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Ausgabe 1, Band 8 – April 2016

 

Hannah Arendt liest Carl Schmitts Der Nomos der Erde: Ein Dialog über Gesetz und Geopolitik anhand ihrer Marginalien

Anna Jurkevics

Department of Political Science, Yale University, New Haven, CT, USA1

 

Armer Schmitt: die Nazis sagten Blut u. Boden – er verstand Boden u. die Nazis mein­ten Blut.“ (Marginalien, 211) Dieser bemerkenswerte Kommentar ist einer von einer großen Fülle von Marginalien, die Arendt in ihrem Exemplar von Carl Schmitts Der No­mos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum (1950) hinterließ. Sie las das Werk akribisch.2 Die unterirdischen Dialoge zwischen Arendt und Schmitt wurden ziem­lich gut dokumentiert. So hat ihr gemeinsames Interesse am Konzept des Nomos in den vergangenen Jahren besondere Aufmerksamkeit erregt, aber bislang musste die Wissen­schaft diese Beziehung aus indirekten Anhaltspunkten und Ähnlichkeiten herleiten (vgl. zum Beispiel Jay, 1985; Kalyvas, 2009; Lindahl, 2006; Sluga, 2008). Die Marginalien in Arendts Bibliothek wurden in den letzten Jahren öffentlich zugänglich gemacht, und nun können wissenschaftliche Darstellungen durch unser Wissen darüber, was Arendt über Schmitts Werk dachte, bereichert und belebt werden. Wie sich zeigt, waren ihre Ansich­ten umfangreich.

Ein gründlicheres Studium der Marginalien in Der Nomos der Erde führt zu einem fas­zinierenden Ergebnis: Arendt entwickelte eine kohärente und schneidende Kritik an Schmitts Narrativ von Geopolitik und internationalem Recht, veröffentlichte sie aber nicht. Sie verfolgte und diskutierte sorgfältig sein Konzept des „nomos“, des antiken grie­chischen Wortes für Gesetz oder im geopolitischen Konztext für Raumordnung. Nach Arendt (Marginalien auf Buch-Nachsatz) wird Schmitts Theorie in Der Nomos der Erde von dem Augenblick an beschädigt, in dem er die Frage, „das Problem: wo ist die Quelle des Rechts?“ mit „Boden“ beantwortet. Seine Fixierung auf die politische Eroberung des Bodens ist der Faden, der sich von seinen anfänglichen philosophischen Grübeleien an den ganzen Weg durch seine historische Analyse und Kritik der amerikanischen Hegemo­nie hindurch zieht. Eroberung ist für Arendt der Schlüssel zu Schmitts Nomos, und aus ihrer Perspektive ist seine geopolitische Theorie zutiefst imperialistisch. Während Arendt den Nomos der Erde  liest, nachdem sie gerade eine Studie über den Imperialismus in Origins of Totalitarianism (1951) veröffentlicht hat, ist sie klug genug, ein Problem herauszugreifen, das in den zeitgenössischen Kritiken seines Werks nicht thematisiert wurde.

Seit den Angriffen vom 11. September 2001 ist das Interesse an Der Nomos der Erde stark gestiegen, insbesondere zur Beurteilung der Unipolarität und der amerikanischen Hegemonie (vgl. zum Beispiel Axtmann, 2007; Benhabib, 2012; Hooker, 2009; Kosken­niemi, 2004; Legg, 2011; Odysseos and Petito, 2007; Scheuerman, 2006; Slomp, 2009; Teschke, 2011). Besonders bemerkenswert ist, dass die Aneignung Schmitts durch die Linke in der letzten Dekade erstarkt ist (vgl. zum Beispiel Agamben, 2004; Balibar, 2003; Buck-Morss, 2008; Cohen, 2004; Laclau, 2005; Mouffe, 2005; Negri and Hardt, 2002; Zizek, 1999). Mit der zunehmenden Popularität von Schmitts Geopolitik wuchs aber auch die Kritik von vielen Seiten, darunter Benhabib (2012), Koskenniemi (2004) und Teschke (2011).3 Doch auch nach zahllosen Kritiken hat Der Nomos der Erde seine Überzeugungs­kraft nicht gänzlich verloren.4 Sogar Jürgen Habermas (2004: 33), vielleicht Schmitts standhaftester Kritiker, wiederholt dessen Haltung gegenüber den USA, wenn er sich über eine Welt sorgt, in der die Supermacht sich vorbehält, „unilateral zu handeln und er­forderlichenfalls auch präventiv alle verfügbaren militärischen Mittel einzusetzen, um ihre hegemoniale Stellung gegenüber möglichen Rivalen zu befestigen.“ Arendts Kritik in ihren Marginalien, die ich im nächsten Kapitel rekonstruieren werde, stellt wichtige Fra­gen an heutige Wissenschaftler, die sich, wie es Wissenschaftler der Linken getan haben, zur Kritik des amerikanischen Neoimperialismus der Schmittschen Geopolitik zuwand­ten. Diese Wissenschafter werden sich mit einem von Arendt aufgeworfenen Widerspruch auseinandersetzen müssen, der der Schmittschen Geopolitik zugrunde liegt, nämlich dass Schmitt sowohl Eroberung verteidigt als auch zugleich Imperialismus ablehnt. Meine Hoffnung ist, dass sowohl Arendts Kritik in ihren Marginalien als auch ihre eigene Theo­rie des Nomos neues Material für eine solche Auseinandersetzung liefert.
Die Marginalien belegen auch ein überraschend großes Interesse Arendts an der Bedeu­tung der Gerechtigkeit als Richtschnur politischen Handelns und Urteilens. Ihrem veröffentlichten Werk ermangelt es merklich an diesem Interesse, so dass dieses Material neues Licht darauf werfen kann, wie wir ihren oft ästhetischen Zugang zum Politischen beurteilen sollten.5 Es kann auch ihren vermeintlichen Dezisionismus infragestellen:6 Arendts Kritik an Schmitt belegt auch ihre Überzeugung, dass die Legitimität des Nomos auf aus intersubjektiven Prozessen des Vertragsschließens hervorgehenden Prinzipien und Institutionen gegründet werden sollte, was von einer existentiellen Entscheidung weit entfernt ist. Es ist bemerkenswert, dass der Kommentar zu Gerechtigkeit kein kohä­rentes Narrativ bildet wie im Fall der Bemerkungen zum Narrativ des Imperialismus, auch definiert Arendt ihren Begriff der Gerechtigkeit nicht. Deshalb besteht mein weite­res Vorgehen darin, diese Bemerkungen, soweit sie zum Narrativ des Imperialismus gehören, darzustellen und so zu interpretieren, dass Arendts Sorge um Gerechtigkeit mit ihrer Sorge um Staatenlosigkeit, ihrer Idee des „Rechts, Rechte zu haben“ und ihren Kom­mentaren zu internationalem Recht und Gerichtshöfen für Verbrechen gegen die Mensch­lichkeit verbunden wird.

Im letzten Kapitel werde ich die These untersuchen, dass uns Arendts Kritik in ihren Marginalien zu einer alternativen Konzeption des Nomos führt, die sie in später veröf­fentlichten Werken entwickelte und die sowohl von Schmitt beeinflusst ist als auch eine bedeutende Abwendung von ihm darstellt. Durch eine genaue Lektüre von Passagen ver­schiedener Bücher und Vorlesungen, Fußnoten und ihrem Denktagebuch komme ich zu dem Schluss, dass Arendts Nomos einigen der Aporien in Schmitts Zugang zum interna­tionalen Recht entgeht. Ohne Schmitts Einsicht zu vernachlässigen, dass Recht als Nomos eine wichtige stabilisierende und bindende Funktion für Politik bietet, umfasst Arendts Konzept in ihrer Beziehung zu Lex (dem römischen Begriff für Gesetz) sowohl die menschliche Fähigkeit, Versprechen zu geben als auch die für die Gründung entscheiden­de Bedeutung des Vertrags. Indem ihr Nomos auf einer Philosophie des intersubjektiven Errichtens der Welt beruht, bietet er die Grundlage für eine Theorie von internationalem Recht und Weltordnung, die notwendigerweise demokratisch ist, während diejenige Schmitts gewaltsam ist. Darüberhinaus schließt Arendts Vorschlag die Möglichkeit ein, dass die politische Theorie eine Alternative zu Schmidts Geopolitik entwickeln kann, die eine rglobalen Politik, in welcher die unterschiedlichen Gemeinwesen bewahrt und Gren­zen ausgelotet werden können, zuträglicher ist.

Arendts Kritik des Nomos der Erde

Es gibt eine Reihe von Gründen, warum Arendts Kritik neues Licht auf Schmitts Werk wirf. Nicht der geringste ist der, dass beide Gelehrte in der Wahl ihrer Themen miteinan­der verwandt sind, was dabei hilft, den jeweiligen Anteil am Dialog zu erhellen: Die beiden deutschen Theoretiker, die die geopolitischen Nachkriegsprobleme zu ihren Wurzeln vor dem Krieg zurückverfolgen, gelangen zu radikal verschiedenen Geschichten über solche Vorgänge wie den Niedergang des Nationalstaats. An einer Stelle notiert Arendt: „Was ich den Nationalstaat nenne, nennt Sch. den Staat schlechthin u. glaubt daher, im Untergang des Staates zu leben. Könnte stimmen.“ (Marginalien, 112) Sie erkennt hier, dass der von Schmitt beschriebene Zusammenbruch der Westfälischen Friedensordnung von 1648 nicht so weit von ihren eigenen Themen in Origins of Totalitarianism entfernt ist. Dort spricht Arendt bemerkenswerterweise ähnlich wie Schmitt in Der Nomos der Erde von Brü­chigkeit, um den Wandel der Weltordnung zu beschreiben.7 Während Schmitt die Staats­souveränität für den großen Verlust der Epoche hält, verbirgt sich hinter Arendts Reden über Nationalität und Nationalstaat ihr größeres Interesse an der Katastrophe, die den Völkern, besonders den Minderheiten zugestoßen ist. Darüberhinaus bröckelte nach An­sicht beider die Westfälische Ordnung an der Wende zum Zwanzigsten Jahrhundert und spielte der Imperialismus eine entscheidende Rolle bei der Katastrophe, wenn auch auf für beide jeweils unterschiedliche Weise.8 Wo Schmitt das jus publicum Europaeum glorifiziert und als „heroischen Zeiten“ charakterisiert, sieht Arendt in dessen Struktur die Saat des eigenen Verderbens.
In den Origins of Totalitarianism richtet Arendt ihren Blick auf die Unfähigkeit der Westfälischen Ordnung, die Rechte von Minderheitengruppen gleichzustellen, was schließlich mit dem Unglück von 1914 und dem von 1939 zum Ausbruch des Problems der Staatenlosigkeit führte. Das strukturelle Problem offenbart die Notwendigkeit des Rechts, Recht zu haben, und künftiges Nachdenken über internationales Recht muss sich auf die institutionellen Perspektiven einer Durchsetzung dieses Rechts richten, ohne die Men­schenwürde und Pluralität unmöglich sind. Um dieses Thema geht es, als Arendt mit ih­rem Lehrer Karl Jaspers über den Status von internationalen Strafgerichtshöfen korre­spondiert.9 Während sich Schmitts Sorge um den Nomos auf die Kriminalisierung des Krieges und den Verlust von gleicher Souveränität unter den Staaten richtet, sorgt sich Arendt stattdessen um die juristischen Beziehungen zwischen Personen und um Diejeni­gen, denen die schützenden Mauern eines Nomos genommen wurden. Wenn wir Arendts Kritik in ihren Marginalien lesen, sollten wir uns vor Augen führen, wie anders sich Arendt den Nomos vorgestellt haben mag.

Um im Weiteren Arendts Kritik zu kontextualisieren, ist es notwendig, in Schmitts Schriften die verschiedenen Narrative über internationales Recht und Geopolitik zu prü­fen. Schmitts Wende von Verfassungs- zu Geopolitik in den späten 1930ern wurde von der Suche nach einer grundlegenden Rechtsphilosophie begleitetet, die auf dem Boden basiert. Der Nomos der Erde (1950) ist für dieses Vorhaben ein Schlüsseltext. In ihm be­nutzt er „konkretes Ordnungsdenken“, um die räumliche Dimension zu enthüllen, die dem Recht zugrunde liegt. Diese normative Ordnung ist das, was er den „nomos“ nennt, und um legitim zu sein, muss sie Ordnung (Norm) und Ortung (Boden) miteinander ver­binden. Weltordnung gründet auf der „unendlichen Gerechtigkeit“ des Bodens. Schmitts Ziel ist es zu zeigen, dass Recht, wenn es an die Konkretheit von Land und Territorium gebunden ist, den abstrakten Universalismus des Liberalismus aus dem Weg geht.

Der Nomos der Erde bietet drei Narrative von Bedeutung an. Das erste Narrativ hin­sichtlich der Ursprünge des Rechts erscheint früh im Text und stützt sich auf eine quasi-phänomenologische, etymologische Methode (Schmitt, 1950: 13-20, 36-51, Schmitt: 1953). Arendt nennt sie Schmitts „pseudoontologische“ Methode (Marginalien: 197). Hier erklärt er, dass das Recht durch eine ursprüngliche Beziehung eines Volkes zum Boden errichtet wurde – durch Eroberung, Grenzziehung und Landteilung. Das zweite, histori­sche Narra­tiv wendet sich den Tugenden einer Weltordnung zu, die von ungefähr 1648 bis 1885 exis­tierte. Unter dem jus publicum Europaeum beruhte das Verhältnis der euro­päischen Staaten untereinander auf Gleichheit, und die Souveräne vertraten das Konzept des wech­selseitigen gerechten Feindes, des justus hostis. Gleiche Souveränität und geheg­te Kriegs­führung auf dem Kontinent wurden durch die Entladung von Feindseligkeiten in den un­begrenzten Räumen der Kolonien ermöglicht. Im Schlussnarrativ macht der Zu­sammenbruch des jus publicum Europaeum einem Zeitalter Platz, in dem internationales Recht von Territorialität geschieden wird. Schmitt kritisiert den Aufstieg Amerikas als den eines verschlagenen Vorkämpfers des Liberalismus und Hegemons am Ruder einer desorientierten unipolaren Weltordnung.

Die erste klare Linie der Kritik in den Marginalien verläuft gegen Schmitts erstes Nar­rativ einer Legitimität, die mit dem Boden begründet wird. Schmitt unternimmt drei Be­wegungen, um den Ursprung des Rechts bloßzulegen. Zunächst wird die Gerechtigkeit von dem Boden geboren: ‘‘Erstens birgt die fruchtbare Erde in sich selbst, im Schoße ihrer Fruchtbarkeit, ein inneres Maß.’’ (Schmitt, 1950: 13). Dann geht die legitime Ordnung des Lebens aus der ersten menschlichen Grenzziehung auf der Erde hervor, „zeigt der vom Menschen gerodete und bearbeitete Boden feste Linien, in denen bestimmte Einteilungen sinnfällig werden.’’ (Schmitt, 1950: 13). Schließlich wird Politik in dem Augenblick gebo­ren, in dem Grenzen Freund und Feind die Möglichkeit bieten, sich voneinander zu un­terscheiden. „Drittens endlich trägt die Erde auf ihrem sicheren Grunde Umzäunungen und Einhegungen, Grenzsteine, Mauern, Häuser und andere Bauwerke. Hier werden die Ordnungen und Ortungen menschlichen Zusammenlebens offenkundig.” (Schmitt, 1950: 13). Diese uranfänglichen Momente von Recht und Politik sind in der Erde verwurzelt. Sie entsprechen der Schöpfung des „nomos“, dessen etymologische Wurzel „nemein“ zweier­lei bedeutet: sowohl nehmen/aneignen (erobern) als auch teilen/verteilen (Schmitt, 1973, 491).

Arendt hält diese oft übersehenen Passagen in Der Nomos der Erde für zentral. Sie schreibt, das Problem liege in der Frage: „Wo ist die Quelle des Rechts?“ (Marginalien auf Buch-Nachsatz) Schmitts Antwort lautet, das Recht entspringe dem Boden in dem Augen­blick, in dem er erobert, kultiviert und umgrenzt wird. Arendt unterstreicht in dem Text viele Stellen, an denen diese Behauptung aufgestellt wird, und urteilt, dass Schmitt ein Fachmann des Blut und Boden-Theoretisierens sei, wenn auch ein besonderer Typus, der mehr zum Boden als zum Blut neige.10 Schmitt verstand hierbei nicht, dass die Nazi-Ideo­logie in erster Linie rassistisch und nicht geopolitisch war. (Marginalien: 211)

Das eigentliche Problem der Erklärung, dass die Legitimität an den Boden gebunden sei, liegt jedoch darin, dass es den intersubjektiven Prozess der Gesetzgebung nicht kennt. Wo Schmitt behauptet, „nomos ist das den Grund und Boden der Erde in einer bestimm­ten Ordnung einteilende und verortende Maß“, antwortet Arendt mit einer Frage: „Und wonach richtet sich das Maß? Nemein teilt jedem das Seine zu – aber nicht auf den Boden bezogen, sondern die Menschen, die sich niederlassen.“ (Marginalien: 40) Schmitts Au­genmerk auf den Boden schließt ein Verstehen der Momente von Vertrag und Verfassung aus, die die Gründung eines Gemeinwesens ausmachen. Im Gegensatz zu Schmitt ent­springt die Arendtsche rechtliche Ordnung dem Handeln zwischen Menschen.

Arendt beschuldigt implizit Schmitt, bei seiner Antwort auf die Frage, „was ist die Quel­le des Rechts?“, die Beziehung zwischen Recht und Politik nicht zu verstehen, weil er die Natur des Politischen nicht verstünde. Pluralität, für Arendt die erste Bedingung von Poli­tik, gibt es bei Schmitts Nomos nicht. Sie beklagt wiederholt, dass Leute, menschliche Wesen, aus seiner Darstellung ausgenommen sind.11 Stattdessen stülpt Schmitt sein eigenes Konzept des Politischen, nämlich die Unterscheidung von Freund und Feind, den Grenzziehungen auf dem Boden über. Die Erde wird zum Schlachtfeld und das politische System zu einem Behälter für Konflikte.

Abgesehen von dem Problem des Politischen sieht Arendt Schmitt auch hinsichtlich der Quelle des Rechts bei einer Reihe von Punkten im Selbstwiderspruch. Zum Beispiel be­rücksichtigt Schmitt nicht die historische Tatsache, dass bei neu errichteten Regimes in Kolonien, den hauptsächlichen Gebieten von Landnahmen, das Recht überwiegend nicht vom Boden abgeleitet wurde. Die Euroamerikaner zum Beispiel brachten viel von ihren eigenen Gesetzbüchern mit, was Schmitt zugesteht und Arendt notiert (Marginalien: 63).

Schmitt widerspricht sich selber wegen seines Vorurteils gegen den Rechtspositivismus von Wissenschaftlern wie Hans Kelsen; er missversteht die Bedeutung von Versprechen und Vertrag bei der Gründung einer Rechtsordnung. Arendt notiert nachdrücklich, dass das Wort Vertrag nicht einmal im Index genannt wird (Marginalien: 308) und erklärt: „Typisch die Unfähigkeit, den Vertrag zu begreifen, der auf dem Versprechen beruht.“ (Marginalien auf Buch-Nachsatz)

Interessant ist, dass sie weiter notiert: „Der einzige Deutsche, der das verstand, war Nietzsche.“ (Marginalien auf Buch-Nachsatz) Einträge im Denktagebuch ein Jahr zuvor, 1951, weisen auf intensive Überlegungen zum Versprechen hin, bei denen Arendt ihre Lektüre von Nietzsches „Genealogie der Moral“ mit ihrem zunehmenden Interesse an der amerikanischen Gründung verbindet. (2002: 135-143) Bei diesen Einträgen macht Arendt einen in späteren Texten weiter ausgearbeiteten Sprung von der Vorstellung, dass das Versprechen die entscheidende moralisch-politische Handlung in der unabsehbaren Welt menschlicher Angelegenheiten ist, zu der Feststellung, dass die amerikanische Gründung solch eine Handlung in einer nicht souveränen Weise vollführt. Arendts Enttäuschung über Schmitt bei diesem Thema wird dadurch deutlich, dass sie jedes Mal Randbemer­kungen macht, wenn er Vertrag oder Verfassung erwähnt. Seine Unfähigkeit, die Bedeu­tung des Vertrags zu erfassen, und sein Versäumnis, die Intersubjektivität des Politischen zu erkennen, machten ihn für eine verhaspelte „Pseudoontologie“ des Bodens empfäng­lich. (Marginalien: 197) Bei all seinem Gerede über Konkretheit hält Arendt Schmitt für einen schrecklichen Verallgemeinerer. Wo er den Rechtspositivismus wegen seiner „irre­führenden Abstraktheit“ und „leeren normativistischen Verallgemeinerungen“ kritisiert, antwortet Arendt: „Dafür liebt Schmitt die legal-technischen Verallgemeinerungen.“ (Marginalien: 166)

Arendts eigene Gedanken über Vertrag und Gründung kulminieren Jahre später in Über die Revolution. Andreas Kalyvas (2009) hebt hervor, dass Arendts Version der Gründung die Komponente der Gebürtigkeit bewahrt, dass sie aber nicht ex nihilo ent­steht: Legitimität wird nicht in einem Vakuum geschaffen. Stattdessen kommt das Neue in dem unvorhersehbaren Moment des Zusammenkommens zustande, des von einem Prinzip angetriebenen Handelns. Arendts Gründung ist nicht gesetzlos oder vorpolitisch. Eine rechtlose Gründung geht wegen „the violent prowling behind any act of pure rup­ture“ (Kalyvas, 2009: 225) in Blutvergießen über. Ihre Theorie des politischen Prozesses, bei dem die Bande der bürgerlichen Gesellschaft in einem Vertrag (einer Verfassung) gip­feln, enthält einen normativen Kern: ein Engagement für Freiheit und Pluralität. Nach Arendts Lesart fehlt Schmitts Theorie ein solcher normativer Kern. Sie notiert flüchtig: „Die Entsubstantialisierung - was ist e. justa causa & wer hat das Recht sie zu definieren - führt zu einer allseitigen Relativierung, die ohne Vertrag als Bindung, vollkommen for­mal-technisch bleibt. In dieser Situation wird jeder Inhalt begrüßt - Sch. wird Nazi.’’ (Marginalien auf Buch-Nachsatz). Sie wirft ihm Inhaltslosigkeit  vor.12 Indem er alles Recht auf den Boden gründet, missachtet er den Inhalt des Rechts und dessen Richtung auf die Menschen hin. Wo Schmitt von Landteilung und der Errichtung des Nomos spricht, bemerkt Arendt: „Die Landteilung - Zaun, Hegung, etc - begründet gerade den Nomos. Hier der Versuch, dem Inhalt des ‚Gesetzes’, der Gerechtigkeit, sich zu entziehen, eklatant deutlich.’’ (Marginalien: 49) Inhaltslosigkeit schafft Raum für Ungerechtigkeit.

So wird aus Arendts Sicht die Inhaltslosigkeit von Schmitts Nomos zu einem Missver­ständnis über die Bedeutung von Gerechtigkeit in der Politik. Das dauerhafteste Thema der Marginalien ist Schmitts Unfähigkeit und Unwillen, zu Richtig oder Falsch Stellung zu beziehen. An einer Stelle notiert Arendt: „Frage nach Recht oder Unrecht ganz ausge­schaltet“ (Marginalien: 183) und beklagt an anderer Stelle: „Jede Frage des Rechts aufge­löst in ‘Rechthaberei’. dies passim.“ (Marginalien: 128, vgl Marginalien: 67, 138, 249, 268.) Arendt missbilligt die Tatsache, dass in Schmitts Werk Fragen des politisch Bösen, die die Frage der Gerechtigkeit berühren sollten, bloße Gewissensfragen sind (Marginali­en: 268). Solche Fragen des Bösen, zum Beispiel Kolonialismus und militärische Aggres­sion, werden in Schmitts Sicht als Gehorsam gegenüber der Autorität verdeckt, die aus einem angemessenen Nomos hervorgeht.

Dass Arendt über Schmitts Gleichgültigkeit gegenüber Gerechtigkeit so beunruhigt war, spricht gegen die ihr gegenüber gemachten gleich lautenden Anschuldigungen. Es stimmt nicht, dass Arendts Vorstellung des Politischen ästhetisch auf Kosten der Gerechtigkeit war (Kateb, 1983). Wir begegnen hier vielmehr einer Arendt, die die Bedeutung der Ge­rechtigkeit und einen substanziellen Begriff des Politischen bekräftigt, der der Pluralität und Freiheit verpflichtet ist. Das ist weit entfernt von Interpretationen in früheren Jahren, die bei Arendt mit Schmitt konvergierende Hinwendung zum „Dezisionismus“ feststell­ten. (Jay, 1985; Wolin, 1992)

Arendts Sorge um Gerechtigkeit tritt am heftigsten in ihren Kommentaren zu Schmitts Geschichte des Kolonialismus hervor. In seiner Darstellung schaffen einige Landnahmen einen neuen Nomos, andere aber nicht. Schmitt will verstehen, warum die Landnahmen einen neuen Nomos konstituierten; an den Fehlern, die daraus folgten, ist er nicht inter­essiert. Arendt antwortet entschieden: ‘‘Dass die Juristen nicht wissen, was Recht ist, gibt Sch. nicht das Recht, Unrecht mit Recht-Setzung zu identifizieren.’’ (Marginalien: 50) Arendt will sein Eingeständnis, dass diese Landnahmen unrecht und die ursprüngliche Sünde einer neuen Ordnung sind, statt ihrer Gleichsetzung mit Recht.

Für Arendt war die Landnahmen der imperialistischen Ära (1884-1914) das Ergebnis des zerstörerischen Prinzips der Expansion um der Expansion willen. Das Prinzip des Konsenses reiste nicht zusammen mit dem Prinzip der Expansion, und die europäischen Nationen unterstellten die Welt mit Hilfe der gewaltsamen Kraft der Eroberung ihrer Herrschaft. Während der Episoden der Kolonialherrschaft wurden die westlichen morali­schen Grundsätze und politischen Institutionen entstellt. Laut Arendt führten die impe­rialistischen Eroberungen zur Kristallisierung neuer Herrschaftsformen, und so wurde die Kette der Ereignisse in Gang gesetzt, die schließlich die Westfälische Ordnung einstür­zen ließ.

Weil Arendt diesen Vorgang kurz zuvor in Origins of Totalitarianism veröffentlicht hat, nimmt sie bei dem Thema der Eroberung eine besonders harte Haltung gegenüber Schmitt ein. Eroberung, so glaubt sie, ist der zentrale Bestandteil von Schmitts Nomos. Schmitt benutzt den Begriff Landnahme, der, so notiert Arendt, ein Euphemismus für Er­oberung ist. In ihrer Antwort auf Schmitts Behauptung, dass Der Nomos der Erde den Friedfertigen versprochen ist (Schmitt 1950: Vorwort), schreibt sie: „d.h. Eroberung. e. Wort das der neuerlich ‘Friedfertige’ vermeiden muss!“ (Marginalien 16) Schmitt theore­tisiert, dass weil Landnahme Ordnung und Ortung verbindet, beide den Nomos konstitu­ieren und dessen stärkster Ausdruck sind. Schmitt erzählt uns: „Recht und Ordnung ... sind an diesem Ursprung der Landnahme eines und können hier, an ihrem Anfang, wo Ortung und Ordnung zusammenfallen, nicht von einander getrennt werden.“ (Schmitt, 1950: 50).

Landnahme überbrückt die Lücke zwischen Schmitts „Pseudoontologie“ hinsichtlich der Quelle des Rechts und seiner historischen Darstellung der Nomoi. Er schreibt: „Die Landnahme geht der ihr folgenden Ordnung nicht nur logisch, sondern auch geschicht­lich voraus.” (Schmitt, 1950: 19 - meine Hervorhebung). Wegen dieser ausdrücklichen Verbindung, so Arendt, ist der Nomos sowohl philosophisch als auch historisch auf die Idee der Landnahme gegründet und daher imperialistisch. Später in seinem Werk finden wir Schmitts Kritik am amerikanischen „Imperialismus“, und Arendt greift sofort seinen Widerspruch auf.

Landnahme geschieht vor allem durch Eroberung. Wo Schmitt schreibt: „In jedem Fal­le ist die Landnahme nach Innen und Außen der erste Rechtstitel, der allem folgenden Recht zugrunde liegt“ (Schmitt, 17), notiert Arendt: „Eroberung  = Kolonisation!“ (Margi­nalien: 17), womit sie sagen will, dass Schmitt sowohl jeglichen legitimen territorialen An­spruch als auch das einheimische Recht, dessen Möglichkeit selbst auf Territorialherr­schaft beruht, auf Kolonisierung gegründet hat. Mika Ojakangas hebt hervor, dass Schmitt die biblische Geschichte von Josua als paradigmatisches Beispiel für Landnahme benutzt: „By expelling Ken’ites, Canaanites, and other peoples from their land, Joshua lays the foundation for order and orientation, and, through destruction and merciless slaughtering, founds nomos.“ (Ojakangas 2009: 39) Der Bauer, der sich in Der Nomos der Erde um den Boden kümmert, wird später in Theorie des Partisanen (1963) durch den autochthonen Kämpfer ersetzt - eine Verschiebung, die Schmitts Neigung offenbart, Gewalt als lebensbejahend zu bevorzugen.

Eroberung geht auch durch das in Schmitts Theorie ein, was Arendt für eine Fehlinter­pretation des Wortes Nomos hält. Wir wissen aufgrund ihrer späteren Verwendung der etymologischen Bedeutung, dass Arendt Schmitt zustimmt, dass „nomos“ von dem Wort „nemein“ stammt und daher zwei Momente beschreibt: „nemein“ als nehmen und „ne­mein“ als teilen.13 Schmitt schreibt: „Nun ist mit jeder Landnahme irgendwie auch eine Teilung und Einteilung des genommenen Landes verbunden. Aber die Teilung ist nur eine Folge der Landnahme.“ (Schmitt, 1950: 49). Damit geht für Schmitt die Landnahme der Landteilung voraus, und das ist der springende Punkt, mit dem Arendt nicht überein­stimmt. Landnahme in Schmitts Interpretation ist gleichbedeutend mit Erwerb oder Er­richtung von territorialem Recht. Landteilung, die sich Arendt als konstitutionelles Mo­ment der Errichtung des Rechts von Mein und Dein vorstellt, kommt für Schmitt erst an zweiter Stelle. In einer entscheidenden Randbemerkung schreibt Arendt:

Offenbar hier: Landnahme oder occupation oder Eroberung natürlich conditio sine qua non der Landteilung, Aber Rechtsfragen entstehen natürlich erst bei der Divisio, die jedem das Seine gibt. Ergo ergeben sich Rechtsfragen bei der Entdeckung der Neuen Welt erst als es an die Verteilung geht . . . Also: vor der acquisitio steht die di­visio und nicht d. Eroberung. (Marginalien: 108)

Zu sagen, dass Land durch eine vorkonstitutionelle Aneignung ohne eine etablierte bür­gerliche Gesellschaft und Staatsmacht zur Sanktionierung des Eigentumsrechts erworben und  besessen werden könnte, würde Schmitt in Widerspruch zu Kants Theorie des vor­läufigen versus bestandskräftigen Eigentumserwerb in dessen Rechtslehre bringen. (Kant, 1797) So lautet ein möglicher Subtext bei Arendts Nichtübereinstimmung mit Schmitts Auffassung über den Erwerb, dass er die Kantische Einsicht abgelehnt hat, wäh­rend Arendt sie begrüßt. Für Arendt ist Landnahme nicht ohne die vorherige Konstituie­rung eines Gemeinwesens durch Vertrag möglich.

Arendt macht in ihren Kommentaren am Rand deutlich, dass mit der Rangfolge Aneig­nung vor Teilung nicht nur der Unterschied zwischen dem Ursprung der Eigentumsrechte und der territorialen Aneignung verwischt wird, sondern auch der verfassungsmäßige Moment ausgegrenzt wird, der am Ursprung der Gründung eines Gemeinwesens liegen sollte. Die Verfassung eines Gemeinwesens als eines Gebiets und der individuelle Landbe­sitz in ihm müssen einer politischen Übereinkunft folgen. Einem solchen Verständnis ent­sprechend kann die Aneignung nur dann erfolgen, wenn einer Landnahme die Teilungs­kompromisse folgen, die Arendt als verfassungsmäßiges Moment begreift. In Schmitts Fall, bei dem Besitz vor Teilung erfolgt, haben wir es mit einer dreisten Eroberung zu tun. Als Arendt später Schmitts Sprache bei der Definition von Nomos aufgreift, sorgt sie für die Umkehrung von Erwerb (Besitz) und Teilung (Verteilung): „Nómos, das griechische Wort für Gesetz, kommt wohl von némein, teilen,  besitzen, was erteilt worden ist, und wohnen.“ (Arendt, 1981: 329f).

Die Umkehrung von Teilung und Besitz in der Konzeption des Nomos verbindet die Prämissen von Schmitts philosophischen Grübeleien mit den anderen Argumenten in Der Nomos der Erde, die in der gegenwärtigen politischen Theorie  selbst von seinen Kri­tikern wieder aufgegriffen wurden. Wenn wir Arendt in ihrem Glauben folgen, dass Schmitts politische Theorie intrinsisch imperialistisch ist, weil sie auf der Zustimmung zur Eroberung beruht, dann müssen wir seine geschichtliche Darstellung betrachten. Das geht am besten mit dem Konzept des res nullius und dessen Bezug zur Landnahme.

Schmitt benutzt den Begriff der „freien“ Räume anstelle des Begriffs der res nullius, ei­nes rechtlichen Begriffs, der sich auf eine Sache (res) bezieht, die keinen Besitzer (nul­lum) hat. In ihren Marginalien bezieht Arendt den Begriff der res nullius auf die weiten “freien“ Landstriche in der Neuen Welt, die eine Schlüsselrolle bei der Errichtung des jus publicum Europaeum spielten. Nach Schmitt fungierte die res nullius als Sicherheitsven­til für machthungrige europäische Mächte, die Aggressionen in den Kolonien statt auf dem Kontinent entfesseln konnten. Er behauptet, dass freie Räume, die für koloniale Un­ternehmungen und neue Eroberungen von Land offen standen, die Einhegung des Kriegs in Europa ermöglichte. Arendt zeigt sich alarmiert und macht Randbemerkungen, wo im­mer Schmitt „freier Raum“ schreibt, wobei sie ihre Bemerkungen mit Ausrufezeichen ver­sieht. Im weiteren aber bleibt in dem Text der Mechanismus des Sicherheitsventils vage. Schmitt (1950: 146) nimmt an, dass mächtige Staaten aus Gründen ihrer Natur und be­ständig zum Erwerb neuen Landes angetrieben werden, dass sie aus Gründen ihrer Natur imperial sind und dass sie, wenn keine offenen Räume zur Praktizierung des Erwerbs vor­handen sind, ein Unglück entfesseln werden. Wenn es keinen Raum in Europa anzueig­nen gibt, müssen sich die großen Mächte in die Neue Welt bewegen.

Arendt Randkommentare in den Abschnitten über das Sicherheitsventil offenbaren ein Problem, das Wissenschaftler übersehen haben. Schmitts Konzept des Pluriversums geht von einer historischen Argumentation über das Gleichgewicht der europäischen Mächte aus, das auf der Gewalt der Landnahme beruht und imperiale Ziele zur Folge hat. Als Schmitt später in seinem Werk versucht, die Gewalt des Machtausgleichs herunterzuspie­len, antwortet Arendt: „cf. above wo er zeigt dass es ein freies hintergrundsloses Gleichge­wicht nicht gibt!“ (Marginalien: 161) Damit will Arendt m.E. offenbar sagen, dass jegliches Machtgleichgewicht nach Schmitt in der Hinterhand die Möglichkeit bieten muss, dass die Großmächte ihre gewaltsamen Ziele irgendwo verfolgen können. Hier ist Arendt eher provozierend als eindeutig, aber ihre Randbemerkung wirft eine wichtige Frage auf: Was sind die globalen, strukturellen Voraussetzungen einer Schmittschen Weltordnung? Arendt geht davon aus, dass die Bestandteile des Machtgleichgewichts, ob von Nationalstaaten oder Großräumen, nicht anders als imperial sein können: Das Gleichgewicht erfordert Landnahmen und koloniale Besetzungen (ob ökonomische oder mit Hilfe militärischer Macht).

Gewalt in den Kolonien schloss das konstitutive Äußere des europazentrierten Nomos ein, bis er gegen 1900 zerbröckelte. Arendt kann kaum glauben, dass sogar Schmitt den USA (und Großbritannien) die Schuld an dessen Niedergang gibt. Sie ist darüber er­staunt, dass Schmitt nicht dem Imperialismus selber die Schuld für die Auflösung des jus publicum Europaeum gibt, wie sie es in Origins of Totalitarianism tut. (Marginalien: 195). Sie geht noch einen Schritt weiter und nennt wiederholt Schmitts Denken imperia­listisch, ein Wort, das er selber Amerika vorbehält (vgl. Marginalien: 188, 195, 211, 268, 271). Schmitt versteht Arendts Ansicht nach nicht, dass der Aufstieg Amerikas das direkte Ergebnis und die Fortsetzung des europäischen Imperialismus ist. Als er über die euro­päische Zivilisation schreibt, erinnert ihn Arendt, dass es sich um eine Zivilisation han­delt, „zu der doch wohl d. Amerikaner! gehören.“ (Marginalien: 201) Sie verspottet die Vorstellung, dass Europa, oder dessen Nomos, durch Amerika zerstört worden sei. (Marginalien: 232) Darüberhinaus ist die Macht Amerikas „aber als Folge e. europ. Landnahme’’ (Marginalien: 261) zu verstehen. Arendt schreibt:

Das Paradox ganz offensichtlich, dass einerseits die Landnahme Amerikas erst die Raumordnung Europas als Gleichgewicht ermöglichte und dass anderseits Amerika durch seine Besiedlung mit Europäern diese Ordnung dann in Frage ziehen musste. (Marginalien: 163)

Um auf die politischen Herausforderungen der amerikanischen Hegemonie zu antwor­ten, wandte sich Schmitt der Idee der Großräume oder der geopolitischen Machtblöcke zu. Die Macht der Vereinigten Staaten könnte in einem „Pluriversum“ von Großräumen ausgeglichen werden, und diese Einheiten könnten eine Beziehung der Gleichheit unter­einander entwickeln, die eine Wiederherstellung von justus hostes-Beziehungen ermögli­chen würde. Das Pluriversum ersetzt das positive internationale Recht durch Ordnung und Ortung. Am Ende hat Schmitt kein Problem mit dem amerikanischen Imperialismus per se, sondern nur mit seiner Unipolarität.

Wie wir in diesem Kapitel gesehen haben, weist Arendt Schmitts geopolitische Theorie zurück, muss sie zurückweisen, weil sie durch das Konzept der Eroberung Schmitts philo­sophische Überlegungen mit dessen historischer Analyse und Kritik Amerikas verbindet. Sie weist auch seinen Vorschlag der Großräume zurück, weil entsprechend seiner eigenen Analyse die historische Voraussetzung für das Gleichgewicht von Machtblöcken die Er­oberung und imperiale Kontrolle „freier Räume“ durch mächtige Staaten ist. Als er schreibt, dass es ab einem bestimmten Punkt kein Halten mehr beim Niedergang des jus publicum Europaeum gab, antwortet sie: „Warum? Nur wenn man an Raum ungeachtet der Völker festhält. Immer wieder: Ausschaltung der Menschen.’’ (Marginalien: 200) Schmitt Beharren auf dem Vorrang des Bodens führt ihn in eine Richtung, die Arendt völ­lig ablehnt. Das Konzept der Landnahme, bei der der Erweb vor dem Vertrag kommt, ist nichts anderes als Eroberung, und so wird ihrer Ansicht nach der Schmittsche Nomos durch Eroberung und Kolonisierung zusammengehalten.

So weit Arendts Schlussfolgerung. Heutige Wissenschaftler haben Schmitts Begriff des Politischen und das Pluriversum der Mächte von seinen autoritären Neigungen getrennt. Ein genaues Studium des Dialogs in Randbemerkungen Arendts mit Schmitt legt nahe, dass wir die Beziehung zwischen Schmitts philosophischen Vorstellungen und seinen ge­schichtlichen Ansichten überprüfen sollten. Eine Schlussfolgerung, die aus diesem Dialog gezogen werden kann, ist die, dass sich Schmitt hinsichtlich Eroberung und Imperialis­mus im Widerspruch mit sich selber befand. In Der Begriff des Politischen schreibt Schmitt (1991: 33) dass Politik „weder bellizistisch oder militaristisch, noch imperialis­tisch, noch pazifistisch" ist Zur gleichen Zeit ist laut Arendt die Politik jedes gegebenen Nomos auf der Erde notwendig auf Eroberung und imperiale Eroberung gegründet. Aus den Randbemerkungen lässt sich die Frage, ob aktualisierte Versionen von Schmitts Geopolitik Schmitts angeblichen Imperialismus enthalten oder nicht, nicht beant­worten. So werde ich mich im folgenden nicht mit diesen aktualisierten Schmittschen Theorien befassen, sondern stattdessen eine andere Vorgehensweise wählen und meine Aufmerk­samkeit auf Arendts fortdauernde Beschäftigung mit Schmitt sowie ihre Ausarbeitung ei­ner eigenen alternativen Theorie des Nomos richten.

Arendt über Nomos und Lex

Arendts philosophische Schriften zum Recht sind nicht systematisch.14 Sie wurde bis­lang zu wenig analysiert und zu sehr unterbewertet.15 In diesem Kapitel untersuche ich Arendts veröffentlichte Gedanken zum Begriff des Nomos, die stark von Carl Schmitt be­einflusst wurden.16 Ihre Version des Nomos behält die gewünschte „Konkretheit“ des Schmittschen Paradigmas, beruht auf der Wiederaneignung der vorsokratischen Bedeu­tung des Begriffs als Stadtmauer, fügt aber nachdrücklich Einsichten über Gründung und Vertrag hinzu, um Gewalt und Ursprünglichkeit zu vermeiden, die sie an Schmitts Theo­rie kritisiert.

Wie wir oben sahen kritisierte Arendt Schmitts Definition des Nomos dergestalt, dass das Nemein als teilen wichtiger als das Nemein als nehmen ist. Dadurch wird das vertrag­liche Moment der Errichtung eines Nomos zur zentralen Komponente bei Arendts Begriff des Rechts, und, um dessen Bedeutung hervorzuheben, stellt sie den Nomos in eine pro­duktive Spannung zu dem römischen Begriff des Rechts: Lex. Arendts Rechtstheorie re­flektiert eine Dualität, die sich im Herzen des Rechts befindet, bei der Recht beidem ent­stammt, dem Machen / Errichten der Welt und dem (intersubjektiven) Handeln.

Arendts Vergleich von Nomos und Lex stellt gewissermaßen eine Ausweitung ihrer Phänomenologie der menschlichen Aktivitäten (Handeln, Herstellen und Arbeiten) und von deren Beziehung zur Welt dar, wie in Vita activa oder Vom tätigen Leben beschrie­ben. Dort schreibt sie über die Welt:

Die Welt ist vielmehr sowohl ein Gebilde von Menschenhand wie der Inbegriff aller nur zwischen Menschen spielender Angelegenheiten, die handgreiflich in der herge­stellten Welt zum Vorschein kommen. In der Welt zusammenleben heißt wesentlich, dass eine Welt von Dingen zwischen denen liegt, deren gemeinsamer Wohnort sie ist, und zwar in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen. (Arendt, 1981: 52)

Handeln findet vor dem Hintergrund dieser Welt statt, ist in das Netz der Narrative eingebunden, während Herstellen die Welt sowohl in ihrer Materialität (als Institutionen und öffentliche Räume) als auch in ihrer Bedeutungshaftigkeit (als gemeinsame Welt) schafft.

Jedoch ist es oft schwer, wie wir bei der Beziehung zwischen Lex und Nomos sehen werden, eine klare Trennungslinie zwischen Handeln und Herstellen zu ziehen, die in Arendts Darstellung unauflöslich miteinander verflochten sind. Sie schreibt:

Gemeinhin kann dies durch Handeln entstandene Bezugsgewebe, in dem die Vergan­genheit in Form der redenden und immer noch beredeten Geschichte weiterlebt, nur innerhalb der hergestellten Welt existieren, in deren Steinen es sich einnistet, bis auch sie reden, redend zeugen – auch dann noch, wenn man sie aus dem Schoß der Erde gräbt. (Arendt, 1993, 89f.) 

Für Arendt findet Politik in einer weltlich gesehen zweiten Natur statt, die eine Voraus­setzung für den politischen Raum ist. Gleichzeitig ist dieses menschliche Gebilde, d.h. die Welt, ohne das Handeln, das sie beherbergt, bedeutungslos. „Ohne von Menschen be­wohnt und von ihnen andauernd besprochen zu werden, wäre die Welt nicht mehr als ein Haufen beziehungsloser Dinge, auf den jeder Einzelne in seiner Isolierung noch einen von ihm verfertigen Gegenstand werfen könnte.“ (Arendt, 1981: 198). Handeln bedarf zu sei­ner Orientierung und Behausung einer Welt, und die Produkte des Herstellens müssen die Angelegenheiten der Menschen beinhalten, um Bedeutung zu erlangen und fortzudau­ern.

Die wechselseitige Abhängigkeit von Handeln und Herstellen mag nicht einleuchtend sein, wenn sie im Licht von Arendts heftiger Zurückweisung des Ersatzes des Handelns durch das Herstellen in der Politik betrachtet wird, und tatsächlich hat Arendt oft das ‘‘productionist paradigm’’ der Politik (Villa, 1995) beklagt, bei dem Handeln durch die Vorhersagbarkeit des Herstellens und Freiheit (Nichtherrschaft) durch Herrschaft ersetzt werden. Nichtsdestotrotz gesteht Arendt die Bedeutung des Herstellens bei der Eingren­zung des Handelns zu, während sie gleichzeitig eine radikal freie, nicht souveräne Politik begrüßt. Sie glaubt, dass die Dauerhaftigkeit des politischen Raums ein sine qua non der Politik ist. Dauerhaftigkeit wiederum hängt von der Rolle des Rechts in seiner Eigenschaft als Nomos ab, das ihm die Fähigkeit verleiht, die Politik zu binden und zu hegen und die Handlungen der Menschen zu verwurzeln, zu leiten und dauerhaft zu ermöglichen. Bei ih­rer Lektüre von Schmitts Der Nomos der Erde hält Arendt doch trotz großer Widersprü­che seine Rückbesinnung auf die vorsokratische Bedeutung des Nomos für unschätzbar. Die ursprüngliche Bedeutung des Nomos als einer Stadtmauer erlaubt es dem Gesetz, Po­litik zu binden und zu leiten, ohne sie zu ersetzen, ohne Rechtmäßigkeit und Herrschaft mit Freiheit gleichzusetzen. Warum aber besteht Arendt auch darauf, den römischen Be­griff von Recht als Lex zu übernehmen, die Schmitt als bloße Legalität zurückweist?17 Während Lex und Nomos nicht genau auf die Tätigkeiten Handeln und Herstellen an­wendbar sind, so haben sie doch eine wechselseitige Abhängigkeit und Verflechtung, die der vorhergehenden Diskussion der beiden Aktivitäten ähnelt. Die Funktionen des Lex vervollständigen den Arendtschen Nomos, und tatsächlich ist jeder der beiden Konzepte begrifflich ohne den anderen unvollständig. Aus eben diesem Grund greift Arendt auf Lex zusammen mit Nomos zurück.

Das Wort Lex leitet seine ursprüngliche Bedeutung von der Idee einer „dauernden Bin­dung“ (Arendt, 1965: 242) her; später erhält es die Bedeutung eines Vertrags. Die ur­sprüngliche Bedeutung von Lex als einer Bindung ist für Arendt wichtig, und sie verweist oft auf die Beziehungen, die durch Lex als Bezug (rapport) hergestellt werden. In ihrer „Einführung in die Politik“ verdeutlicht sie die rechtliche Bedeutung von Lex. Das römi­sche Lex macht die intersubjektiven Beziehungen zwischen Bürger/innen und Menschen zur Grundlage des Rechts. Durch Lex werden politische Beziehungen ausgeweitert, was sich gut dazu eignet, Recht im Kontext internationaler Angelegenheiten zu verstehen. Die Rolle von Lex in der internationalen Politik ist dem erdgebundenen Nomos entgegenge­setzt. Darüber hinaus passt das römische Lex in Begriffen des Vertrags zu Arendts Glau­ben an das Versprechen als einer Kraft, die das Handeln dergestalt bindet, dass Bürger/innen in der Lage sind, „mit der Zukunft so zu schalten und so über sie zu dispo­nieren, als wäre sie eine Gegenwart“ (Arendt, 1981: 241). Der Nachteil der römischen Lex ist ihre Grenzenlosigkeit (Arendt 1981, 241): Sie vervielfacht die Wirkungen des Han­delns, indem sie Verbindungen ungeachtet ihrer  Funktionsfähigkeit institutionalisiert.

Gesetz als Nomos andererseits bedingt eine Verbindung zwischen der Erde und der Po­litik; diese Interpretation greift Arendt bei Schmitt auf. Ihre etymologische Untersuchung des Begriffs Nomos, dem wir oben begegnet sind, „nómos, das griechische Wort für Ge­setz, kommt wohl von némein, teilen, besitzen, was erteilt worden ist, und wohnen“, weist eine solch schlagende Ähnlichkeit mit Schmitts Definition auf, dass sein Einfluss nicht übersehen werden kann. „Das griechische Substantivum Nomos kommt von dem griechischen Verbum NemeinNomos heißt also auf deutsch erstens: die Nahme. Nei­mein bedeutet zweitens: Teilen.“ (Schmitt, 1973: 491).

Wegen seiner Konkretheit als Territorium oder Rechtsprechung agiert der Nomos als Ge­genspieler zu der Grenzenlosigkeit des Lex. Arendt erklärt:

Was die Römer nicht kannten (...) waren genau diejenigen dem Handeln inhärenten Charakteristika, welche die Griechen dazu bestimmt hatten, es in den Nomos einzu­grenzen (...) Denn dem Handeln wohnt gerade, weil es seinem Wesen nach immer Bezüge und Bindungen herstellt, wohin immer es sich erstreckt eine Maßlosigkeit und, wie Aeschylos meinte, „Unersättlichkeit“ inne, die nur von außen durch einen Nomos, ein Gesetz im griechischen Sinne, in Schranken gehalten werden kann. (Arendt, 1993: 118).

Nomos antwortet auf „die Kalamitäten des Handelns“ auf eine Weise, bei der Verspre­chen und Vergeben nicht existieren können. Vergeben geschieht ex post facto, und Ver­sprechen hat das Problem von Lex, Übergröße und Empire. Arendt wendet sich deshalb dem Konzept des Nomos als einer Quelle der Dauerhaftigkeit zu, die sie sonst in ihrer Theorie nicht anbietet. Die Dauerhaftigkeit des Gesetzes als Nomos stärkt die Welt gegen die ansonsten flüchtige Natur der Politik: „Damit tritt der Nomos als der eigentümlichen und von den Griechen des tragischen Zeitalters so überdeutlich empfundenen Flüchtigkeit alles Sterblichen entgegen, der Flüchtigkeit des gesprochen Wortes wie den Sich-Verflüchtigen des vollendeten Tuns.“ (Arendt, 1993: 199).

Einer der wichtigsten Aspekte des Nomos ist seine räumliche Ausdehnung.18 Das räum­liche Konzept des Nomos stattet Arendt mit einer „topographical figure of speech“ (Ben­habib, 1992, 92) für den Erscheinungsraum aus. Er bietet auch die für die Freiheit not­wendige Begrenzung: „Bevor das Handeln selbst überhaupt beginnen konnte, musste ein begrenzter Raum fertig- und sichergestellt werden innerhalb dessen die Handelnden dann in Erscheinung treten könnten, der Raum de öffentlichen Bereichs der Polis, dessen innere Struktur das Gesetz war.“ (Arendt, 1981: 187f.). Politik braucht einen Nomos, weil ohne ihn der Raum des Handelns keine Struktur und keine Welt haben würde (Arendt, 1993: 120ff.)

Die Notwendigkeit eines solchen Raums hallt in Arendts politischen Schriften wieder. In Origins of Totalitarianism schreibt sie: „The fundamental deprivation of human rights is manifested first and above all in the deprivation of a place in the world which makes opinions significant and actions effective.’’ (Arendt, 1976: 296). Als eine topographische Metapher für den Erscheinungsraum wird Nomos zu einer Vorbedingung der Freiheit: Nomos ist der juristische Geltungsbereich, innerhalb dessen eine demokratisch konstitu­ierte Herrschaft entstehen kann. In Über die Revolution schreibt Arendt: (1965: 354), ‘‘Wo immer Freiheit jemals als eine greifbar weltliche Realität existiert hat, war sie räum­lich begrenzt’’.

Wie sieht nun das Gesetz als Nomos, als Struktur, aus, die das politische Handeln be­herbergt? Arendt formalisiert nie die Beziehung zwischen ihrer Phänomenologie des Rechts und ihrer historischen politischen Wissenschaft, aber wir können unsere eigenen Schlüsse ziehen. Zunächst ist der Nomos einer politischen Gemeinschaft eine territoriale Rechtsprechung, was die moderne Umschreibung der Stadtmauer ist. Aber mehr als bloß ein Territorium ist der Nomos auch in dauerhafte Institutionen gekleidet, die aus der Überschneidung von Herstellen und politischem Handeln hervorgehen. Politische Insti­tutionen sind auch eine Hinterlassenschaft der Bindungen zwischen Menschen, zu dauer­haften Institutionen erweitert, und so spielt auch Lex eine wichtige Rolle. Auf diese Weise sind Verfassungen, indem sie institutionelle Funktionen umreißen, das Produkt von bei­den, Nomos und Lex. Darüberhinaus sind Gesetze, die die Gemeinschaft primär durch Bürgerrechte zusammenhalten, das Produkt des Nomos. In Arendts Darstellung sind Po­litik und Herstellen untrennbar miteinander verbunden, wenn sie auch nicht dasselbe Unternehmen sind, und ein Nomos ist das Ergebnis von beiden. Auf diese Weise können Grenzen und Bürgerschaftspolitik konkret sein, aber normativ gesehen sollten sie auch das intersubjektive Ergebnis einer nicht souveränen Politik sein. Der Nomos sollte für zu­künftige Herausforderungen offen sein. In Arendts Konzeption sind Welt und Nomos ver­wurzelt und konkret, aber nicht statisch.

Damit der Nomos konkret, aber nicht statisch ist, muss er von der Lex ausbalanciert werden. Dieser Aspekt ist auf hilfreiche Weise von Roy Tsao veranschaulicht worden, der zeigt, dass sich in Arendts Werk die Spannung zwischen Poiesis und Praxis um das Pro­blem der Dauerhaftigkeit dreht. Wenn Arendt schreibt: „Die Organisation der Polis, deren physischer Bestand durch die Stadtmauer und deren geistiges Gesicht durch das Gesetz gegründet und festgelegt ist (nämlich um zu verhindern, dass diese einmalige Physiogno­mie sich in der Folge der Generationen bis zur Unkenntlichkeit verändert), ist ihrem We­sen nach ein organisiertes Andenken’’ (1981: 191), glaubt Tsao, dass sie ihre Sorge in dem: „Es sei denn, die nachfolgenden Generationen ändern ihre Identität“, zum Ausdruck bringt. Tsao (2002: 114). Sie ist darum besorgt, dass die ursprünglichen Schöpfer des Nomos ihn gegen die Änderungen schützen, die zweifellos bei künftigen Generationen eintreten wer­den. Wenn Tsao Recht hat, dann glaubt Arendt, dass der Nomos durch die Fähigkeit des Wandelns des lex ausbalanciert werden muss. Durch Lex können politische Akteure den verwurzelten Nomos reinterpretieren, kontextualisieren und verwandeln; sie können den Gründungsakt neu interpretieren.

Bei ihrer Beschäftigung mit zivilem Ungehorsam ist Verity Smith (2009) zu einer ähnli­chen Schlussfolgerung gelangt, das heißt, dass Arendt Anstöße zum Nachdenken sowohl über stabile Institutionen (wie Verfassungen) als auch über jene Handlungen anbietet, die solche Institutionen verändern können. Smith schlägt vor, dass Arendts Theorie des zivi­len Ungehorsams als eine Art von Politik angesehen werden könnte, als ein Typus von „agonistischem Konstitutionalismus“, der die Lücke zwischen ihrem Reden von Dauer­haftigkeit, Absicherungen und Begrenzungen und ihrem Beharren auf radikal nicht sou­veräner und unvorhersehbarer Politik überbrückt. Ähnlich können wir in Bezug auf diese Diskussion erkennen, dass der stabile Nomos, wenn er mit Lex verbunden wird, mit der nicht souveränen, dem Handeln innewohnenden Freiheit kompatibel ist. Aus diesem Grund bieten zusammengefasst Lex und Nomos eine Rechtstheorie, die für das Ausloten von Grenzen offen ist.19

Mit dem Begriff der Dauerhaftigkeit drückt Arendt die Vorstellung aus, dass politische Einheiten nicht nur in der Lage sein sollen, Freiheitsräume zu schaffen, sondern auch sol­che, die durch die Zeit hindurch existieren. (Lindahl, 2006: 884) Die in dem Nomos ver­körperten Institutionen, Geltungsbereiche und Strukturen bieten ein Fundament für die Kontinuität einer Gemeinschaft durch Generationen hindurch. So gesehen ist Arendts wirkliches Ziel, das sie mit dem räumlichen Konzept de Nomos verfolgt, die Errichtung einer zeitlichen Garantie der Freiheit. Mit diesem unglaublich schwer zu fassenden Kon­zept des Nomos sucht Arendt einen Weg, um eine Welt dauerhaft zu halten, in der der Po­litik ein stets dem Widerstreit ausgesetztes Repositorium des kulturellen Gedächtnisses zur Verfügung steht. Arendt folgend können wir argumentieren, dass ein Engagement für die Dauerhaftigkeit von Gemeinwesen auch ein Engagement für kulturelle Vielfalt und die Pluralität von Gemeinwesen in der Welt ist.

In diesem Konzept ist ein Nomos weder eine Form der Herrschaft noch uranfänglich, weil es das Ergebnis demokratischer Politik ist; es ist daher weder die Beute eines Erobe­rers noch die auf den Boden gründende Identität eines Volkes, wie es bei Schmitt der Fall ist. Für Arendt ist die intersubjektive Gesetzgebung des Lex immer mit dem Mo­ment der Errichtung der Welt verbunden und ein Nomos. So finden wir entgegen des all­gemeinen Verständnisses des Arendtschen Denkens, dass politische Freiheit nicht nur eine Folge des Handelns und seiner Bedingung, der Gebürtigkeit, ist. Sie ist auch das Pro­dukt des Herstellens und seiner Bedingung, der Weltlichkeit. Während Herstellen ohne Handeln zu Herrschaft im öffentlichen Raum führt, ist Handeln ohne Herstellens unge­bunden, flüchtig und weltlos.

Beide, Arendt und Schmitt, schreiben dem Nomos eine wichtige Rolle bei der Bewah­rung eines Raums für das Politische zu. Dennoch schließt Arendt aufgrund ihrer antitheti­schen Ansichten zur Gewalt ebenjene Gewalt aus ihrem Konzept der politischen Macht aus, während sie Schmitt mit seinem Freund-Feind-Kriterium begrüßt; die daraus folgen­den Konzepte des Nomos weichen stark voneinander ab. Während der Nomos in Arendts Theorie eine zeitliche Garantie der politischen Freiheit bietet, dient er bei Schmitt dem Zweck des Gleichgewichts der internationalen Ordnung.

Ein anderer Unterschied zwischen Arendt und Schmitt bringt uns zurück zu der von Arendt behaupteten Umkehrung von Teilung (divisio) und Aneignung (acquisitio) in Schmitts Definition des Nomos. Bei dieser Interpretation hat für Arendt bei einer Grün­dung das vertragliche Moment des Rechts Vorrang vor dem Moment der Eigentümer­schaft. Für dieses Vertauschen gibt es weitere Anhaltspunkte durch einen Eintrag in ih­rem Denktagebuch, den Arendt nicht lange nach ihrer Lektüre des Nomos der Erde nie­dergeschrieben hat. In ihm erklärt sie, dass die vertragliche Beziehung zwischen den Menschen der Sanktionierung des „Feldsteins“ vorhergeht und dass eine solche Sanktio­nierung Gesetze benötigt: „Alle Gesetze ursprünglich zwischen Menschen (ohne Gott) als Sanktionierung der Feldsteine, der Zäune. Wenn aus der Mauer ein Zaun geworden ist, bedarf es der Gesetze.“20 (Arendt, 2002: 338). In Arendts Darstellung des Ursprungs des Rechts, das heißt der Gründung, sehen wir deutlich ihre Parteinahme für Intersubjektivi­tät und Pluralität in Gestalt der „Gesetze zwischen Menschen“, die für die Errichtung poli­tischer Begrenzungen notwendig sind. Gesetze entstehen in Beziehung zum Grenzzaun, sie leiten nicht von ihm ihre Legitimität her. Das stimmt mit meiner Interpretation von Lex und Nomos überein, derzufolge Nomos als Produkt des Machens und intersubjektiver Politik anzusehen ist.21

Dennoch widmet sich Arendts Theorie nicht dem Problem, dass empirisch gesehen die Gründung oft einer Landnahme, Abspaltung oder einem Grenzkonflikt auf dem Fuße folgt. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass Arendt sich bewusst war, dass Gründung nicht nur die Folge eines Vertrags innerhalb eines Gemeinwesens ist, sondern auch von Ver­handlungen oder Konflikten mit Nachbarn. In den Marginalien überlegt sie: „Vielleicht beruht alles Recht auf einem urspr. Unrecht, gleichsam einem Sündenfall. Dann sollte er das sagen.’’ (Marginalien: 50) An anderer Stelle gesteht sie zu, dass „das Gesetz ... selbst etwas Gewaltsames hat, und zwar sowohl was seine Entstehung wie was sein Wesen an­geht.“ (Arendt, 1993: 112). Jedoch nahm Arendt die Gewalt, von der sie befürchtete, dass sie sich in dem Gründungsvorgang versteckt halten würde, nicht in ihr normatives Theoretisieren auf. Sie sah dies eher als eine philosophische Falle an, in die Schmitt gegangen war. Wenn hier Arendts kurze Zugeständnisse nicht befriedigend sind, weil sie eine Frage stellt, die sie nicht beantworten kann, müssen wir uns woanders nach Unterstützung umsehen. Das könnte als eine Gelegenheit angesehen werden, Arendt mit der gegenwärtigen wissenschaftlichen Forschung ins Gespräch zu bringen, die sich mit der schwierigen Beziehung zwischen Völkern und territorialen Rechten befasst. (Zum Beispiel Espejo, 2015; Miller, 2012; Nine, 2008; Stilz, 2011; Ypi, 2012).

Unterwegs zu einer Arendtschen Geopolitik

Auf den Anfangsseiten von Der Nomos der Erde drückt Schmitt seine Hoffnung aus, dass es die Friedfertigen sein werden, die die Welt beerben und kontrollieren werden.22 Arendt antwortet bissig: „Wie sollten sie, wenn Recht auf Eroberung beruht?“ (Marginali­en: 20) Dieses Hin und Her fängt gut den Dialog zwischen den beiden ein. Schmitts Ein­bildung, eine Theorie der Suche nach Frieden zu haben, wird durch Arendts Kritik infrage gestellt. Ihrer Ansicht nach ist Schmitts Werk einschließlich seinem Angriff auf den ame­rikanischen Imperialismus in seinem Kern imperial; es ist eine Apologie der Eroberung und ein wahnhaftes Ammenmärchen über die „heroischen Zeiten“ des jus publicum Eu­ropaeum.

Auch wenn Arendt und Schmitt ihre Sorge um die comity of nations“ (Arendt, 1976) teilen, weichen sie doch erheblich voneinander ab, wenn es um den Begriff des Nomos geht. Im Gegensatz zu jenen, die Ähnlichkeiten in den Schriften von Arendt und Schmitt entdeckt haben, habe ich Arendts eigene Worte benutzt, um ihre Ablehnung seiner Theo­rien zu belegen. Ich habe auch zu zeigen versucht, dass uns Arendts veröffentlichte Werke Material an die Hand geben, um einen alternativen Nomos zu schaffen, aus dem wir unse­re eigenen Schlüsse ziehen können.

Arendts Auffassungen von Nomos und Lex, so habe ich vorgeschlagen, schaffen die Grundlage für einen gedanklichen Entwurf von Weltordnung und Recht, in dem rechtli­che Grenzen und juristische Bereiche durch intersubjektive demokratische Prozesse des politischen Handelns (lex) und des Weltbildens (nomos) zustande kommen. Eine derarti­ge Sicht des Arendtschen Nomos weicht von der Schmitts in dreierlei Hinsicht ab:

1.    In Arendts Verständnis von Nomos entspringt das Recht nicht dem Boden. Recht entspringt den Menschen, intersubjektiven Prozessen des Handelns und Herstellens. Die Menschen haben trotz ihrer Verwurzelung keine uranfängliche Beziehung zum Boden.

2.   Durch die Umkehrung der Reihenfolge von Landnahme und Landteilung bei der Definition des Nomos weist Arendt Schmitts Zustimmung zur Eroberung zugunsten des Vertrags zurück, der in dem Begriff des Lex verkörpert ist.

3.   Arendts Begriff des Nomos stelle eine Rückgewinnung der Vorstellung dar, dass Dauerhaftigkeit eine Vorbedingung für Politik ist. So wird Schmitts Schwerpunkt der Ge­walt territorialer Politik durch ein normatives Engagement für Freiheit und Pluralität er­setzt.

Arendt folgend sollte das wichtigste am Recht die Dauerhaftigkeit politischer Gemein­wesen im Verlauf der Zeit sein. Im Kontext internationalen Rechts richtet das unsere Auf­merksamkeit auf kleinere Rechtsgebiete: Regionen und Örtlichkeiten. Eine Arendtsche Geopolitik würde sich um die Verwurzelung internationalen Rechts und von Ermächti­gung, Dauerhaftigkeit und Öffnung des politischen Raums an der Peripherie kümmern. Darüberhinaus ist Lex ein Mittel zur Errichtung einer Gemeinschaft der Nationen, wenn wir Diplomatie hinsichtlich politischer Probleme ernst nehmen wollen, die von der Ver­treibung von Staatenlosen bis zu Umweltkrisen reichen, die ganze Territorien herausfor­dern. Gegen Schmitt würde Arendts Kritik des amerikanischen „Empire“ nicht gegen Uni­polarität als solche gerichtet, sondern gegen den amerikanischen Widerwillen, sich in Lex mit der Weltgemeinschaft zu engagieren, und gegen seine sorglose Außenpolitik, die die Dauerhaftigkeit von Gemeinwesen und verschiedenen Nomoi gefährdet hat. Darüberhin­aus sollten Arendts Randbemerkungen über Gerechtigkeit mit ihren Schriften gekoppelt werden, die sich mit den Bedingungen der menschlichen Pluralität, Würde und Politik in der postwestfälischen Welt befassen. So wird mit der Arendtschen Geopolitik unsere Auf­merksamkeit auf die rechtlichen Beziehungen zwischen den Menschen in der Welt ge­lenkt und unser Blick auf die Staatenlosen, die Flüchtlinge und jene, die der schützenden Mauern eines Nomos beraubt sind.

 

Dank an Seyla Benhabib, Paulina Ochoa und Mihaela Czobor-Lupp für ihre sorgfältigen Kommentare zu früheren Entwürfen dieses Textes. Für den Zugang zu den Marginalien in Arendts Der Nomos der Erde danke ich jenen, die die hochwerten Scans bei der Hannah Arendt Collection am Bard College erstellt haben, sowie Roger Berkowitz und anderen Mitarbeiter/innen am The Hannah Arendt Center for Politics and Humanities am Bard College, NY.

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Taminiaux Jacques (2000): „Athens and Rome.“ In: Dana Villa (Hg.): The Cambridge Companion to Hannah Arendt. Cambridge: Cambridge University Press, S.165–177.

Teschke, Benno G: (2011): „Decisions and indecisions: Political and intellectual receptions of Carl Schmitt.“ In: New Left Review 2(67), S. 61–95.

Tsao, Roy (2002): „Arendt against Athens: Rereading the human condition.“ In: Political Theory 30(1), S. 97–123.

Villa, Dana (1995): Arendt and Heidegger: The Fate of the Political. Princeton: Princeton University Press.

Volk, Christian (2010): „From Nomos to Lex: Hannah Arendt on law, politics, and order.“ In: Leiden Journal of International Law 23(4), S. 759–779.

Wolin, Richard (1992): The Politics of Being: The Political Thought of Martin Heidegger. New York, NY: Columbia University Press.

Ypi, Lea (2012): „A permissive theory of territorial rights.“ In: European Journal of Philo­sophy 22(2) S. 288–312.

Zizek, Slavoj (1999): „Carl Schmitt in the age of post-politics.“ In: Chantal Mouffe (Hg.): The Challenge of Carl Schmitt. London: Verso, S. 18–37.

 

Aus dem Englischen von Wolfgang Heuer

1Die englischsprachige Fassung dieses Textes „Hannah Arendt reads Carl Schmitt’s The Nomos of the Earth: A dialogue on law and geopolitics from the margins“ erscheint in European Journal of Political Theory.

2Arendt las vermutlich Der Nomos der Erde 1952, denn es gibt zu dieser Zeit Einträge in ihr Denktagebuch, die direkt den Inhalt dieses Buches kommentieren. Die Marginalien sind zugänglich unter http://www.­bard.edu/arnddtcollection/. Für einen Überblick über die Marginalien in Arendts Bibliothek siehe Laube (2010).

3Benhabib (2012) und Koskenniemi (2004) kritisieren Schmitts Geopolitik wegen seines Autoritarismus. In diese Richtung schreibt Arendt (Marginalien auf Buch-Nachsatz), dass „Schmitt der einzige Schüler Hobbes“ sei.

4Teschke (2011: 63) fürchtet wie Schmitt, dass die Welt jenseits des jus publicum Europaeum „a world without a political exterior“ sei, und Benhabib (2012: 694) stimmt Schmitts Darstellung des Aufstieg des amerikani­schen Hegemon zu, der im globalem Rahmen Macht durch eine gefährliche „absent presence“ manifestiere.  

5Zu Existentialismus und Arendts ästhetischem Zugang zum Politischen siehe Kateb (1983).

6Über Arendts Dezisionismus siehe Jay (1985) und Wolin (1992). Arendts „Dezisionismus“ wurde von Kalyvas (2004) und Villa (1995) zurückgewiesen. Sluga (2008) vermittelt zwischen beiden Positionen.

7 .Vgl. zum Beispiel Arendt (1976: 267) mit Schmitt (2006:219).

8 Arendt (1976: vii) definiert den Imperialismus als „Expansion um der Expansion willen“ und unterscheidet ihn von Eroberung. Schmitt vermeidet es, den Begriff zu definieren. Ich verstehe Imperialismus als das Vor­dringen einer wirtschaftlichen oder politischen Macht in ein fremdes Territorium, vom Zentrum zur Periphe­rie.

9Sie diskutieren diese Angelegenheit ausführlich, als sie über den Prozess gegen Adolf Eichmann berichtet (Arendt / Jaspers, 1985). Während Jaspers begeistert die Idee eines internationalen Gerichtshofs für Verbre­chen gegen die Menschlichkeit vertrat, war Arendt unsicher.

10Sie schriebt: „Von Blut u. Boden den Boden behalten.“ (Marginalien auf Buch-Nachsatz) Siehe auch Margina­lien: 18, 146.

11Siehe zum Beispiel ‘‘Immer wieder: Ausschaltung der Menschen.’’ (Marginalien: 200).

12 Lange vor der späten Renaissance der Schmitt-Wissenschaft kritisierte Löwith (1935) Schmitts Inhaltslosig­keit oder „Okkasionalismus“.

13Vgl. Arendt (1981: 61) und Schmitt (1973: 491). Schmitts Einfluss auf Arendts Begriff des Nomos wird im nächsten Kapitel ausführlicher untersucht.

14Ihre weiterreichenden Kommentare befinden sich in Arendt 1993, 2007a, 2007b. Das Recht wird auch aus­führlich in ihrem Denktagebuch thematisiert (Arendt, 2002), hauptsächlich aber Nomos und Lex in Vita ac­tiva oder Vom tätigen Leben und in Über die Revolution.

15Ausnahmen sind Klabbers (2007), Lindahl (2006), Rosenmüller (2013), Taminiaux (2000) und Volk (2010).

16Arendt zitiert dort, wo sie Nomos diskutiert, Schmitt nicht, auch wenn sie es woanders tut. Siehe die verglei­chende Liste bei Sluga (2008: 95). Sie erwähnt Schmitt und benutzt ihn in ihrem Denktagebuch, vgl. Arendt 2002: 217-218, 243, 282, 338. Siehe auch ihre umfangreiche Analyse des Nomos in „Law and Power“, einem Vortrag von 1953. (Arendt 2007a) Dieser Text zeigt, wie sie Schmitts Neubelebung des Nomos benutzt; sie übernimmt die vorsokratische Bedeutung des Begriffs und widmet sich sowohl Pindars Idee des nomos basi­leus als auch Heraklits Feststellung, das „alle menschlichen Gesetze werden vom Einen, Göttlichen, ernährt“ (Fragment 114), beide im Detail von Schmitt behandelt. Warum zitiert Arendt nicht Schmitt oder erneuert ih­ren Vorwurf des Imperialismus gegen ihn? Es scheint, dass, abgesehen von ihrem Mangel an Sorgfalt beim Zitieren, Arendt ihr eigenes Unternehmen als für weit von dem Schmitts entfernt hielt. Zum Beispiel greift sie in „Law and Power“ auf das Konzept des Nomos zurück, um Montesquieus Republikanismus zu retten. Nie­mals benutzt sie Schmitts Der Nomos der Erde, um Geopolitik oder internationales Recht zu kommentieren.

17An anderer Stelle untersucht Arendt die Möglichkeit, dass es mehre Konzepte des Rechts gibt, wie Gebot und Beziehung, vgl. Arendt 2002: 657, 1963: 253f.

18In seinem Vergleich von Arendt und Schmitt ist Lindahl (2006) an der Räumlichkeit des Nomos interessiert und konzentriert sich besonders auf den Begriff der Begrenzung.  

19Meine Betonung der Anfechtung von Grenzen als impliziter Bestandteil von Arendts Nomos ist von Benha­bibs (2008) Darstellung der demokratischen Iterationen und jurisgenerativer Politik beeinflusst. Die Vorstel­lung, dass internationale Normen und Menschenrechtskonventionen, die richtig auf dem Gebiet der Lex ver­standen werden, auf eine Weise in demokratische Politik inkorporiert werden sollten, dass der vorherrschen­de Nomos, oder die Grenzen des Demos herausgefordert werden, ist eine Vorstellung, die Benhabib und Arendt miteinander ins Gespräch bringen.

20Hier gibt Arendt erneut Kants Ableitung des Eigentumsrechts in seiner „Metaphysik der Sitten“ wieder.

21Eine ausgezeichnete Darstellung der „horoi“ oder Grenzzieher im antiken Griechenland bietet Ober (1995). Ober zeigt, dass antike Grenzsteine nicht bloß physische Artefakte waren, sondern Objekte, denen nur in dem Kontext der intersubjektiven Prozesse, die sie entstehen ließen, ein Sinn zukam.  

22Schmitt (1991: 320) drückt eine ähnliche Haltung in einem der letzten seiner Einträge in seinen Nachkriegs­tagebüchern, Glossarium, aus: „Mit jedem neugeborenen Kind wird eine neue Welt geboren.“ Und auch hier fährt er fort, so wie seine Haltung gegenüber den Friedfertigen in einen Diskurs über Eroberung degeneriert: „Um Gottes Willen, dann ist ja jedes neugeborene Kind ein Aggressor!’’