Ausgabe 1/2, Band 6 – November 2011
Waltraud Meints: Partei ergreifen im Interesse der Welt. Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts, Bielefeld: transcript-Verlag, 2011.
Politische Urteilskraft bei Arendt
Es gibt zwei Fragestellungen in Arendts Politischer Theorie, die immer wieder kontrovers diskutiert werden: ihre provokante Formulierung der Banalität des Bösen und ihr Versuch, Kants ästhetische Urteilskraft politisch zu lesen. Waltraud Meints hat sich nun mit ihrer Monographie „Partei ergreifen im Interesse der Welt. Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts“ in die zweite Debatte eingeschaltet mit einer These, die vor ihr noch niemand so deutlich ausgesprochen hat: dass Arendt nicht erst nach dem Buch über den Eichmann-Prozess begonnen hat, sich ausdrücklich mit Kants Urteilskraft zu beschäftigen, sondern bereits in ihrem 1951 erschienenen Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ im Sinne von Kants Urteilskraft argumentiert hat. Die reflektierende Urteilskraft wird als eine durchgängige theoretische Haltung Arendts herausgestellt und damit die von Ronald Beiner getroffene Zäsur zwischen dem handelnden Verstehen in der „Vita activa“ und dem urteilenden Zuschauer im Spätwerk „Vom Leben des Geistes“ zumindest verschoben.
Was Meints deutlich macht ist, dass Arendts Interpretationshaltung an ihren konkreten Texten genauer herausgearbeitet werden muss, was plausibel erscheint vor dem Horizont der experimentierenden Haltung Arendts und ihrer Weigerung, bewährte historische und philosophische Konzepte weiter anzuwenden. Denn bereits in den „Elementen und Ursprüngen“ hatte sich Arendt mit der herrschenden Geschichtsschreibung auseinander gesetzt und ihre kausale Methode für die Darstellung der Entstehung und Funktionsweise totaler Herrschaft verworfen. Sie hatte darüber hinaus den Anspruch formuliert, dass der mit dem Totalitarismus manifest gewordene Traditionsbruch alle politischen und philosophischen Kategorien auf den Prüfstand stellt. Dieses in ihrer Zeit durchaus einzigartige theoretische Vorhaben umschrieb sie mit der Metapher “Denken ohne Geländer“. Diese Metapher ist für Meints nur ein anderer Name für Kants reflektierende Urteilskraft, welche nach Arendt Kants Dichotomie der „zwei Erkenntnisstämme“, des Verstandes und der Erfahrung, bereits hinter sich gelassen hat und als ein Vermögen begriffen wird, das sich an einer konkreten und pluralistischen Welt der Phänomene orientiert und zugleich dem Allgemeinen nicht unterordnet, sondern zuordnet. Im Rahmen dieser neuen Beweglichkeit zwischen dem Besonderen und Allgemeinen wird keineswegs Tradition als solche verworfen, sondern gegen den Strich gelesen und neu bewertet.
Was Traditionsbruch heißt, zeigt sich exemplarisch an der Art und Weise, wie Arendt Zusammenhänge neu konstruiert und erklärt. Am Beispiel der „Elemente und Ursprünge“ und an Arendt Darstellung des Eichmann-Prozesses versucht Meints zu zeigen, dass Arendts Verständnis totaler Herrschaft als einer noch nie da gewesenen Herrschaftsform sowie ihre Analyse der Unangemessenheit, Eichmanns Person und Taten mit den herkömmlichen Mitteln der Psychologie und Rechtsprechung zu erfassen, ohne die Differenzierung zwischen reflektierender und bestimmender Urteilskraft nicht adäquat begriffen werden können. Damit ist eine weitere Möglichkeit eröffnet, mehr Klarheit über die Argumentationsweise Arendts zu gewinnen, die einer an traditionellen Maßstäben orientierten Kritik verschlossen bleiben muss. Allerdings wird durch das Bemühen von Meints, die reflektierende Urteilskraft als durchgängige Haltung Arendts zu qualifizieren, die Kontinuität in Arendts Entwicklung auch überbeansprucht. Dadurch gerät die Darstellung stellenweise zu einem apodiktischen Beweis für ein theoretischen Konzepts.
Die textnahe Haltung von Meints bewährt sich immer dann, wenn sie die offensichtlich voreilig konstruierten Zuordnungen Arendts durch einsichtige Differenzierungen auflöst, zum Beispiel die Behauptungen, Arendt habe die Polis und deren politisches Darstellungsprinzip des Agonalen verabsolutiert (Benhabib) oder sie sei einer durch die Trennung von Macht und Gewalt sowie die Überbetonung des kommunikativen gegenüber dem instrumentell-strategischen Aspekt der Macht einer Idealisierung erlegen (Habermas). Um diese Interpretationen zu entkräften, betont Meints das durch Benjamin inspirierte konstellative Denken Arendts. Der Bedeutungshorizont der einzelnen politischen Begriffe erschließt sich erst, wenn er in eine Konstellation zu anderen Begriffen gebracht wird. Meints zeigt das Sprechen, Urteilen und Handeln, das Verhältnis von Freiheit, Macht und Öffentlichkeit als komplexes Beziehungsgeflecht. Aber auch der einzelne Begriff stellt in sich bereits eine Konstellation dar: es gibt eine lebendige und eine materiale Seite der Macht bei Arendt. Die Eindeutigkeit der traditionellen Definition: Macht sei gleich Herrschaft, erweist sich in Arendts Denkraum nicht als eine klare Aussage über die Realität, sondern als einseitige Fixierung an eine historische Gegebenheit, die als unveränderbar und wesentlich deklariert wird.
Die These von Meints, dass man bei Arendt nicht von zwei Formen der Urteilskraft sprechen kann, sondern nur von einer, die auf den Handelnden und den Zuschauer zutrifft, bleibt in vieler Hinsicht nachdenkenswert. Allerdings müssen verschiedene Akzentuierungen berücksichtigt werden. Was an Reflexion möglich ist, ist eine Frage des Verhältnisses von Nähe und Distanz. Im Handeln zum Beispiel kann die Distanz zu dem Ereignis so weit verschwinden, dass eine tiefer gehende Reflexion nicht mehr möglich ist oder sogar eine aporetische Situation entsteht, nämlich dass der Handelnde – gegen bessere Einsicht – politische Verantwortung für das Geschehen übernehmen muss. Das bedeutet auch, dass die Auseinandersetzung mit Kant über die Zustimmung Arendts zu den einzelnen Begriffen der Urteilskraft wie dem sensus communis, der erweiterten Denkungsart, der Einbildungskraft, hinausgehen muss. Es wäre genauer aufzuschlüsseln, welche Erweiterungen aber auch Verengungen die Umarbeitung von ästhetischer in politische Urteilskraft zur Folge hat, denn die im ästhetischen Raum mögliche spielerische Dimension der Denk- und Vorstellungsfreiheit dürfte im politischen Raum nicht die gleiche Bedeutung haben. Das Miteinandersprechen nicht in der Distanz des Zuschauers sondern als Handelnder bleibt bei Arendt ein fragiles Projekt, das zeigt auch Meints, aber was hat das für Auswirkungen auf die reflektierende Urteilskraft? Was ist, wenn das Gespräch verweigert wird oder etwas Unvorhersehbares passiert? Arendt hat die aporetischen Dimensionen des Handelns immer betont, aber nicht nur wie Kant auf Möglichkeiten des Zuschauers verwiesen, der nachträglich durch seine Reflexion die Chance hat, sich auch mit den Unwägbarkeiten des Handelns zu versöhnen. Sie hat ebenso Versuche unternommen, den intersubjektiven Raum erweitert zu denken, und diese Modalitäten des handelnden Verstehens gehen über Kant hinaus.
Es ist das Verdienst der Arbeit von Meints, über den Zusammenhang von Arendts „Denken ohne Geländer“ mit Kants reflektierender Urteilskraft der neuen konzeptionellen Offenheit Arendts eine präzisere Gestalt zu geben, die nicht ein neues theoretisches Zentrum begründen soll, das mit Begriffen wie „Erfahrungsplatonismus“ (Hauke Brunkhorst) ad acta gelegt werden kann, sondern zu weiterem Nachdenken motiviert. In diesem Sinne zitiert Meints aus einem Brief Arendts an Karl Jaspers: „Habe viel gelernt. Bin vor allem über einiges Methodisches klar geworden, was Du doch an mir immer so vermisst. Darüber müssen wir sprechen. An Hand der ‚Kritik der Urteilskraft’.“
Ingeborg Nordmann