Ausgabe 1, Band 7 – November 2013
Demokratie? Eine Debatte.
Mit Beiträgen von G. Agamben, A. Badiou, D. Bensaïd, W. Brown, J.-L.
Nancy, J. Rancière, K. Ross und S. Žižek. Suhrkamp Verlag 2012 (Martin
Fries)
Gibt
es zum Thema ‚Demokratie’ noch etwas Neues zu sagen? Sind nicht bereits
Begriffsgeschichte, Verwendungsweisen und gesellschaftliche Bedeutung
hinreichend ausgelotet? Éric Hazan, Mitverleger der La fabrique éditions in
Frankreich1La fabrique éditions verlegt u.a. Alain Badiou, Daniel
Bensaïd und Jaques Rancière, sowie außer ausgewählten und kommentierten
Texten von Fourier, Blanqui, Marx/Engels, Lenin, Gramsci und Mao auch
die vor einiger Zeit bis in die deutschen Feuilletons hinein breit und
kontrovers diskutierte Schrift L’insurrection qui vient (Der Kommende
Aufstand) des Comité Invisible und das in der Tradition des
Situationismus stehende Autorenkollektiv Tiqqun. Neben Büchern zur
Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zu Literatur, Politik und vor
allem Philosophie liegt ein weiterer Schwerpunkt des nicht nur im guten
Sinne radikal-linken Verlags in der Herausgabe israelkritischer
Schriften. www.lafabrique.fr, sieht das anders. Dazu ließ er sich von
der Zeitschrift révolution surrealiste inspirieren,
die in den zwanziger Jahren Surrealisten Themen vorlegte, die bereits
erschöpfend behandelt schienen. Durch die neue Behandlung aus
verschiedenen surrealistischen Perspektiven entstanden Texte, die nach
Hazan „noch heute verblüffen“ (S.7). Eben solche Blickwinkel, abseits
vom „üblichen Diskurs“ (ebd.) wollte er zur Frage der Demokratie
versammeln. Die acht gefragten Autor/innen, sollten auf die Frage
antworten: „Hat es für Sie einen Sinn, sich als ‚Demokraten’ zu
bezeichnen? Falls nicht, warum? Und falls ja, gemäß welchem Verständnis
des Begriffs?“ (S. 7)
Die Antworten kommen
von linken Intellektuellen, deren Denken sowohl vom Marxismus als auch
vom Poststrukturalismus beeinflusst ist. Die meisten von ihnen eint,
dass sie den (vermeintlichen) ökonomischen Determinismus des Marxismus
zurückweisen und dagegen das Politische als eigenständige Sphäre des
Konflikts und des öffentlichen Streits betonen. Entgegen dem
Poststrukturalismus halten sie jedoch an der Möglichkeit eines
emanzipatorischen politischen Projektes fest. Die entsprechenden
Debatten wurden in den letzten Jahren auch in Deutschland vermehrt
rezipiert2In den letzten Jahren lässt sich eine wahre Publikationswelle
zu diesen Theorieströmungen feststellen. Vgl. z.B. Bedorf/Röttgers 2010,
Bröckling/Feustel 2009, Flügel/Heil/Hetzel 2004, Hebekus/Völker 2012,
Heil/Hetzel 2006, Marchart 2010) so dass eine Übersetzung des
Sammelbandes ins Deutsche nur folgerichtig erscheint. Dies auch deshalb,
weil er einen sehr guten ersten Einblick in eine der zentralen
Problemstellungen dieser Debatten ermöglicht. Im originalen Titel klingt
dabei noch das problematische Verhältnis von Demokratie und Staat mit
an: Démocratie, dans quel état?, ebenso in der englischen Übersetzung von 2011: Democracy, in what state?.
Dieses Wortspiel zwischen der Frage nach dem Zustand, in dem Demokratie
sich heute befindet, und danach, in welchem Staat oder welcher Art
Staat es sie eigentlich gibt oder geben kann oder ob es gar eine Demokratie gegen den Staat (Abensour 2010) geben müsste, geht in der deutschen Übersetzung verloren.
Die
Antworten auf die vorgelegte Frage fallen heterogen aus. Ich möchte
daher unter Absehung der vielfältigen anderen Aspekte, die in den Texten
zur Sprache kommen, einen Problembereich herausgreifen, der die meisten
Beiträge durchzieht: Das Problem der diskursiven Verknüpfung von
Kapitalismus und Demokratie. Eng damit verbunden ist die Frage nach
antidemokratischen Tendenzen des kapitalistischen Systems und seiner
Eliten. In diesem Spannungsverhältnis muss Intellektuellen, die sich
einem - von den beitragenden Autor/innen durchaus jeweils
unterschiedlich gedachten - emanzipatorischen Projekt verschrieben
haben,„Demokratie“ zum begrifflichen Problem werden.
‚Demokratie’
ist zum Prototyp des leeren Signifikanten im politischen Diskurs
geworden, erklären Wendy Brown und Jean-Luc Nancy in ihren Beiträgen.
Diese Diagnose, die auch bei Alain Badiou, Daniel Bensaïd, Kristin Ross
und Slavoj Žižek in verschiedener Gewichtung anklingt, ließe sich wie
folgt charakterisieren: Obwohl die Bedeutung des Signifikanten
„Demokratie“ so vielfältig und unbestimmt ist, dass keinerlei Einigkeit
herrscht, was er denn bezeichnet, organisiert er den politischen
Diskurs. Er markiert den Ein- und Ausschluss in den Raum des Sagbaren.
Wer sich ernsthaft gegen Demokratie stellt, läuft Gefahr, blankes
Unverständnis zu ernten oder unter Totalitarismusverdacht zu geraten.
Gleichzeitig steht ‚Demokratie’ fast synonym für die bürgerlich-liberale
parlamentarische Republik, die mit einer kapitalistischen
Produktionsweise einhergeht. Dabei wohnt genau dieser Ordnung eine
Tendenz zur Schwächung ihrer demokratischen zugunsten ihrer liberalen
und elitären Elemente inne, so dass die Rede von der „Postdemokratie“
(Crouch 2008) zumindest auf den ersten Blick plausibel erscheint. Der
Sieg des Kapitalismus über den realexistierenden Sozialismus wurde
dennoch zum Sieg der Demokratie und nicht etwa
des Liberalismus über den Kommunismus erklärt. Daniel Bensaïds Artikel
weist darauf hin, wie der Westen sich dadurch mit dem Begriff
‚Demokratie’ restlos identifizieren und jede Mehrdeutigkeit aus ihm
ausschließen konnte, dass Kommunismus gleich unter seiner - in den
meisten historischen Hinsichten falschen3Falsch zumindest, wenn man den
Totalitarismusbegriff Hannah Arendts zugrundelegt, für die von den
sozialistischen Regimen, die es bis dahin gab, nur der Stalinismus die
spezifischen Merkmale totaler Herrschaft aufwies. Vgl. Arendt 2003,
647ff. - Abstraktion als Totalitarismus gefasst wurde und bis heute
wird. Alain Badiou ist deshalb der Auffassung, dass sich der Begriff der
Demokratie so sehr mit dem Begriff der kapitalistischen
Produktionsweise und der repräsentativen Wählerdemokratie verzahnt hat,
dass er besser preiszugeben wäre. Nach Badiou haben wir „nur dann die
Chance [...], echte Demokraten zu bleiben“, wenn wir in einem neuen
Sinne – den er ausgerechnet Platon entnimmt – „wieder Kommunisten
werden“. Kristin Ross diskutiert in ihrem Beitrag die Frage, wie es
überhaupt zu dieser Verzahnung kommen konnte: „Es fertigzubringen, daß
der Markt für eine offensichtliche Bedingung der Demokratie gehalten
wird und die Demokratie für ein System, das unerbittlich nach dem Markt
ruft, ist eine beachtliche Leistung.“ Warum, fragt sie, hat sich die
letztlich genuin demokratische Bewegung der Pariser Kommunardinnen und
Kommunarden selbst nicht als demokratisch bezeichnet? Wie konnte dieser
Ausdruck so besetzt werden, dass er für die Regierung der Wenigen
steht?4Vgl. auch Rancière 2012, S. 66: „Heute mag die ‚repräsentative
Demokratie’ wie ein Pleonasmus wirken. Aber zuerst war sie ein
Oxymoron.“ Brown bringt gegen diese Auffassung einen erweiterten
Begriff von Demokratie in Stellung: „Es gibt [...] kein zwingendes
Argument dafür, daß Demokratie unbedingt mit Repräsentation,
Verfassungen, Deliberation, Partizipation, freien Märkten,
Universalität oder sogar Gleichheit einhergehen muß. Der Begriff
beinhaltet den einfachen und rein politischen Anspruch, daß ein Volk
sich selbst regiert und daß das Ganze, nicht nur der eine oder andere
Teil, politisch souverän ist.“ Doch genau die Souveränität des Ganzen
sieht sie heute bedroht. Gerade im globalisierten Kapitalismus, dessen
Funktionsweisen, Effekte und Prozesse der demokratischen Entscheidung
einerseits aufgrund der privatwirtschaftlichen Organisation entzogen
bleibt, andererseits die Bedingungen des politischen Handelns
strukturiert, sieht sie eine Tendenz der Entdemokratisierung. Gebündelt
würden diese Prozesse im neoliberalen Diskurs, der Politik nach
Maßstäben der Betriebsführung beschreibt, also nach Effizienz,
Rentabilität, Kosten-Nutzen-Kalkül und Output-Legitimität, einem
Diskurs, der die politische Frage danach, wie wir eigentlich zusammen
leben wollen, gar nicht mehr möglich macht.
Giorgio
Agamben weist im Versuch, das Problem auf einer tiefer liegenden Ebene
aufzugreifen, darauf hin, dass dem Diskurs um die Demokratie eine
Doppeldeutigkeit innewohnt, weil das Wort sowohl eine Verfassungsform
wie eine Regierungstechnik bezeichne. In dieser Zweideutigkeit der
Demokratie läge die Verschränkung von politisch-juridischer und
ökonomisch-gouvernementaler Rationalität begründet, die es zu verstehen
gelte. Bensaïd, Rancière und Ross versuchen dagegen zu zeigen, dass
sich Demokratie „weder auf eine Regierungsform noch auf eine
Gesellschaftsform beschränken läßt“. Vielmehr sei Demokratie als
Prinzip der Gleichheit zu fassen, das die bestehende Ordnung immer
wieder infrage stellt. Demokratie wäre demnach als Prozess, als
ständiger neuer Einbruch der Gleichheit in ein System der offenen oder
versteckten Hierarchien und Privilegien zu verstehen. Sie sehen in
Demokratie ein „Synonym für die Spezifität der Politik selbst“, die
darin bestehe, dass Politik wesentlich der Streit unter Gleichen um die
Einrichtung des Gemeinwesens sei. Mithin wäre genau die beständige
Infragestellung der hierarchischen Ordnung die Ausstellung der dieser
zugrundeliegenden ursprünglichen Gleichheit innerhalb des demos.5Leider
weist nur Brown daraufhin, dass dieser Gleichheit ein weiteres
„demokratisches Paradox“ (S. 63) innewohnt: Nämlich die Ungleichheit,
die sich seit Beginn der Demokratie an Geschlecht und Herkunft
festmacht, das Paradox, dass sich die demokratische Gleichheit auf dem
Boden einer Ungleichheit erhoben hat.
Dies
verweist auf ein grundlegendes Problem radikaler Demokratie: Die Frage
nach dem „demokratischen Exzess“, dem Terror der von ihrer Unterdrückung
befreiten Massen. Während Rancière und Ross die Figur des
demokratischen Exzesses vor allem als ideologische Begründung für den
Widerspruch zwischen demokratischer Legitimierung und faktischer
Elitenherrschaft kritisieren (die Elite rechtfertigt ihre Herrschaft
damit, dass sie den Massen eine Gefährlichkeit zuschreibt, die als Angst
um ihre Privilegien zu verstehen wäre), halten Bensaïd und Brown
gewalttätige Massenaktionen durchaus für eine ernstzunehmende Gefahr.
Sie machen sich daher auf die Suche nach neuen demokratischen
Institutionen, die eine größtmögliche Partizipation ermöglichen und
gleichzeitig dem Exzess vorbeugen. Žižek wiederum verteidigt den
demokratischen Terror als „jenseits von Gut und Böse“, als etwas, bei
dem wir kein Recht haben, es zu verurteilen, weil es Reaktion auf Jahre
und Jahrhunderte der Unterdrückung sei. Es ließe sich überlegen, ob er
damit im Widerspruch zu Rancière und Ross steht – oder ob er nur
ausspricht, was in ihrer Konzeption von Demokratie als beständiger
Einbruch in die Ordnung bereits angelegt ist.
Literatur
Abensour, Miguel (2012): Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellische Moment, Berlin
Agamben, Giorgio (2002): Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main
Agamben, Giorgio / Badiou, Alain / Bensaïd, Daniel u.a. (2009), Démocracie, dans quelle état? Paris
-(2011): Democracy, in what state? New York
-(2012): Demokratie? Eine Debatte, Frankfurt am Main
Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München
Bedorf, Thomas / Röttgers, Kurt (2010) (Hg.): Das Politische und die Politik, Frankfurt am Main
Bröckling, Ulrich / Feustel, Robert (2010) (Hg.): Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen, Bielefeld
Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Frankfurt am Main
Flügel,
Oliver / Heil, Reinhard / Hetzel, Andreas (2004) (Hg.): Die Rückkehr
des Politischen – Demokratietheorien heute, Darmstadt
Hebekus, Uwe / Völker, Jan (2012) (Hg.): Neue Philosophien des Politischen zur Einführung, Hamburg
Heil, Reinhard / Hetzel, Andreas (2006) (Hg.): Die unendliche Aufgabe. Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie, Bielefeld
Marchart, Oliver (2010): Die politische Differenz, Berlin.
Rancière, Jaques (2012): Der Hass der Demokratie, Berlin
Anmerkungen