Ausgabe 1, Band 8 – April 2016
Die vieldeutige Antwort des Rechts
in Zeiten der Gewalt
Gerd Hankel
In ihrer Vorlesung „Some Questions of Moral Philosophy“, die sie 1965 an der New School for Social Research in New York hielt und die 2003 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Über das Böse erschien, hat Hannah Arendt darauf hingewiesen, dass die Selbstverständlichkeit moralischer Gebote infolge der politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen und geschichtlichen Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verloren gegangen ist. „Als erstes“ meinte sie, „daß niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, weiterhin behaupten kann: Das Moralische versteht sich von selbst – eine Annahme, mit der die Generation, zu der ich gehöre, noch aufgewachsen ist. Diese Annahme schloss eine scharfe Trennung zwischen Legalität und Moralität ein, und während eine vage, unartikulierte Übereinkunft darüber bestand, daß im großen und ganzen im Recht des Landes das niedergeschrieben ist, was das moralische Gesetz jeweils verlangt, gab es nicht viel Zweifel daran, daß das moralische Gesetz im Konfliktfalle das höhere und zuallererst zu befolgen wäre. Dieser Anspruch wiederum hatte nur dann einen Sinn, wenn wir all jene Erscheinungen für selbstverständlich halten, an die wir gewöhnlich denken, wenn wir vom menschlichen Gewissen sprechen. Was immer die Quelle moralischen Wissens sein mag – göttliche Gebote oder die menschliche Vernunft: Jeder gesunde Mensch, so wurde angenommen, hatte eine Stimme in sich, die ihm sagte, was Recht und was Unrecht ist, und dies unabhängig vom Recht des Landes und den Stimmen seiner Mitmenschen.“
Wohl niemand, der sich heute mit Fragen von Recht, Moral und Gerechtigkeit beschäftigt, würde die nüchterne Feststellung Hannah Arendts bestreiten. Erinnerungen an schlimmste Phasen deutscher Rechtsgeschichte stellen sich ein, als das Recht Teil des Maßnahmenstaats war und Willkür sowie Ausgrenzung beförderte. Recht und Moral lagen weit auseinander, höchste Unmoral war in Gesetzesform gekleidet und beanspruchte Beachtung, die ihr allzu oft und bereitwillig geschenkt wurde. Mahnend forderte darum der Jurist und ehemalige Reichsjustizminister Gustav Radbruch 1946 in einem Aufsatz, „daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht’ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“
Dass es auch in einer weit weniger extremen Form – denken wir an die kontroverse Diskussion über den in § 218 des Strafgesetzbuchs geregelten Schwangerschaftsabbruch – ein Auseinanderfallen von Recht und Moral gibt, sei nur am Rande bemerkt und gewissermaßen als Übergang zu dem, was im Folgenden untersucht werden soll: dass nämlich das Gesetz, d.h. die Rechtsnorm, die Verbindlichkeit und Beachtung will, trotz des Anspruchs einer klaren Verbindung von Recht und Moral entweder Gleiches ungleich behandelt oder von Erlaubnissätzen begleitet wird, die seinem eigentlichen Zweck zuwiderlaufen. Beides geschieht zudem in einem Kontext, der „von internationalem Belang“ ist, weil er die Grundwerte der Menschheit betrifft.
I.
Beginnen wir mit einem Fall, der im letzten September nach über vierjähriger Dauer zu Ende ging. Das Oberlandesgericht in Stuttgart verurteilte zwei Führer einer Rebellenmiliz, die im Osten der Demokratischen Republik Kongo aktiv war und ist, zu Freiheitsstrafen von dreizehn bzw. acht Jahren. Die beiden Angeklagten, gebürtige Ruander, die in Deutschland studiert und gearbeitet hatten, waren für schuldig befunden worden, Rädelsführer einer ausländischen terroristischen Vereinigung gewesen zu sein, der Haupttäter soll zudem Beihilfe zu vier Kriegsverbrechen geleistet haben. Dahinter verbirgt sich der Angriff auf mehrere Dörfer im Osten der Demokratischen Republik Kongo, bei dem Menschen in dreistelliger Zahl ihr Leben verloren haben, Männer, Frauen und Kinder, die nichts mit den Konfliktparteien zu schaffen hatten, an denen jedoch zur Abschreckung ein Exempel statuiert werden sollte.
Die Verurteilung der beiden Angeklagten geht zurück auf das sogenannte Weltrechts- oder Universalitätsprinzip, das schon seit Jahrhunderten bekannt ist und die Staaten dazu ermächtigt, Straftaten, die gemeinsame Interessen beeinträchtigen, unabhängig vom Tatort und der Staatsangehörigkeit von Täter oder Opfer zu bestrafen. Aus den Piraten, den Feinden der Menschheit (hostes humani generis), waren Makrokriminelle geworden, Täter von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord, deren Taten eine solche Schwere haben, dass die Staatengemeinschaft sie nicht hinnehmen kann, ohne ihr eigenes Fundament zu gefährden. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, noch lediglich deklaratorisch gemeint, und der aus ihr hervorgegangene internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, nunmehr für die Staaten verpflichtend (sofern sie ihm beigetreten sind, was die allermeisten Staaten getan haben) und mit einem Kontrollmechanismus ausgestattet, wären nur noch Papierwerk, ganz zu schweigen von den Konventionen, die wie die Völkermordkonvention oder die Folterkonvention Verbotsnormen aufstellen, die zum zwingend zu beachtenden Völkerrecht gehören. Sie durch die Hinnahme schlimmsten Unrechts zu ignorieren, würde unweigerlich zur Erosion elementarer Normen des Völkerrechts führen.
Vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart sollte dazu kein Anstoß gegeben werden. Durch den Urteilsspruch wurde ein massives Unrecht dokumentiert und die Verantwortlichkeit dafür individuell zugewiesen. Das Gericht hat, wie ohne ein Übermaß an Pathos behauptet werden könnte, im Namen der Staatengemeinschaft und ihrer kodifizierten Werte Recht gesprochen. Dass im Gewaltgeschehen des Ostkongo vergleichbare Verbrechen anderer Kriegsparteien nicht geahndet werden, ändert daran nichts. Das tu quoque-Argument greift nicht bei Makroverbrechen. Wenn andere Kriegsverbrecher der Region nicht bestraft werden, kann daraus nicht die Straflosigkeit von Kriegsverbrechern gefolgert werden, die faktisch nach dem Universalitätsprinzip zur Verantwortung gezogen werden können. Ein Strafanspruch, der nicht durchsetzbar ist, ist nicht Ausdruck des fehlenden Willens zur Gleichbehandlung. Er scheitert an Realitäten, die von einem nationalen Strafgericht nicht beeinflussbar sind. Die Moral, die allgemein hinter dem Strafanspruch steht, wird nicht beschädigt. Selbst der Umstand, dass ein Staatspräsident, dessen Armee tief in Völkerrechtsverbrechen verstrickt ist, in dem Land auf Staatsbesuch ist, das gerade in Anwendung des Universalitätsprinzips ein Strafverfahren gegen andere Täter desselben Verbrechenskomplexes führt (so gibt es einen sehr starken und begründeten Verdacht gegen Soldaten der kongolesischen Armee, in gleicher Weise, wie die Rebellenmilizen, die sie bekämpft, Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen begangen zu haben), beschädigt diese Moral nicht. Er bleibt unbehelligt, weil es einer allgemeinen völkerrechtlichen Regel entspricht, Repräsentanten von Staaten nicht einer fremden nationalen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen. Anders ist es jedoch nach dem Ende der Amtszeit, dann kann er, wie die Strafverfolgung des ehemaligen chilenischen Staatspräsidenten Augusto Pinochet Ende der 1990er Jahre zeigte, seine Immunität verlieren. Und das Römische Statut, das die Grundlage für die Schaffung und Tätigkeit des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) bildet, enthält in seinem Artikel 27 die Grundregel, dass „dieses Statut gleichermaßen für alle Personen, ohne jeden Unterschied nach amtlicher Eigenschaft [gilt]. Insbesondere enthebt die amtliche Eigenschaft als Staats- oder Regierungschef […] eine Person nicht der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach diesem Statut und stellt für sich genommen keinen Strafmilderungsgrund dar.“ Die Einschränkungen, die bei einzelstaatlicher Strafverfolgung wegen schlimmster Verbrechen noch bestehen, gibt es auf der internationalen Ebene also nicht mehr. Das Recht und die es tragende universelle Moral bilden eine Einheit, ganz so, wie es in der Präambel des Römischen Statuts niedergeschrieben ist, wo die Verbrechen, die unter die materielle Kompetenz des Gerichtshofs fallen, „das Wohl der Welt bedrohen“ und „die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“.
Hätte Hannah Arendt mithin heute Unrecht? Müsste mittlerweile nicht jeder, der seine fünf Sinne beisammen hat, insbesondere in Bezug auf die schweren Verbrechen, an die auch Hannah Arendt gedacht haben wird, von einer Einheit von Recht und Moral ausgehen? Und müsste er überdies, eingedenk der Geschichte der internationalen Strafgerichtsbarkeit seit den 1990er Jahren, nicht die treibende Kraft einer international vorhandenen Moral im Kampf gegen Massenverbrechen anerkennen?
Diese Fragen zu bejahen hieße, den Zustand des Rechts und der internationalen Moral in einem eindeutig zu günstigen Licht zu sehen. Fortschritte hat es unbestreitbar gegeben (und zu dem erwähnten Fall und seinen Folgerungen könnten noch viele andere vergleichbare genannt werden), aber es gibt immer noch und immer wieder erneut dunkle Flecken, die das Erreichte insgesamt einzuschwärzen drohen. Und es gibt sie ausgerechnet dort, wo wegen der Schwere der Verbrechen „das Wohl der Welt“ und „die internationale Gemeinschaft als Ganzes“ betroffen sind.
Als Carla Del Ponte, seit 1999 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda, ihre Ermittlungen auch auf die Rebellenbewegung RPF (Rwandan Patriotic Front) ausdehnen wollte, die im Sommer 1994 den Völkermord in Ruanda beendet hatte, stieß dies auf erbitterten Widerstand nicht nur in Ruanda, wo die ehemalige Rebellen die Staatsführung stellten, sondern auch bei den UN-Vetomächten Großbritannien und USA. Dabei gab es genügend glaubhafte Hinweise, dass die RPF bei der Eroberung Ruandas und in den darauf folgenden Monaten der Machtstabilisierung Zehntausende, wahrscheinlich sogar zirka 100.000 Menschen getötet hatte. Außerdem stellt das Statut des Gerichtshofs die Begehung von Völkermord-, Menschlichkeits- oder Kriegsverbrechen unter Strafe, und zwar allgemein, ohne irgendeine Einschränkung. Doch mit Beginn der Gerichtstätigkeit im Herbst 1994 wurde sehr bald deutlich, dass nur eine Tätergruppe zur Verantwortung gezogen werden sollte, nämlich diejenige, die mindestens 500.000 Menschen umgebracht hatte. Was möglicherweise durch die Zahlenrelation und die Art des Verbrechens – hier zumeist Völkermord an der Bevölkerungsgruppe der Tutsi, dort Kriegs- oder Menschlichkeitsverbrechen an der als Tätergruppe verstandenen Mehrheitsbevölkerung der Hutu – noch erklärlich gewesen wäre, ist es nicht mehr, wenn das Unrecht an sich in den Blick genommen wird. Die Tötung von im Mindestmaß mehreren zehntausend Menschen stellt ein Verbrechen dar, das wegen seiner Schwere ein eigentlich unbedingter Fall der Anwendung des Völkerstrafrechts ist und das auch durch ein zeitgleiches noch größeres Verbrechen nicht aus der Welt geschaffen wird. Selbst wenn (und dafür gibt es gute Gründe) die Meinung vertreten wird, das Völkermordverbrechen sei das „crime of crimes“, so besitzt es diesen Superlativ im Vergleich zu anderen Verbrechen und eben nicht im Vergleich zu Handlungen, die infolge des Vergleichs bedeutungslos werden. Genau dies geschieht jedoch, wenn die Strafverfolgung einseitig bleibt und aus politisch opportun erscheinenden Gründen – Angst vor einer Bagatellisierung des Völkermords, Sorge um die Stabilität des neuen Ruanda – die Taten einer anderen, sich nunmehr an der Macht befindlichen Tätergruppe nicht geahndet werden. Mit dem Anspruch auf Gleichbehandlung, den das Recht vor allem aus Respekt vor den Opferinteressen beachten sollte, ist das nicht vereinbar. Bedenkt man, dass in dem kleinen Land Ruanda Täter und Opfer weiterhin zusammenleben müssen, es dabei einer großen Opfergruppe allerdings verwehrt ist, das eigene Leid zur Sprache zu bringen, dann ist nur schwer vorstellbar, wie ein perspektivisch friedliches Zusammenleben möglich sein soll. Zwang, praktiziert durch eine autoritäre Staatsgewalt, wäre ein (befristeter) Ausweg. Aber diese Lösung wird dem UN-Sicherheitsrat nicht vor Augen gestanden haben, als er 1994 in den Vorspruch des Statuts für den Ruanda-Gerichtshof hineinschrieb, dass der Gerichtshof „zur nationalen Aussöhnung wie auch zur Wiederherstellung und Wahrung des Friedens beitragen“ würde. Gleichwohl stimmte er zu, als Carla Del Ponte 2003 auf Drängen Ruandas und mit intensiver Unterstützung Großbritanniens und der USA endgültig ihre Zuständigkeit für Ruanda verlieren sollte. In einem Manöver, das beinahe an Erpressung erinnert, wurde sie durch den willfährigen Gambier Hassan Bubacar Jallow ersetzt. Damit war das Recht der Staatsraison geopfert worden und die Moral, die im Völkerstrafrecht dem „Wohl der Welt“ und der „internationalen Gemeinschaft als Ganzes“ verpflichtet war und ist, hatte sich nicht als stärker erwiesen.
Und noch ein zweites Beispiel, das auch in Afrika seinen Anfang nimmt. Es betrifft wiederum die internationale Strafgerichtsbarkeit, genauer gesagt die ursprüngliche afrikanische Bereitschaft, diese Gerichtsbarkeit aktiv zu unterstützen. 34 der insgesamt 54 Staaten Afrikas sind heute Vertragsstaaten des Römischen Statuts, vier der 18 Richter sind afrikanischer Herkunft und auch die Chefanklägerin der Anklagebehörde ist Afrikanerin. Keine andere Weltregion ist in dieser Stärke im Gericht und unter den Mitgliedsstaaten vertreten. Trotzdem mehren sich in den letzten Jahren kritische Stimmen an die Adresse des internationalen Gerichtshofs. Laut wurden sie erstmals 2009 nach dem Erlass des ersten Haftbefehls gegen den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir. Seitdem haben sie an Intensität zugenommen und richten sich nicht mehr nur gegen die Strafverfolgung afrikanischer Politiker, sondern gegen die bisherige Praxis des Internationalen Strafgerichtshofs überhaupt. Die ausschließliche Konzentration des Gerichts auf Afrika rücke es in die Nähe eines neokolonialen Instruments, heißt es, und die Tätigkeit des Gerichts stelle eine permanente Einmischung in die inneren Angelegenheiten afrikanischer Staaten und somit eine Verletzung ihrer Souveränität dar. Eine Kooperation mit dem Gerichtshof könne es daher nicht mehr geben, folgerte zuletzt im Januar 2015 noch einmal die Versammlung der Afrikanischen Union.
Mit dem Argument der Souveränitätsverletzung müssen wir uns an dieser Stelle nicht weiter beschäftigen. Eine internationale Strafgerichtsbarkeit, die nicht nur auf dem Papier stehen will, setzt notwendigerweise voraus, dass die einzelstaatliche Souveränität durchlässig wird. Die gesamte Völkerrechtsentwicklung seit Gründung der UNO und besonders seit Beginn der 1990er Jahre bewegt sich in diese Richtung. Es ist ein anderes Argument, dass der Kritik ein ziemliches Gewicht verleiht. Dieses Argument gründet auf der richtigen Feststellung, dass Verbrechen von einer gewissen Schwere verfolgt werden müssen. Das bestreitet auch die Afrikanische Union nicht. Verbrechen, die in Afrika begangen werden, müssen demzufolge, sofern die nationalen Gerichte untätig bleiben, vor einer internationalen Instanz angeklagt werden. Auch das stößt bei der Afrikanischen Union nicht auf Widerspruch. Was sie unter Hinweis auf die vergangene Kolonialpolitik als Einbruch in die Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten beklagt, liefe hingegen, nähme man es wörtlich, auf die befremdliche Forderung hinaus, afrikanische Verbrechen nicht anzuklagen, nur weil gegen Angehörige oder politisch-militärische Führer von Staaten der nördlichen Hemisphäre keine Strafverfolgung stattfindet. Es gälte der Alles-oder-nichts-Grundsatz: weil nicht alle Verbrechen geahndet werden, sollen gar keine geahndet werden.
So ist jedoch die Kritik nicht gemeint. Sie zielt weiter und in der Tat auf ein Empfinden, das sich mit dem Kolonialismus herausgebildet hat. Allerdings auf eines, das sich am besten mit der über viele Jahre verfestigten Überzeugung, es werde in Bezug auf Afrika mit zweierlei Maß gemessen, beschreiben lässt. Während politisch-militärische Führer in Europa oder den USA nach Belieben schalten und walten könnten, würden afrikanische strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, ist die Kernaussage dieser Überzeugung. Ihr ist, denkt man nur an die Kriege in Afghanistan, im Irak, im Gazastreifen oder im Osten der Ukraine sowie an die in deren Verlauf mutmaßlich begangenen Verbrechen, wenig entgegenzusetzen. Nicht ein verantwortlicher Politiker oder Militär musste sich dafür strafrechtlich verantworten oder wird sich dafür – die Prognose ist gewiss nicht zu gewagt – strafrechtlich verantworten müssen. Es stimmt zwar, dass die fraglichen Staaten alle keine Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind und der IStGH insofern nicht zuständig wäre. Aber dass es, wie im Fall des Sudan unter Omar al-Bashir, eine zuständigkeitsbegründende Verweisung durch den UN-Sicherheitsrat geben wird, verhindert schon das Vetorecht der Ständigen Mitglieder dieses Rates, die nicht zufällig teilidentisch mit den Hauptbeschuldigten in den genannten Kriegen sind.
Mit anderen Worten, es geht wieder einmal um Gleichbehandlung, ein zentrales Element strafrechtlicher Gerechtigkeit. Obwohl sie im internationalen Maßstab nicht die gleiche Geltungskraft hat wie auf einzelstaatlicher Ebene, wo das Gewaltmonopol beim Staat liegt und die Bürger darum darauf vertrauen können (sollten), dass zur Wahrung des inneren Friedens Rechtsverstöße, massive zumal, ungeachtet der Person des Täters und des Opfers verfolgt und bestraft werden, ist sie auch in der internationalen Sphäre mit der Entwicklung völkerstrafrechtlicher Normen immer wichtiger geworden. Mangels eines internationalen Gewaltmonopols gibt es dort aber nicht die eine höchste Gewalt, die eine unbedingte Rechtsbeachtung einfordern könnte. Es ist allein die auf Einsicht beruhende Anerkenntnis der Geltung von Normen, die die Geltungskraft dieser Normen begründet, und je mehr Staaten diese Einsicht teilen, umso ausgeprägter und verbindlicher sind die normativen Aussagen. Umgekehrt bedeutet das, dass deren normative Kraft sinkt, je weniger Staaten diese Normen anerkennen oder, schlimmer noch, je opportunistischer der Umgang mit diesen Normen ist. Wo das Recht bei vergleichbarer Schwere der Tat selektiv und damit allem Anschein nach willkürlich zur Anwendung kommt bzw. kommen soll, kann im konkreten Anwendungsfall schlechterdings nicht mit überzeugenden Gründen die Befolgung dieses Rechts und notfalls die Bestrafung des Rechtsbrechers eingefordert werden. Was als großes Unternehmen zur Beförderung eines weltumspannenden Zivilisationsprozesses begann, verkommt zu einem Machtspiel intensivster Unmoral. Nicht nur Recht und Moral klaffen auseinander, die Moral selbst ist kein Korrektiv, weil sie es nicht sein soll. Die Selbstgerechtigkeit, die aufseiten der afrikanischen Kritiker noch hinzukommen mag, fällt dann kaum mehr ins Gewicht.
II.
Setzen wir nun unsere Überlegungen fort mit einem weiteren Fall, der im September 2009 für beträchtliche Aufregung in Deutschland sorgte. Am 4. September jenes Jahres gab der deutsche Oberst Georg Klein, Kommandeur einer im Norden Afghanistans im Rahmen der internationalen Mission ISAF (International Security Assistance Force) operierenden Bundeswehreinheit, den Befehl, zwei von Taliban entführte Tanklastwagen zu bombardieren. Infolge des Luftangriffs wurden bis zu 150 Menschen, unter ihnen auch Kinder, getötet oder verletzt. – Ein Verbrechen? Oder nur ein Versehen, geschuldet einer fahrlässigen Falschbewertung? Oder gar ein rechtmäßiger Kriegsakt, bedauerlich zwar, aber juristisch folgenlos? Und wie stellt sich die moralische Seite des Geschehens dar? Sind Moral und Recht hier in ihren Aussagen gleich oder sind sie verschieden?
Ausgangspunkt der Prüfung, ob Oberst Klein sich durch die Erteilung des Befehls strafbar gemacht haben könnte, waren vor allem zwei Bestimmungen des humanitären Völkerrechts, die ein Abweichen von dem Grundsatz erlauben, dass „weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen das Ziel von Angriffen sein [dürfen]“ (Artikel 51 Absatz 2 Satz 1 des Ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen, nachfolgend: ZP I). Die erste besagt, dass die Zivilbevölkerung oder einzelne Zivilpersonen nur so lange geschützt sind, wie sie „nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen“ (Artikel 51 Absatz 3 ZP I). Die zweite Ausnahmebestimmung hebt den Schutz der Zivilbevölkerung für den Fall auf, dass er im Verhältnis zum angestrebten militärischen Vorteil hinnehmbar erscheint. Wörtlich heißt es in dieser Bestimmung, dass Verluste an Menschenleben oder die Verwundung von Zivilpersonen verboten sind, „die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen“ (Artikel 51 Absatz 5 Nr. b ZP I), was im Umkehrschluss bedeutet, dass in Situationen, in denen das Verhältnis nicht so absolut ist, weil nicht „in keinem Verhältnis“ stehend, Kollateralopfer hingenommen werden können.
Im Blick auf die Bombardierung der Tanklastwagen im nordafghanischen Kunduz kam eine erste justizielle Prüfung zu dem Ergebnis, dass dem deutschen Oberst kein strafwürdiger Vorwurf zu machen ist. Er sei aus seiner subjektiven Sicht zweifelsfrei davon ausgegangen, dass alle Personen in der Nähe der Tanklastwagen unmittelbar an den Feindseligkeiten teilgenommen hätten, also Taliban oder deren Sympathisanten gewesen seien. Weitere Aufklärung sei nicht möglich und eine Warnung vor dem Angriff nicht erforderlich gewesen, da dieses Erfordernis nur gegenüber der Zivilbevölkerung beachtet werden müsse (Artikel 57 Absatz 2 Nr. a und c ZP I). Und selbst wenn unter den Opfern Zivilisten gewesen seien, sei der Angriff nicht unverhältnismäßig gewesen, vielmehr sei die Anwendung militärischer Gewalt auf das strikt Notwendige beschränkt worden.
Bundesdeutsche Gerichte bestätigten später diese Auffassung. Die Tötung von bis zu 150 Menschen sollte damit keine rechtliche Folge haben. Sie war kein Verbrechen, sie war nicht mal eine fahrlässig begangene Tat, sie war rechtmäßig und blieb damit juristisch ohne Konsequenzen. Denn der Ermessenspielraum, den das humanitäre Völkerrecht dem Befehlsgeber einräumt, ist so groß, dass dessen Grenzen unklar und auch durch Extremfallbeispiele nicht näher definierbar sind. „[P]roportionality is a general principle of international law (…) and proportionality is what the judges say it is”, lautet nicht von ungefähr ein Fazit, dessen durchklingender resignativer Unterton auf diesen Missstand verweist. Ein Bedrohungsgefühl und entsprechender Handlungsdruck beglaubigten folglich auch post festum einen militärischen Vorteil, demgegenüber Menschenleben zu weichen hatten.
Das vom moralischen Standpunkt aus ebenso zu sehen, dürfte schwierig sein. Das ergibt sich schon aus dem herkömmlichen Verständnis des Kriegsrechts. Es legitimiert das Töten von Kombattanten unter der Voraussetzung, dass die Bestimmungen des Kriegsrechts respektiert werden. Erst dann ist eine Tötungshandlung gerechtfertigt – eine Annahme, von der auch menschenrechtliche Konventionen ausgehen, die für den Fall des bewaffneten (nicht) internationalen Konflikts das Recht auf Leben aus ihrem Schutzbereich herausnehmen. Für die Zivilbevölkerung besteht der Schutz grundsätzlich fort, nur in Ausnahmefällen darf er durchbrochen werden. Wohl wissend, dass dies eine überaus heikle Erlaubnis ist, behilft man sich zu ihrer Rechtfertigung zum einen mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit zwischen militärischem Vorteil und Kollateralopfern (objektive Ebene), zum andern mit der Doktrin der Doppelwirkung (subjektive Ebene). Sie besagt, dass eine Handlung mit sowohl (moralisch) schlechten wie auch (moralisch) guten Folgen dann moralisch erlaubt ist, wenn die schlechten Folgen nur unbeabsichtigte Nebenfolgen sind. Konkret: Der Handelnde, d.h. der militärische Befehlsgeber, richtet seine Absicht allein auf das Erreichen des guten Ziels, also des militärischen Vorteils. Die als möglich erkannte Doppelwirkung, nämlich die bei Verfolgung der Absicht eintretende tödliche Folge für unbeteiligte Dritte, nimmt er lediglich in Kauf. Er will das Gute, nicht das moralisch Schlechte, und beides ist, zusammen mit der Beachtung der Verhältnismäßigkeit, nach allgemeiner Ansicht eine hinreichende Legitimation, Menschen zum Wohle anderer zur Hinnahme des eigenen Todes zu verpflichten.
Explizit gesagt wird dies indes nicht. Es scheint vielmehr die stillschweigende Annahme zu sein, dass Kriege eben in dieser Weise geführt werden. Detailliert beschriebene Bedrohungsszenarien sowie der Verweis auf schlimmste Grausamkeiten des Feindes und auf die eigene Anfälligkeit lassen keinen Gedanken an den Preis aufkommen, den die Bevölkerung fernab im Kriegsgebiet zu bezahlen hat. Dort, wo militärische Einsätze geplant und durchgeführt werden, ist nur zu bekannt, dass Zahlen und Bilder von Kollateralopfern Fragen aufwerfen, die die Legitimation des ganzen Unternehmens ins Wanken bringen können. Denn moralisch gerechtfertigt ist dieses Vorgehen nicht. Niemand ist verpflichtet, mit seinem Leben für das anderer einzustehen. Eine Selbstaufopferung kann nicht gefordert werden, da damit die Vorstellung einherginge, ein Leben sei mehr wert als ein anderes oder sogar als das vieler anderer.
Kriege könnten folglich, weil immer mit dem Risiko von Kollateralopfern behaftet, aus rechtsethischen Gründen nicht mehr geführt werden – eine bedauerlicherweise realitätsferne Vorstellung, die darum auch nicht einmal in der Sicherheitsarchitektur der UN-Charta ihren Niederschlag findet. Allerdings ist in weiten Teilen der internationalen Öffentlichkeit ein zunehmendes Unbehagen über zivile Kriegsopfer festzustellen. Nachrichten über Bombenangriffe, die eine größere Anzahl Toter in der Zivilbevölkerung verursacht haben, finden heute regelmäßig ihren Weg in die Medien. Der Druck auf politische und militärische Entscheider wächst, casualty shyness, die Scheu vor Verlusten unter den eigenen Soldaten, aber auch vor Opfern unter der Zivilbevölkerung des Einsatzlandes, ist zu einem Phänomen geworden, das starken öffentlichen Druck aufzubauen vermag. Das vorherrschende moralische Empfinden sträubt sich, sich mit dem Befund, es gebe unschuldige und gleichwohl rechtmäßig Getötete, abzufinden.
Noch um einiges schärfer stellt sich der Widerspruch zwischen Recht und Moral dann dar, wenn durch die Militäraktion humanitäre Ziele erreicht werden sollen. Das Konzept der internationalen Schutzverantwortung (Responsibility to Protect), das 2001 vorgestellt wurde, sieht als ultima ratio auch den Einsatz militärischer Gewalt vor, um in einem Staat die Begehung schwerster Verbrechen zu verhindern oder zu beenden. Die Intervention ist eine Nothilfe zugunsten einer bedrohten, in ihren fundamentalen Menschenrechten vom eigenen Staat missachteten Bevölkerung. Ihre Rechtfertigung bezieht sie daraus, dass dieser Staat zu einem hostis populi, zum Feind des eigenen Volkes mutiert ist. Der massive Missbrauch seiner Souveränität nach innen (Pflicht zum Schutz des inneren Friedens) führt zum Verlust der Souveränität nach außen (Schutz vor äußerer Einmischung in innere Angelegenheiten). Die internationale Staatsgemeinschaft tritt vorübergehend an die Stelle des „gescheiterten Staates“ und dies mit der eigentlich selbstverständlichen Konsequenz einer Verbesserung der menschenunwürdigen Situation in diesem Staat. Das weitere Töten von Menschen, die für diese Situation nicht verantwortlich sind, ist damit offensichtlich nicht vereinbar. Es zerstört die Legitimation des Einsatzes, der Widerspruch zwischen der humanitärrechtlichen Erlaubnisnorm und der Moral, deren Durchsetzung mit dem militärischen Einsatz gerade bewirkt werden sollte, lässt sich definitiv nicht mit Verhältnismäßigkeitsüberlegungen auflösen.
Dieses vor Augen schrieben die Autoren des Konzepts der Schutzverantwortung, dass die Eigensicherung der intervenierenden Soldaten nicht das Hauptziel sein dürfe. Sie sprachen damit eine Art Garantenstellung des Soldaten gegenüber der unbeteiligten und schutzbedürftigen Zivilbevölkerung an. Aufgrund seines Auftrags und seiner Funktion solle der Soldat in höherem Maße als andere verpflichtet sein, die Zivilbevölkerung vor Kriegs- oder Menschlichkeitsverbrechen oder vor dem Verbrechen des Völkermords zu schützen. Diese Pflicht schließe auch die Hinnahme eines erhöhten Risikos aufseiten des betreffenden Soldaten, im Rahmen der Schutzoperation getötet zu werden, ein.
Nun ist ein Konzept ein Konzept, und die Realität ist die Realität. Denken wir an aktuelle westliche Einsätze im Irak und in Syrien, scheinen Waffeneinsätze aus der Distanz zur Vermeidung einer Eigengefährdung der intervenierenden Kräfte nach wie vor das Gebot der Stunde zu sein. Der menschenrechtliche Diskurs, der vom Westen schon in Afghanistan, im Irak und in Libyen gepflegt wurde, bricht sich erneut an einer Kriegführung, die, obwohl völkerrechtskonform, ein elementares moralisches Prinzip verletzt. „Führt euren Krieg, aber behandelt gegnerische Zivilisten so, als seien es eure eigenen Staatsbürger“, forderten vor einigen Jahren, damals noch an Israel gerichtet, Avishai Margalit und Michael Walzer.
III.
Gehen wir von dem verbreiteten Geltungsgrund von Moral aus, so verfolgt sie das Ziel, „die im Zusammenleben von Menschen jederzeit möglichen (und nie eliminierbaren) Übel möglichst zu verringern“. Das Recht hilft dabei, ohne nach hier vertretener Auffassung in jedem Fall mit allgemeingültigen moralischen Aussagen oder Überzeugungen identisch zu sein. Dazu ist der Begriff des Übels inhaltlich zu verschieden und die Frage, ob sich Moral neutral definieren lässt, ist demzufolge streitig. Andererseits sind leicht viele Fälle denkbar, in denen der moralische Kern einer normativen Aussage sehr deutlich wird. Elementaren Menschenrechten zum Beispiel ist die Moral inhärent, rechtlichen Maßnahmen, die ihren Schutz bezwecken, folglich auch. Somit spricht vieles dafür, dass auch die internationale Strafgewalt hinreichend legitimiert ist. Die Normen, die sie begründet haben und arbeiten lassen, sind Emanationen von Werten, die, legen wir internationale Konventionen und Resolutionen zugrunde, universelle Gültigkeit beanspruchen.
Dennoch hat es nach der hier bisher unternommenen Darstellung den Anschein, die Legitimationsgrundlage der internationalen Strafjustiz sei prekär. Wo es ihnen opportun erscheint, drücken einzelne Staaten ihre Interessen durch, schwerste Verbrechen bleiben straflos, weil es der Staats- oder Politikraison entspricht. Eine Gleichbehandlung von in ihrer Schwere gleichen Taten findet nicht statt, der Eindruck von Gerechtigkeit, die durch die Anwendung von Strafrecht zumindest angestrebt werden soll, entsteht nicht.
Kann unter diesen Umständen überhaupt – im Sinne der Überschrift dieses Beitrags – von einer vieldeutigen Antwort des Rechts auf Gewalt gesprochen werden? Zu unserem Beispiel aus dem humanitären Völkerrecht ist die Antwort einfach. Dieselbe Rechtsnorm gebietet den Schutz der Zivilbevölkerung und erlaubt zugleich die Tötung von Angehörigen dieser Zivilbevölkerung. Sie beinhaltet zwei völlig konträre Aussagen, um der Gewalt zu begegnen, und beide sind rechtmäßig. Das ist bei dem augenscheinlichen Legitimationsproblem der internationalen Strafgerichtsbarkeit anders. Dort haben wir in bestimmten Fällen die Anwendung der Rechtsnorm, und in anderen Fällen haben wir sie nicht. Recht und Nicht-Recht sind jetzt das Gegensatzpaar, das Recht selbst ist nicht vieldeutig.
Allerdings handelt es sich um Recht in einem Regelungsbereich. Nehmen wir Recht aus anderen Regelungsbereichen hinzu, korrigiert sich das Bild. Das Rechtsprinzip der souveränen Gleichheit der Staaten stellt es den Staaten frei, dem völkerrechtlichen Vertrag des Römischen Statuts beizutreten. Es besteht für Staaten keine Pflicht und schon gar kein Zwang, schwerste Verbrechen, die auf fremden Hoheitsgebieten begangen wurden, gerichtlich zu ahnden. So gesehen erweist sich das Recht doch wieder als vieldeutig, wenn wir es in einem größeren Rechtskontext sehen.
Dasselbe gilt im Ergebnis für die selektive Strafverfolgung durch den UN-Strafgerichtshof für Ruanda. Die Anwendung von Recht steht hier zunächst wieder der Nicht-Anwendung von Recht gegenüber, die Antwort bzw. Nicht-Antwort des Rechts ist eindeutig. Erst wenn man erneut einen anderen Rechtsbereich berücksichtigt, ändert sich das. Das Gericht und der hinter ihm stehende UN-Sicherheitsrat haben nämlich die Ahndung der von der früheren Befreiungsbewegung RPF (die nach dem Völkermord die Macht in Ruanda übernommen hatte) begangenen Verbrechen an die ruandische Justiz verwiesen. Diese ist nicht oder nur scheinbar tätig geworden, was nicht weiter verwundert, da jetzt ein Staat Richter in eigener Sache war. Zur Souveränität eines Staates nach innen gehört, dass er seine Justiz den eigenen Vorstellungen gemäß organisieren kann. Die völkerrechtlich gebotene richterliche Unabhängigkeit läuft ins Leere, wenn dem Gericht keine Beweismittel vorliegen, die eine Verurteilung rechtfertigen können. Die Pflicht eines Staates, elementare, unverjährbare Menschenrechtsverletzungen zu ahnden (Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit), die auf eigenem Hoheitsgebiet begangen worden sind, wird gegenstandlos. Die Souveränität schützt vor insistierenden Nachfragen, mächtige Allianzen helfen, einen Schutzwall aufzubauen, an dem unbequeme Forderungen abprallen, da sie als unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten gelten. Damit kommen Rechtsnormen aus dem allgemeinen Völkerrecht ins Spiel, die, selbst wenn sie unter dem Verdacht missbräuchlicher Nutzung stehen, eine andere Antwort geben als die konkreten Vorschriften des Völkerstrafrechts. Entscheidend aber ist, dass das gesamte Verfahren nunmehr nach den Kategorien des Völkerrechts rechtmäßig ist. Ob Strafverfolgung durch den internationalen Ruanda-Gerichtshof oder nicht, das Recht deckt letztlich beide Entscheidungen und die Antwort auf ein Verbrechensgeschehen ist zu einer vieldeutigen geworden.
Ist eine Vereinheitlichung möglich? Lässt sich dort, wo die Verbindung von Recht und Moral nachweislich eng ist, auch in der Rechtsanwendung diese Verbindung aufrechterhalten? Zwei Fragen, die ein neues Thema eröffnen, das hier nicht mehr behandelt werden kann. Theoretisch denkbar jedenfalls ist es. Geschichte kann mit Immanuel Kant als Rechtsfortschritt gedacht werden, in dem die Vernunft so agiert, dass sie die Bedingungen ihrer Möglichkeit sicherstellt. Ein einmal angestoßener zivilisatorischer Prozess drängt auf seine Weiterentwicklung. Der vernunftgeleitete „übergreifende Konsens“ (John Rawls) wird größer und ist immer weniger geneigt, seine Gelingensbedingungen zu zerstören. Es ist, wiederum theoretisch, eine Frage der Zeit und praktisch eine Frage des politischen Willens. Der Hoffnung Hannah Arendts, die ihrer eingangs zitierten Feststellung trotz allen neuen Realitätssinns zu entnehmen ist, dürfte dies gewiss entsprechen.