Ausgabe 1/2, Band 6 – November 2011
Hannah Arendt und die Aporien der Menschenrechte
Anna Schulze
Diplomarbeit, geschrieben am Otto-Suhr-Institut für politische Wissenschaft, Freie Universität Berlin 2010
Es ist wohlbekannt, dass Hannah Arendt der Idee unveräußerlicher Menschenrechte skeptisch gegenüberstand. In der Literatur zu Arendts Werk hat ihre Menschenrechtskritik viel Beachtung gefunden, ihr widmen sich eine ganze Reihe von Monographien und Aufsätzen. Miteinander gemein haben diese, dass sie Arendts Sensibilisierung für dieses Thema in die Zeit ihrer Erfahrungen in Nazi-Deutschland sowie der anschließenden Beobachtungen aus dem Exil datieren. Tatsächlich räumt Arendt selbst in einem Interview ein, sie wäre bis zur Machtergreifung der Nazis gänzlich unpolitisch gewesen.
Für diese Sichtweise spricht, dass Arendt ihre Menschenrechtskritik insbesondere in ihrer Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951 bzw. 1955) sowie in ihrem Aufsatz „Es gibt nur ein einzigen Menschenrecht“ (1949, Wiederabdruck in Hannah Arendt.net 5/2009, „Documents“), entfaltet. Beide Schriften sind nach Arendts Konfrontation mit den Schrecken des Holocausts erschienen.
Gemeinhin wird ihre Skepsis gegenüber einem Katalog unveräußerlicher Rechte durch das empirische Faktum des Versagens der Menschenrechte während des Zeit des Holocausts begründet und damit eher auf eine pragmatische Einschätzung zur politischen Durchsetzbarkeit überstaatlich definierter Menschenrechte denn auf eine philosophische Position zurückgeführt. Im Rahmen meiner Diplomarbeit argumentiere ich jedoch, dass die Lesart der arendtschen Menschenrechtskritik als historische Analyse zu kurz greift. Der Vorwurf der Unbrauchbarkeit von Menschenrechten ist vielmehr eingebettet in Arendts Kritik an der philosophischen Tradition im Anschluss an Plato und trägt die Züge ihrer Auseinandersetzung mit der Scholastik des Aurelius Augustinus und dem Frühwerk Martin Heideggers, welche schon vor ihrem Lebensabschnitt im Dritten Reich und im Exil stattfanden. In ihrer Menschenrechtskritik entfaltet sich ein epistemologischer Ansatz, welcher sich bereits in Arendts Frühwerk abzeichnet und ohne dessen Einbeziehung sich Arendts Ablehnung philosophisch begründeter Menschenrechte nicht angemessen in ihr Gesamtwerk einordnen lässt. Die vorliegende Arbeit zieht folglich Arendts Augustinus-Dissertation sowie Heideggers Sein und Zeit heran, um das philosophische Begründungsgerüst der arendtschen Menschenrechtskritik herauszuarbeiten. Und es wird nachgezeichnet, wie ihre theoretischen Überlegungen in die Beurteilung historischer Menschrechtsverletzungen im großen Maßstab – dem Holocaust und der ihm vorgelagerten Problematik der Staatenlosigkeit – einmünden.
Als zentrales Element ihrer Menschenrechtskritik wird ein von Arendt immer wieder aufgegriffenes erkenntnistheoretisches Dilemma der Philosophie und ihres Werkzeugs, der Sprache, herausgestellt: die Unmöglichkeit, das überzeugend zu definieren, was jeden Menschen einzigartig und damit schützenswert macht – sein Person-Sein. Arendts Menschenrechtskritik liegt die epistemologische Annahme zugrunde, dass in der philosophischen Betrachtungsweise der Welt der Mensch nur als entindividualisiertes Gattungswesen erscheinen kann, welches seine ihm je eigene Würde, sein Person-Sein, nicht eindringlich zu vermitteln vermag und damit vor den Übergriffen anderer bestenfalls noch durch Rechtsnormen, jedoch nicht mehr durch zwischenmenschlichen Respekt geschützt ist. Diese Aporie der Menschenrechte, ihren letzten Geltungsgrund nicht sprachlich-philosophisch fassen zu können, lässt sie in kritischen Situationen als moralisches Programm versagen. Schlimmer noch, ein rein philosophisch-abstrakter Menschenrechtsdiskurs hat als Ausgangspunkt ein entpersonalisiertes Menschenbild, an das sich, mangels intuitiver Erfassbarkeit der Würde des Einzelnen, auch menschenverachtende Theorien anschließen lassen.
Arendt meint eine philosophische Denktradition ausmachen zu können, welche die alltäglichen Angelegenheiten der von Menschen geteilten Welt immer schon zugunsten der einsamen Kontemplation des Denkenden abgelehnt hat. In der Isolation von aller weltlichen Geschäftigkeit glaubten die Philosophen das zu finden, was bei Platon die Ideen, bei Augustinus Gott und bei Heidegger das Sein ist, also die von aller innerweltlichen Verzerrung gereinigten ewigen Wahrheiten. Was der Philosophie auf diesem Wege verloren ging, so Arendt, ist das Wissen darum, dass sich im menschlichen Miteinander eine ganz eigene Wirklichkeit konstituiert, welche in der distanzierten Betrachtungsweise der Philosophie gar nicht erfasst werden kann. Um das Personsein eines Menschen zu erfahren, muss man in der gemeinsamen Welt des Alltäglichen mit ihm umgehen, nur dann tritt seine Einzigartigkeit hervor, welche sich nicht in der Kombination bestimmter – auch intellektuell fassbarer – Eigenschaften erschöpft, sondern unaussprechbar ist und sich nur im Zwischenmenschlichen mitteilt. Und eben diese vom Gegenüber erkannte Einzigartigkeit bildet die Grundlage für den Schutz des Einzelnen vor den Übergriffen anderer. So kann eine jede Menschenrechts-Theorie zwar einen Katalog von Normen aufstellen, doch die eigentliche Achtung jedes einzelnen Menschen kann sie damit nicht erwirken.
Arendt beschreibt in ihrer Dissertation die Unfähigkeit des weltentfremdeten Gläubigen, seinen Nächsten unmittelbar anzunehmen und zu lieben. Der einem zukünftigen Gottesreich zugewandte Gläubige erlebt die Welt als unbeteiligter Beobachter und verliert auf diese Weise das Gefühl für den individuellen Wert jedes anderen Menschen. Der Andere erhält für ihn nur durch seine Stellung in der göttlichen Ordnung noch seinen Wert, dass heißt als Exemplar der Gattung Mensch, welchem die göttliche Erlösung widerfahren kann. Das Verhältnis der Menschen zueinander ist in der caritas, der Liebe zu Gott, damit zur Gänze versachlicht und, wie Arendt konstatiert, »[e]ine ursprüngliche Beziehung zum Nächsten und zur Welt ist damit […] ausgeschaltet«. Die Hinwendung zum Nächsten besteht folglich nicht in der Form von persönlichen Beziehungen wie Freundschaft oder Feindschaft, sondern in der Ausübung einer unpersönlichen Güte, zu der sich der Gläubige in seiner Frömmigkeit verpflichtet fühlt. In ihr ist der Andere zum stummen Adressaten einer von seiner Person gänzlich losgelösten Handlungsmoral geworden, die nur durch die religiöse Selbstbindung der Gläubigen Bestand hat.
Schon in ihrer Dissertation wählt Arendt für die Gegenüberstellung der beiden Modi menschlichen Umgang miteinander die Begriffe „Welt“ und „Wüste“. Die „Welt“ ist das persönliche menschliche Miteinander, das Netz an individuellen Beziehungen, welches sich zwischen einzelnen Personen aufspannt. Die „Wüste“ ist ein Ort, an welchem sich die Menschen nur noch als Funktionen einer höheren Ordnung, als Gattungswesen Mensch, als Christ, oder, wie in Arendts späteren Analysen zum Holocaust, als Arier und Jude begegnen. Dass eine solche vergeistigte Form des Miteinanders nicht nur die Erde zu einem unwirtlichen Aufenthaltsort macht, sondern auch gefährlich instabil ist, erkennt Arendt angesichts des Versagens der Menschenrechte vor der sozialdarwinistischen Ideologie der Nationalsozialisten.
Arendts Dissertation lässt sich als eine implizite, vielleicht unbewusste Auseinandersetzung mit den Lehren ihres ehemaligen Lehrers und Geliebten Martin Heidegger lesen, welcher in seinem Frühwerk ebenfalls eine Dipolarität menschlicher Seinsmodi annimmt, und das Heraustreten aus dem Miteinander der Welt als Voraussetzung von Erkenntnis ansieht. Heidegger entwickelt in Sein und Zeit eine Dichotomie zwischen der Sphäre menschlichen Zusammenlebens, pejorativ bezeichnet als das „Man“, und der Isolation des Denkenden. Ebenso wie Augustinus favorisiert Heidegger den Modus der Weltabgewandtheit, da nur er es ermögliche, das „Eigentliche“ zu erkennen. Er fordert den Rückzug des Philosophen aus dem alltäglichen Umgang, das Betrachten des Menschen aus der Distanz. So wird das Nachdenken über den Menschen ein „In-die-Nähe-Kommen-zum-Fernen“ also eine Hinwendung zum Nächsten aus einer Position der Weltabgewandtheit, wie sie sich auch in Augustinus caritas vollzieht.
Der Philosoph lässt sich die Welt zur Wüste werden, um unbeirrt von persönlicher Verstricktheit in die Gegenwart auf den wahren Kern allen Seins blicken zu können. Arendt lehnt einen solchen philosophischen Standpunkt ab: „Why should we make a desert out of this world?“, schreibt sie in ihrer späteren Überarbeitung der Augustinus-Dissertation. Im Abgleich ihrer Dissertation mit den Theorien ihres philosophischen Lehrers wird deutlich, wie früh Arendt schon die Welt-bejahende Position bezieht, die ihr späteres Werk entscheidend prägen wird. Arendt geht davon aus, dass sich im gemeinsamen Handeln der Menschen im alltäglichen Miteinander, eine Einzigartigkeit eines jeden Menschen offenbart und erfahrbar wird, welche sich mit den sprachlich-logischen Werkzeugen abstrakter Philosophie gar nicht fassen lässt. Sie verschwindet, sobald sie in das begriffliche Schema abstrakter Theoriegebäude übersetzt werden soll. Das Person-Sein jedes Einzelnen entzieht sich so konsequent denjenigen moralischen Theorien, welche es als Prämisse voraussetzen. Sie verlieren ihre letztendlich intuitive Überzeugungskraft, wenn sich die Menschen nicht mehr im politischen Raum gegenseitig als Einzigartige erfahren. In der Dissertation Arendts scheinen damit schon Hinweise auf die totalitären Tendenzen in Heideggers Sein und Zeit angelegt zu sein.
Eine explizite Anbindung ihrer Menschenrechtskritik an diese Philosophiekritik findet bei Arendt nicht statt. In meiner Arbeit versuche ich den systematischen Übergang zwischen beiden Themenfeldern nachzuvollziehen. Dies wird dadurch erleichtert, dass Arendt das Vokabular, welches sie sich in ihrer Dissertation erarbeitet hat, auch auf die Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten anwendet. Arendt beschreibt die zunehmende Schutzlosigkeit der Menschen in Auffanglagern und KZs als Übergang von „Welt“ zu „Wüste“, von der konkreten Person zum abstrakten Menschenwesen, welches nur noch durch seine Gattungszugehörigkeit schutzwürdig erscheint und, erkennt man diese im Rahmen einer rassistischen Theorie ab, nicht mehr plausibel machen kann, warum man ihm kein Leid antun darf. Angreifbar wurden die Opfer der rassistischen Verfolgung weniger durch ihre Rechtlosigkeit als durch ihre Isolation, erst als Staatenlose und Exilanten, dann als Ghetto-Bewohner und schließlich als völlig entindividualisierte KZ-Häftlinge. Aller Möglichkeiten, ihr Person-Sein durch Handeln oder Sprechen auszudrücken, beraubt, sind sie für Arendt „lebende Leichname“, das heißt, sie sind für den Betrachter gar nicht mehr als Mitmensch erkennbar, und umso weniger moralische Skrupel stehen ihrer körperlichen Vernichtung entgegen. Philosophisch begründete Menschenrechte versagen an dieser Stelle, weil sie nur eines von mehreren moralischen Systemen sind, an welchen sich die Täter orientieren können; sie sind nicht zwingend, weil ihre Prämisse, dass jeder Mensch als Person Anerkennung verdient, unter solchen Umständen nicht mehr sinnfällig ist.
Auf der Grundlage der skizzierten Philosophiekritik Arendts gelange ich zu einer breiten Lesart des vieldiskutierten „Rechts auf Rechte“, welches aus der Perspektive meiner Arbeit weniger auf den juridischen Status des Staatbürgers als vielmehr auf die faktische politisch-soziale Integration eines jeden einzelnen Menschen abstellt. Ein solch weites Konzept des „Rechts auf Rechte“ trägt der von Arendt formulierten These Rechnung, dass der blinde Punkt der Philosophie hinsichtlich der Personalität des Einzelnen nur durch die Schaffung eines politischen Raums kompensiert werden könne, in welchem der lebensweltliche Umgang der Menschen miteinander einen zweiten Erkenntnismodus jenseits der philosophischen Logik eröffne. Das grundlegende Recht soll jedem Menschen gewährleisten, in einem „[...] Beziehungssystem zu leben, in dem man auf Grund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird [...]“ (Arendt 1955: 476) Nur in einem räumlich und zeitlich konkreten Interaktionsraum kann sich das Personsein des Einzelnen zuverlässig offenbaren und damit die Bedingungen für einen Übergang von der Wüste zur Welt geschaffen werden. Das Recht auf Rechte stellt Arendts Versuch dar, die Aporien der Menschenrechte dadurch zu umschiffen, dass eine politische Lösung für das philosophische Dilemma der Menschenrechte angeboten wird. Im Rahmen meiner der Arbeit werden die Schwächen und Grenzen dieser Konzeption beleuchtet. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, inwiefern Arendt mit der Forderung eines universalen „Rechts auf Rechte“ letztlich doch normativen, anthropologischen Argumenten einen Stellenwert zuerkennen muss. Darüber hinaus kann aufgezeigt werden, dass die Begründung eines universalen Rechts auf politische Teilhabe bei Arendt auf eine an den aristotelischen Politikbegriff angelehnte „Theorie des Guten Lebens“ basiert, welche unterschiedliche Lebensbereiche hierarchisiert. Die dabei formulierte „Ästhetik des Politischen“, nach welcher das politische Handeln die vollkommenste Form menschlichen Daseins darstellt, ist insofern höchst problematisch, als sie in eine teleologische Anthropologie mündet, nach welcher bestimmten Menschen ihre menschliche Qualität abgesprochen wird.
Trotz der problematischen Implikationen des Arendtschen Menschenrechtskonzeptes gelangt die in der Arbeit vorgestellte Lektüre zu dem Fazit, dass Arendt einen wichtigen Beitrag zu einer Philosophie leistet, welche die eigenen epistemologischen Grenzen anerkennt und eine Annäherung an konkrete politische Realitäten nicht scheut, sondern vielmehr die Funktion politischer Theorie erfüllt – nämlich die Bedingungen menschlichen Lebens zu schildern und anhand von konkreten historischen Geschehnissen zu schließen, wann das Politische welche Formen annimmt, wann es versiegt und wann es wieder auflebt.
Die vorliegende Studie versucht, dem Arendtschen Brückenschlag zwischen erkenntnistheoretischen und empirischen-analytischen Aussagen gerecht zu werden und anhand ihrer Beschreibung des Holocaust unter Gesichtspunkten der von ihr allgemein formulierten Philosophiekritik zu rekonstruieren. Die Menschenrechtskritik wird auf diese Weise im begrifflichen Kosmos Arendts lokalisiert.
Literatur
Beiner, Ronald (1996): ”Love and Wordliness: Hannah Arendt’s Reading of Saint Augustine“, in: Larry May / Jerome Kohn (Hrsg.): Hannah Arendt. Twenty Years Later, London [u.a.]: MIT Press, S. 269–284.
Benhabib, Seyla (2006): Hannah Arendt. Die Melancholische Denkerin der Moderne, 2., erw. Ausg., Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Birmingham, Peg (2006): Hannah Arendt and Human Rights. The Predicament of Common Responsibility, Bloomington u. Indianapolis: Indiana University Press.
Brunkhorst, Hauke (1999): Hannah Arendt, München: Beck.
Cohen, Jean L. (1996): ”Rights, Citizenship, and the Modern Form of the Social: Dilemmas of the Arentian Republicanism”, in: Constellations, Jg. 3, Heft 2, S. 164–189.
Frank, Martin (2001): „Hannah Arendts Begriffe der Weltentfremdung und Weltlosigkeit in Vita activa im Lichte ihrer Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin“, in: Bernd Neumann, Helgard Mahrdt u. Martin Frank (Hrsg.): »The Angel of History is looking back«. Hannah Arendts Werk unter politischem, ästhetischem und historischem Aspekt, Würzburg: Königshausen&Neumann, S. 127–151.
Seitz, Jakob St. (2002) : Hannah Arendts Kritik der politisch-philosophischen Tradition: unter Einbeziehung der französischen Literatur zu Hannah Arendt, München: Utz.
Trawny, Peter (2005): Denkbarer Holocaust. Die politische Ethik Hannah Arendts. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Anmerkung
1Eine Ausnahme bildet das Buch Hannah Arendt and Human Rights (2006) von Peg Birmingham. In diesem wird – allerdings auf der Basis der von Arendt in den 1960er Jahren überarbeiteten Version des Dissertationstextes − versucht, die ontologischen Fundamente eines Begriffs der Menschenwürde in Form der arendtschen Theorie der Gebürtlichkeit offenzulegen. Ich stimme mit Birmingham insoweit überein, als auch ich davon ausgehe, dass in der Dissertation bereits die Grundlegung für Arendts späteres Denken stattfindet. Allerdings ist es mir eher um die Menschenrechtekritik bei Arendt zu tun und folglich bewegt sich meine Arbeit entlang einer ganz anderen Achse durch ihr Denken, welche das Natalitätskonzept nur streift.