließe sich dies auch auf die Verfasstheit von politischen Institutionen übertragen – sofern sie in ihrer Praxis nicht auf eine souveräne Freiheit bestehen, die nur auf Kosten anderer zu realisieren ist.

Arendts Deutung der amerikanischen Verfassung ist darauf ausgerichtet, in dieser eine Offenheit auszumachen, die die starren Inklusionsbedingen des Nationalstaats überwin­det und mit der das festgefahrene Verständnis von Staatlichkeit und verfasster Ordnung aufgeweicht werden kann, die für die europäischen Staaten so prägend geworden sind. Es ist eben dieses Verständnis, das die europäischen Staaten heute die eigenen Grenzen so scharf kontrollieren lässt, um Flüchtlinge und Asylsuchende schon im Vorfeld zurückzu­schicken oder, wenn sie nicht mehr abgewiesen werden können, in Nicht-Orten unterzu­bringen, in denen sie möglichst wenig in Kontakt mit anderen treten. Diese inzwischen fast alltägliche Praxis ist tief im Selbstverständnis von Politik und Bürgerschaft verankert und sie zu destabilisieren ein äußerst schwieriges Unterfangen.

Arendts Rekonstruktion der politischen Geschichte Amerikas ist ein Versuch mit den Mitteln der Theorie eine solche Destabilisierung zumindest anzustoßen, indem sie durch eine alternative Tradition zum europäischen Nationalstaat dessen historische Kontingenz aufzeigt und den Sinn für andere mögliche politische Strukturen erweckt. Doch dieser Versuch bleibt von beschränkter Reichweite. Arendts Darstellung macht ja deutlich, dass sich institutionelle Neuerungen erst allmählich etablieren und in konkreten Erfahrungen verankert sein müssen. Gerade der performative Charakter der amerikanischen Verfas­sung bindet sie intern an die Praxis, aus der sie hervorgeht und die sie ermöglicht hat. Diese Praxis ist unter sehr besonderen Bedingungen entstanden, die nicht beliebig repro­duziert werden können. Eine institutionelle Innovation oder ein neues Verständnis kön­nen daher nicht einfach verordnet und gesetzt werden, sie müssen sich aus der Praxis selbst etablieren bzw. dort bereits Fuß gefasst haben.22

Nicht zuletzt aus einem solchen Bewusstsein heraus beschäftigt sich Arendts gesamtes Werk vordergründig mit einer Bestimmung der Natur und Möglichkeit politischen Han­delns und vergleichsweise weniger mit den daraus entstehenden Institutionen. Im Falle von Flüchtlingen und Staatenlosen ist die Möglichkeit einer politischen Beteiligung stark eingeschränkt, wie Arendt in ihrer Phänomenologie der Staatenlosigkeit als ein zentrales Unrecht dieser Situation herausstellt, aber immerhin keine Unmöglichkeit.

Staatenlosigkeit

Arendt beschreibt die Situation der Flüchtlinge in drastischen Tönen, die ihr zuweilen auch als Viktimisierung angekreidet werden. Ihre Darstellung lässt sich aber besser als eine Form der Schärfung der Aufmerksamkeit verstehen, welche die allzu leicht in die Un­sichtbarkeit abdriftende Unerträglichkeit der Situation dieser Gruppen für alle sichtbar machen soll. Staatenlosigkeit ist für Arendt in einem sehr basalen Sinne ein Unrecht, weil mit ihr ein Verlust nicht nur von Rechten, sondern auch von „menschliche[n] Fähigkei­ten“23 einhergeht. Die Staatsrechte zu verlieren, heißt für Arendt die „Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft“ zu verlieren und damit einhergehend ein „Verlust der Relevanz und damit der Realität der Sprache“.24 Das heißt natürlich nicht, dass die Flüchtlinge nicht mehr in der Lage seien, ihre Freiheit auszuüben oder Meinungen zu bilden. Indem sie aber der Möglichkeit beraubt sind, ihre „Individualität in das Gemeinsame zu übersetzen und in ihm auszudrücken“,25 indem sie mit anderen Worten politisch nichts zählen, verlieren sie ihre öffentliche Freiheit und die mit dieser verbundenen Handlungsmöglichkeiten. Daher werden für Arendt die Flüchtlinge auf die „abstrakte Nacktheit ihres Nichts-als-Mensch­seins« reduziert,26 was wiederum Agamben später mit der Figur des homo sacer aufgrei­fen wird. Diese Nacktheit ist die Vorstufe jenes Zustands einer „lebende[r] Leichname“,27 der schließlich in den KZs nach dem Entzug der Staatsbürgerschaft realisiert wird und das ebenfalls von Agamben wieder aufgegriffen wird: In diesem Zustand zeigt sich näm­lich, dass der Verlust des politischen Status mit einer potentiellen Tötbarkeit einhergeht, die „ohne jede Konsequenz für die Überlebenden bleibt“.28
In einem frühen Artikel von 1943 mit dem Titel „Wir Flüchtlinge“29 hatte Arendt die Ef­fekte dieser drohenden Tötbarkeit mit einer „gefährliche[n] Todesbereitschaft“ bzw. dem Versuch eines „Identitätswechsel[s]“ in Form einer zwanghaften Assimilation durch Mi­mikry auf der Seite der Staatenlosen in Verbindung gebracht.30 Dies entspricht der Strate­gie des „Parvenus“, der Arendt die Politik des „Parias“ entgegenstellt, auf die ich später noch zurückkommen werde. Ist diese Strategie zum Scheitern verurteilt, da „die Erschaf­fung einer neuen Persönlichkeit […] so schwierig und hoffnungslos [ist] wie eine Neuer­schaffung der Welt“, so dient der Hinweis auf Depression und Selbstmordgefähr­dung dazu, die tiefgreifenden Veränderungen hervorzukehren, die mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft und ihrer rechtlichen Nicht-Anerkennung einhergehen.31
Anknüpfend an Arendt (und Benjamin) hat Agamben die Wendung „nacktes Leben“ in Anschlag gebracht, um die nach dem Verlust aller (politischen) Formen und Rechte ver­bleibende unnatürliche Natur der Flüchtlinge zu beschreiben. Wie schon Arendt, geht auch Agamben davon aus, dass der Ausschluss aus einer rechtlich-politischen Gemein­schaft nicht nur symbolische Effekte hat, sondern eine tiefgreifende Mutation des Lebens der Individuen selbst bedeuten kann. Ebenso hat sich Eric Santner auf dieses Phänomen bezogen und mit der Wendung kreatürliches Leben („creaturely life“) die ontologische Verletzlichkeit („ontological vulnerability“) menschlichen Lebens zu fassen versucht. Ver­letzlichkeit meint hier nicht die biologische Endlichkeit des Menschen, sondern die Aus­gesetztheit eines Wesens, „whose essence it is to exist in forms of life that are, in turn, contingent, fragile, susceptible to breakdown“.32 Aufgrund dieser Verletzlichkeit ist menschliches Leben, ob individuell oder kollektiv, auf Praktiken der Immunisierung an­gewiesen, die der jeweiligen Lebensform Stabilität zu verleihen vermag. Doch diese Prak­tiken sind und bleiben instabil, nicht zuletzt aber auch deswegen, weil ihnen die Gefahr droht, sich irgendwann gegen sich selbst zu wenden und zu Formen der Autoimmunisie­rung auszuarten – überall dort nämlich, wo der Schutz des Lebens exzessiv wird und sich das Leben selbst nach Innen oder nach Außen zu zerstören beginnt.

Santner verweist nicht nur auf die ontologische Verletzlichkeit des Menschen, sondern auch auf die verstörenden und entsetzlichen Effekte der Ausstellung dieser Verletzlich­keit. Santners „Kreaturen“ sind in dem Sinne ent-setzlich, dass sie mit ihrem Dasein die angebliche „Unverletzlichkeit“ von autoritativen Instanzen oder etablierten Status’, wie sie für jeden Bürger eines nationalen Volkes selbstverständlich sind, durch ihre eigene Ausgesetztheit in Frage stellen und daher auch herausfordern. Der Zustand der Staatenlo­sigkeit bedeutet daher den Verlust elementarer menschlicher Fähigkeiten (Arendt), eine unnatürlich natürliche Form von Privation (Agamben) und die Zurichtung der eigenen Person zu einer „entsetzlichen“ Erscheinung (Santner).

Aus einem solchen Zustand heraus erscheint die Möglichkeit eines politischen Wider­spruchs besonders schwer, dennoch sondiert Arendt trotz aller Drastik ihrer Beschrei­bung die Möglichkeit einer Politik der Flüchtlinge, wenn auch im vollen Bewusstsein ihrer Seltenheit und Fragilität.

Politik der Flüchtlinge

In dem bereits zitierten Artikel „Wir Flüchtlinge“ stellt Arendt der Figur des Parvenus die Fi­gur des Parias entgegen. Der Paria ist der- oder diejenige, der sich nicht hinter einer (stets scheiternden) Mimikry an die fremdgegebenen Verhältnisse zu verstecken und sein „Selbst auf[zu]geben“ versucht.33 Auf den ersten Blick scheint der Paria das Subjekt einer jüdischen Identitätspolitik zu sein, denn Parias sind jene, die „ihre Identität aufrechter­halten“ und damit zur „Avantgarde ihrer Völker“ avancieren.34 Doch die jüdische Identität unter den Bedingungen des zweiten Weltkriegs aufrechtzuerhalten, heißt etwas ganz an­deres als Identitätspolitik zu betreiben. Aufgrund ihres Flüchtlingsstatus’ sind die Parias keine vollen Mitglieder eines Landes, in dem sie ihre partikularen Gruppeninteressen zur Geltung bringen könnten. An der jüdischen Identität festhalten ist zunächst einmal die Offenlegung der Situation als Staatenlose, anstatt sie durch „seltsamen Verkleidungen“ zu kaschieren.35 Es ist daher zunächst ein Akt der Anerkennung der eigenen Realität und der Artikulation ihrer tatsächlichen, unbeschönigten Bedingungen; ein seltener Akt, der „Mut“ erfordert, denn die Offenlegung der Staatenlosigkeit entspricht dem Ausstellen je­ner „Entsetzlichkeit“, von der auch Santner redet. Arendts Text ist daher zunächst auch kein unmittelbarer Appell, den Weg des Parias zu beschreiten. Sie präsentiert diesen Weg in einer konjunktivischen Ausmalung des Szenarios, das eine solche Existenz mit sich bringt: „Wenn wir damit anfangen, die Wahrheit zu sagen, nämlich daß wir nichts als Ju­den sind, dann würden wir uns dem Schicksal bloßen Menschseins aussetzen; wir wären dann, von keinem spezifischen Gesetz und keiner politischen Konvention geschützt, nichts weiter als menschliche Wesen. Eine gefährlichere Einstellung kann ich mir kaum vorstellen, denn tatsächlich leben wir in einer Welt, in welcher bloß menschliche Wesen schon eine geraume Weile nicht mehr existieren.“36

Die Ausstellung der Gefahr eines solchen Aktes ist aber auch nicht einfach nur als War­nung gemeint. Nicht nur vollzieht Arendt diesen Akt ja selbst, gerade indem sie den Text verfasst. Der Hinweis darauf, dass „menschliche Wesen schon eine geraume Weile nicht mehr existieren“ bedeutet ja auch, dass eine Existenz als solche, also jenseits von gesi­cherten Staatsrechten, keine vollkommen unmögliche Existenz ist, auch wenn sie unter den gegebenen Bedingungen, wo Rechte eine derart existentielle Bedeutung gewonnen haben, eine extrem fragile und gefährliche Angelegenheit ist. Anders als Agamben, der vor allem die existentielle Bedeutung von souverän verliehenen Rechten unterstreicht, er­öffnet Arendt mit ihren Worten einen, wenn auch minimalen Hiatus, zwischen diesen und der Möglichkeit politischen Handelns.

In diesem Sinne verweisen auch andere Stellen im Text auf die Möglichkeit politischen Handelns, selbst wenn es sich auf den ersten Blick um eine ganz andere Art von Politik handelt als jene, die Arendt später in Vita activa beschreiben wird. Denn die Politik der Flüchtlinge ist eine Politik, die gerade nicht durch die Teilhabe an einer gemeinsam öf­fentlichen Sphäre entsteht, sondern aufgrund des Mangels an einer solchen. Dieser Man­gel versperrt den Flüchtlingen nicht die Möglichkeit politischen Handelns und doch ist dieses anderer Art als die eines demokratischen Mit- und Gegeneinander der Freien und Gleichen. Die Politik der jüdischen Flüchtlinge bewegt sich auf einer anderen Ebene als die der demokratischen Mitbestimmung, denn ihr fehlt beides: das politische „Mit“ (zumindest mit der sie aufnehmenden Gesellschaft), das gegebenenfalls auch ein „Gegen“ ermöglicht, wie auch die „Bestimmung“, zu der die Flüchtlinge ja nicht berechtigt sind.

Gleichwohl lassen sich in der Figur des Parias bereits Aspekte ausmachen, die erst Arendts späterer Begriff des politischen Handelns voll entfalten wird (und deren Hervor­hebung wiederum die späteren Ausführungen in ein neues Licht rückt). Der Hiatus zwi­schen politisch verbrieften Rechten und dem Handeln jener, die nichts anderes als ihr nacktes Menschsein haben, entspricht jenem offenen Spielraum der Politik jenseits jeder institutionellen Verankerung, den Arendt auch in ihrer Rekonstruktion der amerikani­schen Geschichte adressiert.37 Auch die Politik der Staatenlosen ist, wie Arendts Begriff des Handelns in Vita activa, dadurch charakterisiert, dass sie nicht deren Identität (als Juden) festigt, sondern im Gegenteil in Bewegung bringt.38 An der jüdischen Identität festhalten, heißt an einer staaten- und politiklosen Identität festzuhalten und trotzdem politisch zu handeln. Es ist also nicht mehr einfach nur eine Jüdin, die spricht, sondern eine politisch Agierende, die jüdisch ist und das „wir Flüchtlinge“ als mögliche politische Gemeinschaft adressiert. Dieser Akt erfordert entsprechend auch die Übernahme der Ver­antwortung für die eigene Situation und die Aufgabe einer wie auch immer zu kaschieren­den von außen auferlegten Bestimmung. Der Paria ist diejenige, die die eigene „Verwir­rung“39 auch als etwas sieht, das sie, bis zu einem gewissen Grad zumindest, sich selbst zuzuschreiben hat.40 Politisches Handeln erfordert für Arendt immer ein Moment der Subjektivierung, verstanden als eine die doppelte Bewegung der Annahme von Verant­wortung und der Abstandnahme von der eigenen Faktizität, zugunsten eines unvorher­sehbaren gemeinsamen Bestimmungsraums. Schließlich impliziert Politisierung auch hier schon nicht nur eine Veränderung im Selbstverständnis, sondern auch in der Welt, denn sie rückt die Situation der jüdischen Staatenlosen in eine neue umfassendere Perspektive: „Jene wenigen Flüchtlinge, die darauf bestehen, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie an­stößig ist, gewinnen im Austausch für ihre Unpopularität einen unbezahlbaren Vorteil: die Geschichte ist für sie kein Buch mit sieben Siegeln und Politik kein Privileg der Nicht­juden mehr. Sie wissen, dass unmittelbar nach der Ächtung des jüdischen Volkes die meisten europäischen Nationen für vogelfrei erklärt wurden.“41
Die Parias erkennen in ihrer Situation als Vertriebene und Staatenlose etwas, was die Situation des jüdischen Volkes auch lange vor dem Zweiten Weltkrieg geprägt hat und das auch schon unter anderen Bedingungen zu Formen der zwanghaften Assimilation geführt hat. Die eigene Situation tritt daher im Kontext einer ungelösten Geschichte der Vertrei­bung und Auswanderung, aus der ein offener Appell nach neuen Verhaltensweisen an sie ergeht. Dieses neue Verhalten, so die Fortführung des Zitats, scheint nicht zuletzt ein politisches zu sein, denn der Paria ist derjenige, der in seiner Position, wie fragil auch im­mer, sich in das angebliche Privileg der Politik einschaltet, sich ein Recht zur Politik nimmt, obwohl er vordergründig gar kein Recht dazu hat.42

In unserer heutigen Situation lässt sich eine zunehmende Politisierung von MigrantIn­nen und Flüchtlinge gerade in diesem Sinne beobachten. Ihre Formen sind vielfältig: Dort, wo Abschiebung unmittelbar droht, sind sie zumeist sehr existentiell (Hunger­streiks, Besetzungen, camps in der Stadt etc.), sie können aber auch auf Information und Dokumentation ausgerichtet, oder spielerisch und experimentell sein, insbesondere dort, wo es um die Verbindung zu anderen Gruppen geht. Denn die Politiken der Flüchtlinge sind umso mehr auf Allianzen angewiesen, als nur eine weit geteilte alternative Praxis ihre Anerkennung stärken kann.

Trotz dieser durchaus als positiv zu verzeichnenden Entwicklung bleibt die Situation von Flüchtlingen desolat und von immer stärker anwachsender rechter (und rechtlicher) Gewalt bedroht, die ihre Lage angesichts der staatlichen Maßnahmen von Internierung und Abschiebung besonders prekär macht. Daher geht es an den Tatsachen vorbei, wenn die Theorie die Politik der Flüchtlinge als eine Politik von outcasts oder Minderheiten zum großen Versprechen hypostasiert, das endlich das erreichen wird, was in allen bishe­rigen Revolutionen versäumt worden ist. So sieht etwa Andreas Kalyvas in der Politisie­rung von Flüchtlingen einen neuen kosmopolitischen Sinn von Bürgerschaft am Werk und feiert sie als Wiederbelebung eines radikaldemokratischen Sinns von Politik.43 In der Tat ist der Politik der Flüchtlinge als eine Politik jenseits der etablierten Staatsbürger­schaft ein revolutionärer Impuls eingeschrieben, der uns alle angeht. Doch gilt es m.E. die Position einer solchen Politik auch in ihren Grenzen und Gefahren genauer zu bestim­men. Das entspricht auch Arendts Position, denn während sie in Über die Revolution ein optimistisches (und idealisiertes) Szenario des Handelns entwirft, unterstreicht sie in „Wir Flüchtlinge“ wie auch im späteren Macht und Gewalt vor allem den gefährlichen und fragilen Charakter des Handelns. Wie auch schon dem Weg der institutionellen Er­neuerung, so sind auch der politischen Ermächtigung der Flüchtlinge und Staatenlosen durch ihre ausgeschlossene Situation gewisse Grenzen gesetzt.

Im Folgenden möchte ich auf diese ‚Grenzen’ bzw. die Fragilität einer Politik der Flüchtlinge genauer eingehen. Um ihre eigentümliche Situation zu fassen, möchte ich die Bezeichnung des „Prekären“ ins Spiel bringen. Dabei geht es mir aber um alles andere als um eine resignierte Ermahnung zur realistischen Einschätzung. Die Fragilität der Situati­on als solche zu benennen, steht vielmehr im Kontext eines Versuchs – der m.E. auch Arendts Versuch ist – die hartnäckige Erbschaft einer souveränen Prägung von Politik auch auf der aktivistischen Ebene zurückzuweisen. In einer solchen Perspektive lässt sich jedenfalls auch Arendts Begriff der Macht anders deuten, auf den ich nach einigen Aus­führungen zur prekären Politik der Flüchtlinge heute kurz eingehen möchte.

Prekäre Transformationen

Die Politisierung der Flüchtlinge ist von besonderer Brisanz, denn sie bedeutet entweder den gefährlichen Austritt aus der Klandestinität oder aber sie stellt, wie im Falle von Asyl­bewerberInnen, einen für den Staat unmöglichen Akt dar. AsylbewerberInnen haben auf­grund der in den europäischen Verfassungen verankerten Menschenrechte sehr wohl Rechte. Was ihnen aber nach wie vor abgesprochen wird, sind alle politischen Rechte (inkl. Versammlungsrechte). Bei den sog. „irregulären MigrantInnen“ wie auch bei Asyl­bewerberInnen gilt also, dass ihr politisches Handeln und die politische Selbstorganisati­on eigentlich von der staatlichen Politik als illegal angesehen werden.

Außerdem sind die heutigen Flüchtlinge keine politische Gruppe und kein Volk: Sie sind es nicht im ethnischen Sinn, denn die Flüchtlinge sind ja von unterschiedlicher Pro­venienz, und sie sind es auch nicht im religiösen oder politischen Sinn. Daher ist es frag­lich, ob der Begriff Kollektiv auf die Flüchtlinge angewendet werden kann; jedenfalls bleibt ihre Existenz als Kollektiv selbst offen und prekär. Ihr Einspruch gegen staatliche Repressionen und menschenunwürdige Behandlungen hat entsprechend auch nicht den Charakter eines Anspruchs, wie es etwa das Einklagen eines subjektiven Rechts durch eine Gruppe hat. Denn diese Formen der Anklage setzen eine anerkannte Rechtssubjekti­vität immer schon voraus, die in diesen Fällen gerade fehlt. Mit dem Ausschluss aus der politisch-rechtlichen Ordnung verlieren die Individuen jene staatsbürgerliche Souveräni­tät, die ihrem politischen Handeln eine zumindest prinzipielle Relevanz verleiht, wie Arendt ausgeführt hat.44 Daher nehmen ihre politischen Aktivitäten nicht zufälliger Weise häufig Gestalten an, die nicht das Vermögen der Selbstbestimmung zur Schau stellen, sondern die Fragilität und Versehrtheit der Individuen. Ihre Politik kann keine souveräne sein und muss daher nach anderen Modalitäten suchen.
In dieser prekären Lage Politik zu machen und Partizipation zu verwirklichen, also eine Politik ohne Recht und ohne etablierte politische Subjektivität, ist »entsetzlich« (Santner), aber auch radikal. Denn die Politik von Flüchtlingen hat gleichsam schon strukturell einen revolutionären, umwälzenden Charakter: Das Vorführen eines politi­schen Subjektstatus’, der rechtlich gar nicht gegeben ist, setzt eine Revolution in dem Be­reich voraus, den Rancière als den Bereich einer politischen Ästhetik bezeichnet hat – also eine Revolution in der politischen Wahrnehmung.45 Wo früher nur „nacktes Leben“ und „Kreaturen“ erschienen, treten nun politisch handelnde Subjekte in Erscheinung. Entsprechend diesem radikalen Gehalt würde eine tatsächliche Anerkennung ihrer rechtslosen und dennoch politischen Aktionen, die nicht der bloße Vollzug von Gnaden­akten wäre, das Selbstverständnis von Nationalstaaten, wie wir sie in Europa kennen, in Frage stellen; es würde nicht einfach nur die Lage der Flüchtlinge verbessern, es würde tiefe institutionelle, aber auch symbolische Veränderungen mit sich bringen.
Um diesen revolutionären Charakter einer Politik jenseits des Staatsrechts voll zu ent­falten, muss die Politik der Flüchtlinge eine entsprechende Gestalt annehmen. Sie erfor­dert einen anderen (auch körperlichen) Einsatz und die Suche nach Formen der Politik und Allianzen jenseits der etablierten Bahnen und Möglichkeiten. Denn offensichtlich ist gerade das Festhalten an souveränen Strukturen in der Politik dasjenige, was deren Öff­nung für die Belange von Flüchtlingen und MigrantInnen versperrt. Dieses Selbstver­ständnis allmählich zu unterwandern, ist ein notwendiger Durchgang, aber auch eine pa­radoxe Krux dieser Politik: Die Revolution der Bürgerschaft müsste, damit sie nicht selbst wieder ausschließend wirkt, revolutionär sein, ohne zugleich eine neue Souveränität zu etablieren.46 Sie müsste die Verbindung von Recht und Nationalstaat, aber auch tiefsit­zende Strukturen, die der aktivistischen und revolutionären Bedeutung von Bürgerschaft selbst eingetragen sind,47 hinter sich lassen. Der moderne Begriff der Staatsbürgerschaft und die damit verbundene Politik, war von Beginn an als Privileg konzipiert, in erster Li­nie als Privileg der vermögenden Männer, die als einzige befähigt schienen, die Belange der Bevölkerung zu steuern. Um diesen souveränen Aktivismus und Elitismus, der ehe­mals die Armen und die Frauen, heutzutage die Fremden und angeblich Anderen aus­schließen lässt, zu unterminieren, verlangt es nicht nur einer Veränderung des Rechts, sondern auch unseres Verständnisses von Politik als exklusive Bestimmungsmacht der Befähigten.

In diese Richtung ließe sich nun Arendts Verweis auf die Macht des Handelns deuten, die sie strikt von Gewalt getrennt wissen möchte. Diese Trennung, die häufig als unrealis­tisch und letztlich auch als unpolitisch abgetan wurde, wird plausibler, wenn man Gewalt hier vor allem mit souveräner Gewalt gleichsetzt – also mit einer Gewalt, die, mit welchen Mitteln auch immer, von einer prinzipiell definierten Gruppe gegen andere oder jeden­falls auf deren Kosten ausgeübt wird. Die Hervorhebung eines gewaltlosen und dennoch machtvollen Handelns dagegen, kann als der Versuch gedeutet werden, auch auf der Ebe­ne des politischen Aktivismus von der Semantik der Souveränität abzukommen und eine andere Form der Wirksamkeit anzuvisieren.

Wie auch schon auf der institutionellen Ebene handelt es sich bei Arendt auch hier mehr um die Andeutung einer Richtung, denn um die tatsächliche Lösung eines Pro­blems. Diese Richtung ist aber mehr als radikal, denn sie führt an die Grenzen unseres abendländischen Politikverständnisses, mit seinen grundlegenden Kategorien von Souve­ränität, Bürgerschaft und Nation. Arendts Betonung von Pluralität statt Souveränität, von Prozessualität (der Verfassung) statt Status (der Nation), von Macht statt Gewalt lassen sich als der Versuch verstehen, eine andere politische Grammatik und Dynamik offenzu­legen, die fortzuspinnen wäre.

Diese neue Richtung, so ließe sich mit Rosi Braidotti formulieren, verlangt es, dass wir die Erfahrung der Verletzlichkeit in Affirmation umkehren und wiederum ganz neue For­men der politischen Repräsentation suchen – solche, die wir noch nicht kennen und die uns herausfordern.48

Zweierlei Menschenrechte

Wie zu Arendts Zeiten so sind auch heute die Gründe für Flucht und Staatenlosigkeit komplex. Sie hängen mit einer Vielzahl von soziopolitischen und sozioökonomischen Strukturen der neoliberalen Welt zusammen. Insbesondere zeugen die Flüchtlingslager von der Widersprüchlichkeit unserer Zeit, die auf der einen Seite Globalisierung voran­treibt und daher neue Verbindungen schafft, auf der anderen Seite dies mit einer Politik kontert, die sich auf starre Strukturen zurückzieht. Nicht zuletzt auch aufgrund dieser Wi­dersprüchlichkeiten sind die Versuche innerhalb der neoliberalen Ordnung, die Missstän­de aktiv zu beheben, vollkommen unzulänglich. Solange die anvisierten Lösungen die neoliberale globalisierte und zugleich nationalstaatliche Ordnung unangetastet lassen, re­produzieren sie schlicht und ergreifend das Problem. Sie sind nicht politisch und auch nicht ökonomisch, sondern allenfalls pseudo-ethisch, was man heutzutage „humanitär“ nennt. Die Folgen einer bloß wohltätigen Politik, die nichts an den Strukturen ändert, wird an den Effekten humanitärer Maßnahmen klar ersichtlich: Die humanitären Inter­ventionen der 1990er Jahre (etwa im Kosovo) haben selbst Menschenrechtsverletzungen hervorgebracht und die Auflockerung des Asylverfahrens etwa in Krankheitsfällen hat zur Folge gehabt, dass sich AsylbewerberInnen absichtlich mit HIV infiziert haben, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen.49 Obwohl ausgehend von der Allgemeinen Er­klärung der Menschenrechte von 1948 deren universeller Anspruch von nahezu allen Staaten der Welt anerkannt wurde, hat dieser symbolische Akt also nicht verhindern kön­nen, dass die Staaten die Menschenrechte vor den Augen aller auf spektakuläre Weise missachtet und sich über die Rechte jedes einzelnen Individuums souverän hinwegsetzt haben.

Daher ist das Einklagen von Menschenrechten von Seiten der AktivistInnen ein zwei­schneidiges Unterfangen und Arendts Hinweis auf deren aporetischen Charakter weiter­hin aktuell. Denn wenn die Menschenrechte auf der einen Seite als die Rechte derer auf­gerufen werden, die keine Rechte haben, sind sie auf der anderen Seite zur Norm der in­ternationalen Politik und der angeblichen „good governance“ geworden, die sie selbst für menschenrechtsverletzende Politiken instrumentalisiert.

Bleibt Arendts Diagnose von einem aporetischen Kern der Menschenrechte aktuell, wenn auch in einem anderem Gewand, so tragen die Menschenrechte dennoch, sofern und solange sich die AktivistInnen auf sie berufen und mit ihnen Politik zu machen versu­chen, auch weiterhin einen subversiven Kern in sich. Dennoch scheint der Weg, den Arendts Werk nach der frühen Auseinandersetzung mit den Menschenrechten gegangen ist, ebenfalls eine Einsicht von eminenter Bedeutung zu tragen: Die Veränderung der Si­tuation von Flüchtlingen und Staatenlosen verlangt eine grundlegende Erneuerung der Struktur und des Sinns unserer politischen Institutionen und Praktiken, allen voran der hartnäckigen Tradition von Souveränitätsvorstellungen.50 Die jüngeren Entwicklungen können in dieser Hinsicht nicht gerade optimistisch stimmen. Die Wiederkehr von Vorstellungen einer Festung Europas nicht nur von rechts Außen, die Politik der faulen Kompromisse und der politische Zynismus – etwa, dass im Umgang mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ „es nicht ohne hässliche Bilder gehen wird“ (so der österreichische Außenminister Kurz) – sind ein klares Anzeichen dafür, dass die institutionelle Politik von einem solchen Anliegen nicht wirklich tangiert wird, bzw. zeigen, wie tiefsitzend die Logik und Anmaßung der Souveränität weiterhin ist. An ihrer Kritik weiterzuarbeiten, verbleibt daher ein dringendes Anliegen für die politische Praxis wie auch für die Theorie. Die Arbeit an problematischen Freiheits- und Machtvorstellungen ist immerhin eine, die die Politik der Flüchtlinge mit vielen anderen Politiken teilt – Feminismus und queer-Aktivismus, Postkolonialismus und Antirassismus, um nur einige zu nennen, arbeiten sich jeweils auf ihre Weise an diesem Erbe ab. Der Weg ist beschwerlich und viel zu langsam angesichts der wachsenden Todeszahlen und dennoch birgt gerade unsere verschärfte Lage wiederum ein großes Veränderungspotential. Daher gilt es diese geteilte Arbeit weiter zu führen – in einer ähnlichen Geste wie jene Arendts, die im vollen Bewusstsein der Fragilität einer Politik „des Rechts, Rechte zu haben“ angesichts der souveränen Institutionen und der privaten Wirtschaft sich für deren Weiterentwicklung eingesetzt hat.

 

 

 

*Francesca Raimondi ist seit 2015 Juniorprofessorin für Philosophie an der Kunstakademie in Düsseldorf und lebt in Berlin. 2009-2015 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt/M. und am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“. Ihre Arbeitsschwer­punkte liegen im Bereich der Politischen Philosophie und der Rechtstheorie sowie der Ästhetik. Zu ihren Pu­blikationen gehö­ren u.a. die Monographie Die Zeit der Demokratie. Politische Freiheit nach Carl Schmitt und Hannah Arendt (2014) sowie der zusammen mit Christoph Menke herausgegebene Sammelband Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen (2011).

1 Gilles Deleuze, „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, in: ders., Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 254-262, hier: S. 260.

2 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M.: Suhr­kamp 2002, S. 175ff. Für eine facettenreiche Diskussion nicht nur von Agambens These zum Lager in der Mo­derne vgl. Ludger Schwarte (Hg.), Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadig­mas in der politischen Philosophie, Bielefeld: transcript 2007.

3 Zum Weltflüchtlingstag 2014 teilte das UNO-Flüchtlingskommissariat UNHCR mit, dass die Zahl der Flücht­linge, Asylsuchende und Binnenvertriebene Ende 2013 weltweit die 50 Millionen überschritten habe. Sie hat­te also bereits vor drei Jahren ein ähnliches Ausmaß wie im Zweiten Weltkrieg erreicht. (http://www.unh­cr.org/53a155bc6.htmlx ) 2014 ist die Zahl bereits auf fast 60 Millionen gestiegen (https://www.uno-fluecht­lingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html) und wächst weiter an, zusammen mit den Todeszahlen, die im Zusammenhang mit Flucht und Migration stehen (allein im Mittelmeerraum: http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/neue_schaetzung_mindestens_23000_tote_fluechtlinge_seit_dem_jahr_2000/).

4 Eine Ausnahme stellt hier die Arbeit von Christian Volk dar: vgl. u.a. ders., Die Ordnung der Freiheit. Recht und Politik im Denken Hannah Arendts, Baden-Baden: Nomos 2010.

5 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herr­schaft, München-Zürich: Piper 1986, S. 560.

6 Ebd., S. 560 u. 563.

7 Vgl. dazu auch Etienne Balibar, „Die Nation-Form: Geschichte und Ideologie“, in: ders./Immanuel Waller­stein, Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg: Argument 1990, S. 107-130.

8 Hannah Arendt, „Freiheit und Politik“, in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politi­schen Denken I, München-Zürich: Piper 1994, S. 214f.

9 Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frank­furt/M.: Suhrkamp 1984, S. 126 [Herv. F.R.].

10 Ebd., S. 134. [Herv. F.R.]

11 Ebd.

12 Arendt, „Freiheit und Politik“, S. 213f.

13 Marc Augé, Nicht-Orte, München: Beck 2010, S. 83.

14 Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 601-605.

15 Ebd., S. 605.

16  Ebd., S. 614 sowie Hannah Arendt, „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“, in: Christoph Menke/Verf. (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Frank­furt/M.: Suhrkamp 2011, S. 394-410, hier: S. 401.

17 Zu einer solchen Deutung von Arendts Argument vgl. Christoph Menke, „Die „Aporien der Menschenrechte“ und das „einzige Menschenrecht“. Zur Einheit von Hannah Arendts Argumentation“, in: Eva Geulen/Kai Kauff­mann/Georg Mein (Hg.), Hannah Arendt und Giorgio Agamben. Parallelen – Perspektiven – Kontroversen, München: Fink 2008, S. 131-147.

18 Vgl. Hannah Arendt, Über die Revolution, München-Zürich: Piper 1981, S. 183-231.

19 Für eine genauere (kritische) Rekonstruktion dieses Gedankens siehe Verf., Die Zeit der Demokratie. Politi­sche Freiheit nach Carl Schmitt und Hannah Arendt, Konstanz: Konstanz UP 2014, S. 90-92 sowie Bonnie Honig, „Declarations of Independence. Arendt and Derrida on the Problem of Founding a Republic“, in: The American Political Science Review 85/1 (1991), S. 97-113.

20 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München-Zürich: Piper 1981, S. 213ff.

21 Ebd.

22 Und selbst dann bleiben sie fragil wie alle offenen politischen Strukturen. Dies führt Arendt mit Bezug auf die weitere Entwicklung Amerikas aus, in der sie ein nachträgliches Scheitern der Revolution durch das Über­handnehmen ökonomischer Interessen sieht. Ebendies wird heute auch an der Politik der USA gegenüber Flüchtlingen etwa syrischer Herkunft mehr als deutlich.

        In diesem Sinne ist jene offene, politisch-dynamische Verfassung, die Arendt mit Amerika in Über die Revo­lution verbindet, eine noch zu realisierende Vorstellung, die sich niemals voll entfaltet hat. Sie ist „im Kom­men“, also nicht vollkommen irreal und dennoch nicht da, wie sich Jacques Derrida mit Bezug auf die Demo­kratie und deren Gerechtigkeit ausdrückt.

23 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 615.

24 Arendt, „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“, S. 401. Arendt beschreibt diese Situation auch als eine der Rechtlosigkeit, was nicht mehr ganz zutrifft, da der Status des Staatenlosen inzwischen selbst eine rechtliche Kategorie ist. Genauer ist Agambens Wendung von einer „einschließenden Ausschließung“, die darauf hin­weist, dass die souveräne nationalstaatliche Ordnung in sich selber Enklaven und Ausnahmen kennt und macht, in denen das Recht nur partiell bzw. auf eine hochgradig verzerrte Weise zur Anwendung kommt. (vgl. Agamben, Homo sacer, S. 31.)

25 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 624.

26 Ebd., S. 620.

27 Ebd., S. 614.

28 Ebd., S. 624.

29 Vgl. Hannah Arendt, „Wir Flüchtlinge“, in: dies., Zur Zeit. Politische Essays, Berlin: Rotbuch Verlag 1986, S. 7-21.

30 Arendts Artikel wendet sich an Juden in Amerika, die der Deportation in den KZs entflohen sind.

31 Die existentielle Wichtigkeit rechtlicher Anerkennung wurde auch von der späteren kritischen Theorie sowie von der feministischen und auch psychoanalytischen Rechtstheorie hervorgehoben – bei Letzteren allerdings auch im Bewusstsein der Zweischneidigkeit rechtlicher Anerkennung für minoritäre Gruppen. Vgl. u.a. Wendy Brown, „Rights and Losses“, in: dies., States of Injury. Power and Freedom in Late Modernity, Princeton: Princeton UP 1995, S. 96-134; Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Gram­matik sozialer Konflikte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, insbes. S. 148-226; Costas Douzinas, „Menschen­rechte und postmoderne Utopie“, in: Christoph Menke/Verf. (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 186-214.

32 Eric L. Santner, The Royal Remains. The People’s Two Bodies and the Endgames of Sovereignty, Chica­go-London: Univ. of Chicago Press 2011, S. 5-6.

33 Arendt, „Wir Flüchtlinge“, S. 17.

34 Ebd., S. 21.

35 Ebd., S. 19.

36 Ebd.

37 In dem Fall unter vollkommener Ausblendung der ungeheuerlichen Ausrottung der Urbevölkerung Ameri­kas.

38 Vgl. Arendt, Vita activa, S. 217-218.

39 Arendt, „Wir Flüchtlinge“, S. 16.

40 Vgl. Arendt, Vita activa, S. 215-16.

41 Arendt, „Wir Flüchtlinge“, S. 21.

42 Eine solche Form der politischen Ermächtigung lässt sich auch in der partizipatorischen Tradition der Men­schenrechte verorten. Vgl. dazu Menke/Verf. (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte, S. 373ff.

43 Vgl. Andreas Kalyvas, „The Stateless Citizen: Irregular Migration and Cosmopolitan Citizenship“, http://ww­w.lse.ac.uk/newsAndMedia/videoAndAudio/channels/publicLecturesAndEvents/player.aspx?id=1635

44 An den gewaltsamen Abschiebungen und der Art und Weise, wie die Flüchtlinge behandelt werden, wird deutlich, was diese Souveränität, die dem Normalbürger so selbstverständlich erscheint, an Sicherheit und Immunität vor staatlicher Gewalt bedeutet. Gleichzeitig kann dieser Umstand aber auch kippen, so dass der souveräne Staat auch gegen seine eigenen Mitglieder gewaltsam vorgeht, so zuweilen bei Demonstrationen oder im Falle von Staatsrassismus. Dies geht heutzutage zwar nicht bis zur Deportation, doch Agambens Homo sacer hebt zu Recht hervor, dass das souveräne Recht die Individuen grundsätzlich in eine prekäre Po­sition versetzt, in der der Verlust an Rechten niemals gänzlich ausgeschlossen ist.

45 Vgl. Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin: b_books 2006.

46 Wobei sich hier die Frage stellt, auf die ich jedoch nicht weiter eingehen kann, inwiefern das moderne Ver­ständnis von Revolution nicht selbst von Souveränitätsvorstellungen durchsetzt ist.

47 So etwa bei Kalyvas.

48 Vgl. Rosi Braidotti, „Affirmation versus Vulnerability: On Contemporary Ethical Debates“, in: Symposium: Canadian Journal of Continental Philosophy 10/1 (2006), S. 235-254, hier: 244f.

49 Vgl. Miriam Ticktin, „Where ethics and politics meet: The violence of humanitarianism in France“, in: Ameri­can Ethnologist 33/1 (2006), S. 33-49. Zur Logik des Humanitären siehe auch: Didier Fassin, The Hu­manitarian Reason. A Moral History of the Present, Berkeley-Los Angeles: University of California Press 2012.

50 Mit Bezug auf eine Neubestimmung der Verfassung jenseits staatlicher Souveränität lässt sich hier auf die systemtheoretisch informierte Arbeit von Gunther Teubner verweisen: s. etwa Gunther Teubner, Verfas­sungsfragmente. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung, Berlin: Suhrkamp 2012.