Ausgabe 1, Band 8– April 2016
Editorial
Die Ausgabe „Recht und Gerechtigkeit“ widmet sich einer Thematik, die erst in jüngerer Zeit in der Arendt-Forschung berücksichtigt wurde. Recht und Gerechtigkeit schienen im Vergleich mit Arendts Gedanken zu den Themen Freiheit und Politik lange Zeit von geringerer Bedeutung zu sein.
Wie ergiebig Aspekte von Recht und Gerechtigkeit sind, zeigen die Beiträge von Anna Jurkevics, Gerd Hankel und Celso Lafer. Jurkevics hat in „ Hannah Arendt liest Carl Schmitts Der Nomos der Erde: Ein Dialog über Gesetz und Geopolitik anhand ihrer Marginalien“ Anstreichungen und Kommentare in Arendts Exemplar des Schmittschen Werkes ausgewertet. So rekonstruiert sie eine prägnante Kritik an Schmitts Geopolitik und macht auf die zentrale Rolle, die Arendt zufolge das Recht in der Politik spielen sollte, aufmerksam. Ihr Artikel erscheint hier erstmals in deutscher Sprache. Hankel diskutiert in „Die vieldeutige Antwort des Rechts in Zeiten der Gewalt“ die spannungsreiche Beziehung zwischen Recht und Moral nach dem Holocaust und angesichts der Herausforderungen eines humanitären Völkerrechts. Lafer erläutert in „Human Rights Challenges in the Contemporary World. Reflections on a Personal Journey of Thought and Action“ anhand seiner Erfahrungen als Rechtsprofessor und führender brasilianischer Politiker der Cardoso-Zeit die Bedeutung, die Arendts Stellungnahme zum Eichmann-Prozess und ihr Diktum des „Rechts, Rechte zu haben“ für die Verwirklichung der Menschenrechte in seinem Land hatten.
Dem folgen Beiträge von Federico Dal Bo, Francesca Raimondi und Tania Mancheno zum Thema Asyl und Flüchtlingsfrage. Dal Bo geht in „Between the City of Men and the City of God“ der biblischen Institution der „Cities of Refuge“ in einer Auseinandersetzung mit Levinas nach. Raimondi widmet sich in „Prekäre Politik. Hannah Arendt zur Flüchtlingsfrage“ der Kritik Arendts am souveränen Nationalstaat und ihrem Entwurf eines alternativen Konstitutionalismus sowie den Grundzügen einer Politik von outcasts, die nicht mehr länger durch institutionelle Hilfen abgesichert sind. Mancheno schließlich befasst sich in „Hannah Arendt on the ‚stateless’ condition“ mit Arendts Konzept der Staatenlosigkeit ausgehend von den Begriffen nomos und natality.
Andere wichtige Aspekte der Arendt-Forschung werden in den Beiträgen von Harald Bluhm, Hannes Bajohr und Kahraman Solmaz behandelt. Angesichts der bislang wenigen Untersuchungen zu Arendts Bezügen zu Plato geht Bluhm ihren Lesarten in „Arendts Plato – unter besonderer Berücksichtigung ihres Denktagebuches“ nach, die ebenso sehr von Heidegger beeinflusst sind, wie sie Kritik an ihm enthalten. Bajohr befasst sich in „Arendt-Korrekturen. Judith Shklars kritische Perspektive auf Hannah Arendt“ mit den grundsätzlichen Unterschieden beider Autorinnen. Er kann nachweisen, dass diese sich nicht, wie bislang eher üblich, auf den Gegensatz von Liberalismus und Republikanismus reduzieren lassen. Schließlich unterscheidet Solmaz in „Das Politische bei Arendt“ die verschiedenen Konnotationen von Politik bei Arendt hinsichtlich des vorpolitischen und des politischen Bereichs.
Bezüge zum Schwerpunktthema ergeben sich zusätzlich in der „Research Note“ von Alexander Bazelow und Ursula Ludz insofern, als u.a. Arendts Einfluss auf juristische Debatten in den USA behandelt wird. In der Hauptsache jedoch werden unter dem Titel „Hannah Arendt as Political Actor“ eine Reihe bisher wenig bekannter Fakten zusammengetragen, zu Arendts Engagement etwa in der Hilfsorganisation Spanish Refugee Aid, ihren Entscheidungen bei „anti-war actions“ der verschiedensten Art und ihrer grundsätzlichen Haltung, wenn immer es um den Kampf gegen totalitäre Tendenzen geht. Auf dieser Grundlage diskutieren Bazelow und Ludz Arendts Selbstverständnis als politisch Handelnde und versuchen eine Erklärung ihrer zum Teil widersprüchlichen Äußerungen.
Als „Documents“ zu „Recht und Gerechtigkeit“ veröffentlichen wir, versehen mit einer Kurzeinleitung und Annotierungen, erstmals Transkriptionen zweier handschriftlicher Stücke unter dem Titel „Civil Rights“ aus dem Nachlass von Hannah Arendt in der Library of Congress: eine Outline, datiert Emory University, 5/1/64, und Notizen ohne weitere genaue Angaben.