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Ausgabe 1/2, Band 6 – November 2011

 

Vom Unterscheiden. Zur Kritik der politischen Urteilskraft bei Hannah Arendt und Giorgio Agamben1

Susanne Lüdemann

Ein anderes freilich ist’s,

Unterschiedenes ist

gut. Ein jeder

und es hat

Ein jeder das Seine.

(Hölderlin)

I.

Hölderlins Zeilen aus den späten, nachgelassenen Fragmenten scheinen von etwas zu sprechen, das man die Utopie des Unterscheidens nennen könnte. Sie scheinen von ei­nem Zustand zu sprechen, in dem Unterscheiden ein für alle mal schon geschehen wäre, und zwar so geschehen wäre, daß jeder dabei „das Seine“ erhalten hätte: daß seine Singu­larität im Unter-Schied von anderem (und von anderen) anerkannt wäre. Denn es heißt ja nicht: „Unterscheiden ist gut“, sondern „Unterschiedenes ist gut“, und „gut“ ist es, weil es als Unterschiedenes in sein Eigenes eingesetzt ist, oder dann (aber auch nur dann), wenn es als Unterschiedenes in sein Eigenes eingesetzt ist. Man könnte bei dieser Utopie des Unterscheidens auch an jenen gesellschaftlichen Zustand denken, den Adorno als Antizi­pation der Versöhnung bezeichnet und den er die „Kommunikation des Unterschiedenen“ genannt hat:

Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt, so ließe in ihm weder die ununterschiedene Einheit von Subjekt und Objekt noch ihre feindselige Antithetik sich vorstellen; eher die Kommunikation des Unterschiedenen. Dann erst käme der Begriff von Kommunikation, als objektiver, an seine Stelle. (…) Friede ist der Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinan­der.2

Da Unterscheiden eine Funktion des Urteils ist und das urteilende Unterscheiden, das ‚Sagen, was ein jegliches sei’, sich im Medium der Sprache vollzieht, setzte die Herbeifüh­rung eines solchen gesellschaftlichen Zustands freilich auch einen besonderen ‚Zustand’ der Sprache voraus. Dessen erstes Kennzeichen müßte sein, daß das urteilende Unter­scheiden sich in ihm nicht mehr in Begriffen vollzieht. Denn das erste Kennzeichen des Begriffs ist es bekanntlich, daß er das Einzelne nie als Einzelnes, sondern stets nur hin­sichtlich seiner Vergleichbarkeit mit anderem erfaßt. Im urteilenden Unterscheiden, daß dies ein Apfel, jenes aber eine Birne sei, bekommt gerade nicht jeder Apfel „das Seine“, sondern nur das, was er mit allen Äpfeln gemeinsam hat und was ihn von allen Birnen unterscheidet: Das Individuum in seiner Singularität ist im Begriff nicht „aufgehoben“ oder „zu sich gekommen“, wie noch Hegel (und Hegel vielleicht als letzter) es wollte, son­dern untergegangen.

Das: nämlich den Untergang des Einzelnen im Allgemeinen zu verkünden, wird die Sprachkritik seit Nietzsche nicht müde. In dem frühen Text Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn heißt es:

Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe: jedes Wort wird sofort da­durch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebnis, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, son­dern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d. h. streng genommen nie­mals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen. So gewiss nie ein Blatt einem anderen ganz gleich ist, so gewiss ist der Begriff ‚Blatt’ durch beliebiges Fallenlassen dieser indivi­duellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur ausser den Blättern etwas gäbe, das ‚Blatt’ wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezir­kelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so dass kein Exemplar correkt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre. (…) Das Uebersehen des Individuellen und Wirklichen giebt uns den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinirbares X. Denn auch unser Gegensatz von Individuum und Gattung ist anthropomorphisch und entstammt nicht dem Wesen der Dinge, wenn wir auch nicht zu sagen wagen, dass er ihm nicht entspricht: das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich wie ihr Gegentheil.3
Derselbe erkenntniskritische Ansatz liegt auch der Sprachphilosophie Walter Benjamins zugrunde, freilich hier ergänzt um eine geschichtsphilosophisch-theologische Dimension und um eine deutliche moralische Wertung. In seinem frühen, in der Tradition der jüdi­schen Sprachmystik, Hamanns und der Frühromantik stehenden Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen entwickelt Benjamin das, was er die „sprachlichen Grundtatsachen“ nennt, in Form einer Interpretation des biblischen Sün­denfallmythos. Gegenstand seiner Sprachkritik ist, wie bei Adorno, die „bürgerliche Auf­fassung der Sprache“ als eines Kommunikationsmittels. „Sie besagt“, so Benjamin: „Das Mittel der Mitteilung ist das Wort, ihr Gegenstand die Sache, ihr Adressat ein Mensch.“4 Sie besagt: der Mensch bediene sich der Sprache, um mittels ihrer anderen Menschen Ge­danken oder Wahrnehmungen mitzuteilen. Diese Auffassung ist implizit bereits Gegen­stand der Sprachkritik Nietzsches, insofern Nietzsche (wie zitiert) den Abbildcharakter der Sprache und damit die Unschuld des urteilenden Unterscheidens bestreitet. ‚Der Mensch bedient sich der Sprache als eines Machtmittels’, ließe sich Nietzsches Kritik übersetzen, ‚um mittels ihrer die Dinge und die anderen seinen Unterscheidungen zu un­terwerfen.’ Dieser doppelten, von Nietzsche namhaft gemachten Verknechtung (der Dinge und der anderen) im Unterscheiden liegt nun nach Benjamin eine dritte, gleichzeitig erste Verknechtung zugrunde, nämlich die Verknechtung der Sprache selbst durch den Sün­denfall. Das erste Genesiskapitel unterscheide, so Benjamin, zwei Sprachzustände, den der „vollkommen erkennenden“ adamitischen Namenssprache des Paradieses vor, und den der „menschlichen“, der Wort- und Urteilssprache nach dem Sündenfall. Die adami­tische Namenssprache habe noch Anteil am schöpferischen Gotteswort; sie entspringe unmittelbar aus der Anschauung der Dinge und kenne insofern noch ein natürliches Band zwischen Ding, Bild und Laut. Der Laut wird dabei von Benjamin ebenso als die Wahrnehmung unmittelbar begleitender Ausdruck der Empfindung wie als der natürliche Name der Dinge gedacht: In ihm allein erhält, gemäß der Formulierung Hölderlins, „jeder das Seine“. Demgegenüber sei das Wissen, was gut und böse sei, „namenlos“. Mit ihm werde der Mensch vom Nennenden zum Urteilenden und Unterscheidenden, die Sprache vom unmittelbaren Medium der Erkenntnis zum Mittel der Beurteilung:
Die Erkenntnis, zu der die Schlange verführt, das Wissen, was gut sei und böse, ist namenlos. Es ist im tiefsten Sinne nichtig, und dieses Wissen eben selbst das einzige Böse, das der paradiesische Zustand kennt. (...) Der Sündenfall ist die Geburtsstunde des menschlichen Wortes, in dem der Name nicht mehr unverletzt lebte, das aus der Namenssprache, der erkennenden, man darf sagen: der immanenten eigenen Magie heraustrat, um ausdrücklich, von außen gleichsam, magisch zu werden. Das Wort soll etwas mitteilen (außer sich selbst). Das ist wirklich der Sündenfall des Sprachgeis­tes.5
In der Diakrisis des Urteils verläßt die Sprache nach Benjamin den Namen, der „für das einmalige, ganz und gar individualisierte Urerlebnis“ (Nietzsche) stehen und den Dingen in ihrer Singularität gerecht werden konnte. Seither, so könnte man mit Hölderlins Wor­ten fortsetzen, ist Unterschiedenes nicht mehr „gut“, weil im menschlichen Unterscheiden nach dem Sündenfall niemand mehr „das Seine“ bekommt, sondern dem Begriff unter­worfen und darin seiner eigenen Singularität entfremdet wird - „verknechtet“, wie Benja­min sagt: „Zur Verknechtung der Sprache im Geschwätz tritt die Verknechtung der Dinge in der Narretei fast als deren unausbleibliche Folge.“6. Durch die Rückbindung an das my­thische Datum des Sündenfalls nimmt Benjamins Sprachkritik freilich selbst mythische Züge an: Die Verknechtung von Sprache, Ding und Mensch im Urteil wird zur Erbschuld des Menschen, auf ihn geladen durch die erste Transgression, das Essen vom Baum der Erkenntnis, bezahlt mit der Vertreibung aus dem Paradies, zu tragen nach jüdischem Ge­setz bis zum Ende der Geschichte, bis zur Ankunft des Messias.

Der Sachverhalt, den Nietzsche und Benjamin benennen und der in der sog. „Sprach­krise“ um 1900 virulent wird, läßt sich freilich auch nüchterner fassen. Er bezeichnet einen geistesgeschichtlichen Zustand, in dem das menschliche Unterscheiden gleichsam aus seiner ontologischen Verankerung gerissen ist: einen Zustand, in dem man nicht mehr glauben kann, daß sprachliche Unterscheidungen die natürlichen Unterschiede der Dinge einfach abbilden; einen Zustand, in dem die Sprache selbst zum Problem wird (der linguistic turn des 20. Jahrhunderts ist die Folge davon) – oder, um es mit einem ande­ren gängigen Schlagwort zu sagen: eine Situation, in der die Kontingenz menschlichen Unterscheidens bewußt geworden ist. Man kann darauf verschieden reagieren: mit Nihi­lismus, mit Dezisionismus, mit Konstruktivismus oder mit Dekonstruktion. All diesen Haltungen und theoretischen Programmen ist gemeinsam, daß sie auf die moderne Krise des Unterscheidens antworten und aus ihr Folgerungen ziehen, die keineswegs nur er­kenntnistheoretischer Natur sind, sondern stets auch politische und ethische Konsequen­zen haben. Denn die Frage ist ja, wie man in einer Welt, in der man urteilen muß, aber nicht urteilen kann (jedenfalls nicht ontologisch oder theologisch gesichert), die Verant­wortung für das je eigene Unterscheiden auf sich nehmen kann. Denn egal, ob man tran­szendentale Epoché mit dem eigenen Unterscheiden treibt oder sich im Gegenteil zum Souverän seiner Unterscheidungen aufschwingt; ob man sich in bacchantische Orgien der Ununterscheidbarkeit stürzt oder vielmehr mit und nach Kant an einer neuen Kritik der politischen Urteilskraft arbeitet – man wird sich zur Krise des Unterscheidens verhalten und damit auch politisch im Horizont der Moderne oder Postmoderne Position bezogen haben.

Ich möchte nun die Positionen Giorgio Agambens und Hannah Arendts in diesem Hori­zont, wie sie sich meinem eigenen Unterscheidungsvermögen darstellen, in gebotener Kürze skizzieren. Ich möchte zeigen, daß Agamben sich mit seiner „Philosophie der Un­unterscheidbarkeit“ meines Erachtens zu Unrecht auf Arendt beruft, für die verantwortli­ches Unterscheiden und Urteilen stets eine, wenn nicht die zentrale politische Tugend ge­wesen ist.

II.

Agamben entfaltet seine Philosophie der Ununterscheidbarkeit vor allem in Homo Sacer I. Die souveräne Macht und das nackte Leben, aber er kommt auch in anderen Teilen sei­nes Werks (z. B. in Idee der Prosa) immer wieder auf die Frage des Unterscheidens zu sprechen. Die Kronzeugen für seine Position sind neben Michel Foucault und Carl Schmitt vor allem Walter Benjamin und Hannah Arendt, allesamt Denker des modernen Politischen, die Agamben auf verschiedene Weise fortschreibt und beerbt. Mir scheint, daß Walter Benjamin in diesem Spektrum eine besondere Rolle zukommt, weil Agamben nicht nur den Begriff des „bloßen Lebens“ oder „nackten Lebens“ von Benjamin bezieht, sondern Benjamins messianische Geschichtsphilosophie für die gesamte Konstruktion des Homo-Sacer-Buchs, die selbst eine geschichtsphilosophische ist, tragend ist. Sie folgt, um es kurz zu sagen, dem Benjaminschen Sündenfall-Modell: Eine einzige, erste Unter­scheidung, allerdings nicht die biblische zwischen gut und böse, sondern die griechische zwischen bios und zoé, politischem und natürlichem Leben, hat nach Agamben die abendländische Politik begründet, am Leben erhalten und zu ihrem Untergang, der ihm zufolge heute bevorsteht, verurteilt. Die Theorie der Souveränität, die Agamben in Homo sacer entfaltet, ist, so meine These, gleichzeitig eine Theorie des Unterscheidens und als solche eine Theorie der Sprache.

Diese Beziehung stellt Agamben selbst her, wenn er unter Berufung auf Aristoteles die Unterscheidung zwischen nacktem Leben und Politik der Unterscheidung zwischen Stim­me und Sprache gleichsetzt. Bei Aristoteles heißt es:

Über die Sprache aber verfügt allein von den Lebenwesen der Mensch. Die Stimme nun bedeutet schon ein Anzeichen von Leid und Freude, daher steht sie auch den an­deren Lebewesen zu Gebote; ihre Natur ist nämlich bis dahin gelangt, daß sie über die Wahrnehmung von Leid und Freude verfügen und das den anderen auch anzei­gen können. Doch die Sprache ist da, um das Nützliche und das Schädliche klarzule­gen und in der Folge davon das Gerechte und Ungerechte. Denn das ist im Gegensatz zu den anderen Lebewesen den Menschen eigentümlich, daß nur sie allein über die Wahrnehmung des Guten und des Schlechten, des Gerechten und des Ungerechten und anderer solcher Begriffe verfügen. Und die Gemeinschaft in diesen Begriffen schafft Haus und Staat.7
Während die Fähigkeit zur Unterscheidung von Freude und Leid (oder Lust und Unlust) also nach Aristoteles auch den „anderen Lebewesen“ zukommt, sind die Unterscheidun­gen von gut und schlecht, nützlich und schädlich, gerecht und ungerecht an den logos und damit an die Sprache gebunden, über die allein der Mensch verfügt. Es sind aber diese letzteren Unterscheidungen, die Politik im aristotelischen Sinne nicht nur ermöglichen, sondern auch erzwingen: als die Notwendigkeit nämlich, in diesen Begriffen „Gemein­schaft“ herzustellen, d.h. den Maßstab für das, was gut und böse, gerecht und ungerecht ist, für alle gemeinsam verbindlich festzulegen. Bevor es zu dieser Institutionalisierung politischer und moralischer Unterscheidungen kommen kann, muß freilich der nach Agamben „ursprüngliche“ souveräne Akt, die Unterscheidung von nacktem Leben und politischer Existenz und die einschließende Ausschließung des ersteren aus der letzteren schon vollzogen sein: „Das fundamentale Kategorienpaar der abendländischen Politik“, so kommentiert Agamben die zitierte Aristoteles-Stelle, „ist nicht jene Freund/Feind-Unterscheidung [von Carl Schmitt, S. L.], sondern diejenige von nacktem Leben/ politischer Existenz, zoé/bios, Ausschluß/Einschluß. Politik gibt es deshalb, weil der Mensch das Lebewesen ist, das in der Sprache das nackte Leben von sich abtrennt und sich entgegensetzt und zugleich in einer einschließenden Ausschließung die Beziehung zu ihm aufrechterhält.“8

Mit dieser ursprünglichen Unterscheidung konstituiert sich nach Agamben zugleich der Bereich des Normalen und Normativen sowie auch dessen, was von ihm ausgenommen ist und daher ausgeschlossen bleibt. Die eigentlich politische Frage ist daher für Agamben die, wie die ursprüngliche Selbstunterscheidung des Menschen als Sprechendem von den Menschen politisch implementiert, wie sie juristisch und geographisch (etwa in der Zie­hung von Grenzen und in der Rechtlossetzung des Nicht-Menschlichen) umgesetzt wird. Denn das „nackte Leben“ ist selbstverständlich für Agamben (anders als für Aristoteles) keine ontologische Kategorie; die Unterscheidung von bios und zoé verdoppelt nicht ein­fach die ‚natürlichen’ Unterschiede der Lebewesen, also etwa die zwischen Menschen und Tieren, in der Sprache. Wer oder was unter die Kategorie des „nackten Lebens“ als von der Normalität und Normativität des Politischen Ausgeschlossenen (und dadurch zu­gleich in sie Eingeschlossenen) fällt, ist vielmehr historisch variabel: Die Reihe der Kandi­daten reicht bei Agamben bekanntlich vom römischen homo sacer über den mittelalterli­chen Vogelfreien und die Juden und Zigeuner im Dritten Reich bis hin zu den Flüchtlin­gen und Staatenlosen unserer Tage – sie umfaßt also alle, die in den Grauzonen des Rechts der straffreien Tötbarkeit preisgegeben sind (auch Koma-Patienten und Embryo­nen zählt er dazu).

Sie alle sind nach Agamben die Opfer jener ursprünglichen souveränen Unterschei­dung, die sich aber, und das ist seine eigentliche geschichtsphilosophische These, heute gegen sich selbst zu kehren beginnt. Schuf schon die ursprüngliche Unterscheidung zwi­schen bios und zoé, Regel und Ausnahme, „Zonen der Ununterscheidbarkeit“ zwischen Innen und Außen, rechtmäßiger und unrechtmäßiger Gewalt, so beginnen diese Zonen, vormals nur an den Rändern und in den Ritzen des Gemeinwesens eine untergeordnete Rolle spielend, Agamben zufolge heute mit dem Bereich der Normalität zu verschmelzen. Die ursprüngliche politische Unterscheidung zwischen bios und zoé kollabiere in dem Maß, in dem das bloße Leben in der Moderne zum Gegenstand der Politik zu werden be­ginnt. Dieser Prozeß der Politisierung des nackten Lebens beginnt Agamben zufolge mit der Habeas-corpus-Akte von 1679, die „nicht den freien Menschen mit seinen Eigen­schaften und Statuten, und noch nicht einmal schlicht den Menschen (homo), sondern corpus zum neuen Subjekt der Politik“9 gemacht habe; er führt über die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und die Entstehung des modernen Nationalstaats mit sei­ner Verschmelzung von Natalität und Nationalität als dem Versuch, „erstmals in der Ge­schichte das nackte Leben zum Träger von Rechten zu machen“; und er kulminiert im Konzentrationslager als dem „absolutesten biopolitischen Raum, der je in die Realität umgesetzt worden ist, in dem die Macht nur das reine Leben ohne jegliche Vermittlung vor sich hat. Darum ist das Lager [und nicht der Staat, S. L.] das biopolitische Paradigma des Abendlands, und zwar genau in dem Punkt, wo die Politik zur Biopolitik wird und der  homo sacer sich virtuell mit dem Bürger vermischt.“10 (HS 180/190)
Was die moderne Politik auszeichnet, ist nicht so sehr die an sich uralte Einschlie­ßung der zoé in die polis noch einfach die Tatsache, daß das Leben als solches zu ei­nem vorrangigen Gegenstand der Berechnungen und Voraussicht der staatlichen Macht wird; entscheidend ist vielmehr, daß das bloße Leben, ursprünglich am Rand der Ordnung angesiedelt, im Gleichschritt mit dem Prozeß, durch den die Ausnahme überall zur Regel wird, immer mehr mit dem politischen Raum zusammenfällt und auf diesem Weg Ausschluß und Einschluß, Außen und Innen, zoé und bios, Recht und Faktum in eine Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit geraten.11

Agamben interpretiert also die moderne Krise des Unterscheidens zugleich als eine politi­sche Entdifferenzierungskrise, die in der Institutionalisierung des Ausnahmezustands im Konzentrationslager endet. In diesem „zur Regel gewordenen Ausnahmezustand“ komme aber nur die ursprüngliche Struktur des nomos ans Licht, die bereits der griechischen Un­terscheidung von zoé und bios zugrundelag.

Man kann dieser geschichtsphilosophischen Konstruktion nun alle möglichen Unschär­fen und Pauschalisierungen vorwerfen und damit nicht zuletzt, daß sie die Ununter­scheidbarkeiten, die sie als Resultat abendländischer Politik und damit als Folge einer ersten, in Benjamins Worten „nichtigen“ Unterscheidung darstellt, durch ihr eigenes Un­terscheiden und Nicht-Unterscheiden erst produziert. Das ist jedoch hier nicht mein In­teresse. Meine Frage gilt vielmehr den theoretischen und politischen Konsequenzen, die Agamben aus seiner Analyse zieht, weil dies der Punkt ist, an dem er sich meines Erach­tens am deutlichsten von Hannah Arendt unterscheidet. Während nämlich Arendts ‚Kri­tik der politischen Urteilskraft‘ auf eine Wiederbelebung vergessener politischer Unter­scheidungen und damit auf eine Schulung des politischen Unterscheidungsvermögens insgesamt hinarbeitet, geht es Agamben darum, die Ununterscheidbarkeiten der Gegen­wart gewissermaßen noch zu überbieten. „Auf diese Unterschiedslosigkeit von Öffentli­chem und Privatem, von biologischem und politischem Körper, von zoé und bios“, schreibt er in Noten zur Politik, „würde ich aus keinem Grund verzichten wollen. Eben hier muß ich meinen Raum auffinden – hier, oder an keinem anderen Ort. Nur eine Poli­tik, die von diesem Bewußtsein [der Unterschiedslosigkeit, S. L.] ihren Ausgang nimmt, kann mich etwas angehen.“12 Der Raum, der hier gefunden werden soll, ist freilich selbst kein politischer Raum mehr: er ist jenseits des Staats und jenseits des Rechts gelegen, in einem „wirklichen Ausnahmezustand“, den Agamben mit Benjamins achter geschichts­philosophischer These dem „zur Regel gewordenen Ausnahmezustand“ entgegensetzt, „in dem wir leben.“13 Für diese Utopie hat Agamben den Begriff der Lebens-Form (forma di vita) geprägt, in dem die ursprüngliche Unterscheidung von bios und zoé aufgehoben ist, damit aber zugleich die ursprüngliche Selbstunterscheidung des Menschen als Sprechendem zwischen sich und den „anderen Lebewesen“. Es handelt sich nicht um eine Utopie des ‚gerechten’ Unterscheidens, wie in Hölderlins Fragment und in Benjamins Bezug auf die adamitische Namenssprache, sondern um eine – für meine Begriffe recht regressive – Utopie des Nicht-mehr-unterscheiden-Müssens, in der zugleich mit dem Staat und dem Recht auch die Urteilsfunktion der Sprache zerschlagen ist. Denn die Sprache ist, wie Agamben unter dem Titel Idee der Sprache II in einer Interpretation von Kafkas Text In der Strafkolonie ausführt, in erster Linie ein „Folterapparat“:
Kafkas Legende In der Strafkolonie wird um vieles klarer, wenn man begreift, daß der Folterapparat, der von dem früheren Kommandanten erfunden wurde, in Wirk­lichkeit die Sprache ist. [...] In der Erzählung ist diese Maschine vor allem ein Instru­ment der Rechtsprechung und der Bestrafung. Das bedeutet, daß auch die Sprache auf Erden und für den Menschen ein solches Werkzeug ist. Das Geheimnis der Straf­kolonie wäre so mit dem Geheimnis identisch, das eine zeitgenössische Romangestalt in folgende Worte faßt: ‚Ich werde Ihnen ein furchtbares Geheimnis verraten: die Sprache ist die Strafe. In sie müssen alle Dinge eingehen, und in ihr müssen sie wie­der vergehen nach ihrer Schuld und nach dem Ausmaß ihrer Schuld.‘14

Die Zerstörung der Maschine am Ende von Kafkas „Strafkolonie“ liest Agamben entspre­chend als Erlösung des Menschen von der Sprache, die die „Strafe“ für den Sündenfall war. Sie beginnt in dem Moment zu zerbrechen, in dem sie dem neuen Kommandanten die Anweisung „Sei gerecht!“ in die Haut ritzen soll. Agamben interpretiert diese Anwei­sung als Aufforderung zur (Selbst-)Zerstörung der Maschine, und das heißt: der Sprache, die nach dem Sündenfall die „notwendige Komplizin der Ungerechtigkeit“ war. Die „zeit­genössische Romangestalt“, auf die er sich dabei beruft, ist das namenlose weibliche Ich aus Ingeborg Bachmanns Roman Malina. Für eine solche mystische Sprachtheorie läßt sich jedoch gerade die zitierte Stelle aus Bachmanns Malina schwerlich vereinnahmen, worauf schon Vivian Liska in einem schönen Text über Agambens verborgenen (oder auch nicht verborgenen) Messianismus hingewiesen hat. Denn

die Schuld, von der an der zitierten Stelle in Bachmanns Roman die Rede ist, ver­bleibt (…) nicht, wie bei Agamben, in einer ontologischen Unbestimmtheit, sondern erhält eine spezifische Bedeutung in einem spezifischen, geschichtlichen Umfeld. Es geht um Österreich in der Nachkriegszeit: ‚Man ist ja längst zu den  Tagesunordnun­gen der neuen Welt übergegangen. (…) Von hier aus gesehen (…) muss man die Ver­gangenheit ganz ableiden. (…) In ihren Ländern sitzen sie, die wahren Unzeitgemä­ßen, denn sie sind sprachlos, es sind die Sprachlosen, die zu allen Zeiten regieren. Ich werde ihnen  ein furchtbares Geheimnis verraten…’ Darauf folgt das von Agamben angeführte Zitat. Es geht Bachmann um die verschwiegene Schuld der nationalsozia­listischen Vergangenheit. Die Sprachlosen sind die Verschweiger, das Eingehen in die Sprache ist eine Offenbarung ihrer Schuld, sie ist Medium der Gerechtigkeit. Bei Agamben kommt dieser Kontext nicht zur Sprache. Vielmehr ist die Sprache bei ihm selbst mit dem Gesetz im Ausnahmezustand im Bunde und muss wie dieses aufgehoben werden.“15

III.

Hannah Arendt ist dagegen eher auf der Seite Ingeborg Bachmanns anzusiedeln als auf der Agambens. Auch für sie ist die Sprache das (einzige) Medium der Gerechtigkeit, ver­antwortliches Unterscheiden die erste Voraussetzung von politischer Freiheit. „Ich begin­ne immer alles, indem ich sage: A und B sind nicht dasselbe“, sagt sie im Gespräch mit Mary McCarthy16, und gibt ihrer Überzeugung Ausdruck, daß „politisches Denken (...) im wesentlichen in der Urteilskraft (gründet).“17 Ihre ‚Kritik der politischen Urteilskraft‘ blieb jedoch unvollendet. „Judging“ – also „Das Urteilen“ – sollte der dritte und abschließende Teil ihres Werks Vom Leben des Geistes heißen; die Dreiteilung „Das Denken“ – „Das Wollen“ – „Das Urteilen“ folgt erkennbar der Abfolge der drei Kritiken Kants. Sie starb wenige Tage, nachdem sie den zweiten Teil über „Das Wollen“ fertiggestellt hatte. Nach ihrem Tod fand man ein Blatt Papier in ihre Schreibmaschine eingespannt, das leer war bis auf die Überschrift „Judging“ und zwei Leitsprüche. Es existieren jedoch nachgelasse­ne Fragemente, insbesondere aus dem Kontext der früh geplanten, aber ebenfalls nicht ausgeführten Einführung in die Politik, die das Thema behandeln und eine deutliche Po­sition Arendts erkennen lassen. So unterscheidet sie in einem für den vorliegenden Zu­sammenhang bedeutenden Fragment über „Vorurteil und Urteil“ zwischen zwei verschie­denen Bedeutungen des Wortes „Urteilen“:
Das Wort Urteilen hat in unserem Sprachgebrauch zwei durchaus voneinander zu scheidende Bedeutungen, die uns doch, wenn wir sprechen, immer durcheinanderge­hen. Es meint einmal das ordnende Subsumieren des Einzelnen und Partikularen un­ter etwas Allgemeines und Universales, das regelnde Messen mit Maßstäben, an de­nen sich das Konkrete auszuweisen hat und an denen über es entschieden wird. In al­lem solchen Urteilen steckt ein Vor-Urteil; beurteilt wird nur das Einzelne, aber we­der der Maßstab selbst noch das zu Messende. Auch über den Maßstab ist einmal ur­teilend entschieden worden, aber nun ist dies Urteil übernommen und gleichsam zu einem Mittel geworden, weiter urteilen zu können. Urteilen kann aber auch etwas ganz anderes meinen, und zwar immer dann, wenn wir mit etwas konfrontiert wer­den, was wir noch nie gesehen haben und wofür uns keinerlei Maßstäbe zur Verfü­gung stehen. Dies Urteilen, das maßstabslos ist, kann sich auf nichts berufen als die Evidenz des Geurteilten selbst, und es hat keine anderen Voraussetzungen als die menschliche Fähigkeit der Urteilskraft, die mit der Fähigkeit zu unterscheiden sehr viel mehr zu tun hat als mit der Fähigkeit zu ordnen und zu subsumieren. Dies maßstabslose Urteilen ist uns wohl bekannt aus dem ästhetischen oder dem Geschmacksurteil, über das man, wie Kant einmal sagte, gerade nicht ‚disputieren‘, wohl aber streiten und übereinkommen kann; und wir kennen es im alltäglichen Leben, wenn immer wir in einer noch nicht bekannten Lage meinen, der oder jener hätte die Situation richtig oder falsch beurteilt.18

Es ist Hannah Arendt also darum zu tun, ein maßstabs- oder begriffsloses Urteilen, das sein Modell im Kantschen Geschmacksurteil hat, vom ordnenden und subsumierenden Urteilen zu unterscheiden und es ihm gegenüberzustellen. So weit sich das aus den weni­gen nachgelassenen Notizen erschließen läßt, wäre es in „Judging“ nicht zuletzt darum gegangen, dieses begriffslose Urteilen, „das mit der Fähigkeit zu unterscheiden sehr viel mehr zu tun hat als mit der Fähigkeit zu ordnen und zu subsumieren“, als den eigentli­chen Kern der politischen Urteilskraft zu erweisen. Diese hätte sich gerade in den „Zonen der Ununterscheidbarkeit“ zu bewähren, wo der Maßstab fehlt und kein Gott und kein verbindlicher Allgemeinbegriff für die Richtigkeit des Geurteilten einstehen kann. Gerade hier könnte man sich nicht auf das Fehlen oder Scheitern verbindlicher Leitunterschei­dungen berufen, das dergestalt selbst zum Maßstab, nämlich dem des eigenen Nichtun­terscheidens würde, sondern man müßte anerkennen, daß Unterschiedenes jeweils von ‚mir selbst’ Unterschiedenes ist.

Wendet man Arendts Unterscheidung zwischen subsumierendem und im ursprüngli­chen Sinn unterscheidendem Urteil auf Agamben zurück, so kann man sagen, daß Agam­ben sich eigentlich nur mit ersterem beschäftigt, ja man wird ihm sogar eine besondere Vorliebe für solche institutionalisierten Urteile bescheinigen können, die selbst zum Maß­stab weiterer Beurteilungen geworden sind und von denen Hannah Arendt sagt: „Auch über den Maßstab ist einmal urteilend entschieden worden [z. B. eben mit der Installation des Unterschieds von bios und zoé, S. L.], aber nun ist dies Urteil übernommen und gleichsam zu einem Mittel geworden, weiter urteilen zu können“ (s. o.). Agambens Leit­unterscheidungen bios/zoé; Regel/Ausnahme; Recht/Fakt sind Unterscheidungen dieses Typs, sozusagen Meta-Unterscheidungen oder, in Arendts Sprache, Vor-Urteile, die den Rahmen für alles einzelne Ordnen und Subsumieren abgeben.

Nun läßt Hannah Arendt keinen Zweifel daran, daß solche Vor-Urteile innerhalb der Gesellschaft notwendig sind: „Daß Vorurteile eine so außerordentlich große Rolle im all­täglichen Leben und damit in der Politik spielen, braucht man an sich nicht zu beklagen, und man sollte auf keinen Fall versuchen, es zu ändern. Denn ohne Vorurteile“ – oder, wie ich lieber sagen würde: ohne institutionalisierte Urteile – „kann kein Mensch leben, und zwar nicht nur, weil keines Menschen Klugheit oder Einsicht dazu ausreichen würde, all das neu zu beurteilen, worüber ihm ein Urteil im Laufe seines Lebens abverlangt wird, sondern weil eine solche Vorurteilslosigkeit eine übermenschliche Wachheit erfordern würde.“19

Und es ist eigentlich nur eine leichte Abwandlung von Aristoteles’ Politik-Theorie, wenn Arendt das Gesellschaftsbildende des Vorurteils betont: Es gehört zu seinen hervor­ragendsten Eigenschaften,

„daß an ihm Menschen sich erkennen und zugehörig fühlen, sodaß der in Vorurteilen befangene Mensch sich eigentlich immer einer Wirkung gewiß sein kann, während der Idiosynkratische sich gerade im öffentlichen Raum kaum je durchzusetzen vermag und nur im intim Privaten zur Geltung kommt. Das Vorurteil spielt infolgedessen eine große Rolle im rein Gesellschaftlichen; es gibt eigentlich gar keine Gesellschaftsbildung, die nicht mehr oder minder auf den Vorurteilen beruht, durch die bestimmte Arten von Men­schen zugelassen und andere ausgeschlossen sind.“20
Vergleichbar hieß es bei Aristoteles: „Und die Gemeinschaft in diesen Begriffen (des Nützlichen und Schädlichen, des Guten und Schlechten, des Gerechten und des Unge­rechten, S. L.) schafft Haus und Staat.“21

Arendt deutet also den Ausschlußmechanismus, der bei Agamben als Verhängnis der abendländischen Biopolitik erscheint, zunächst einmal als unvermeidliche Begleiterschei­nung jeder Gesellschaftsbildung (und sie befindet sich dabei, das nur nebenbei gesagt, in bester Übereinstimmung mit der Systemtheorie).

Die politische Moderne zeichnet sich allerdings auch nach Arendt dadurch aus, daß in ihr die historisch tradierten Vor-Urteile ins Wanken geraten sind, daß gesellschaftliche Leitunterscheidungen, die bisher als Maßstab des Ordnens und Subsumierens dienten, versagen. Dieses Versagen der Maßstäbe in der modernen Welt, „die Unmöglichkeit, das, was geschehen ist und täglich neu geschieht, nach festen, von allen anerkannten Maßstä­ben zu beurteilen, es zu subsumieren als Fälle eines wohlbekannten Allgemeinen“ sei, so Arendt, „oft als ein der Zeit inhärenter Nihlismus beschrieben worden, als eine Entwer­tung aller Werte, eine Art Götterdämmerung und Katastrophe der moralischen Wertord­nung.“22 Alle derartigen Interpretationen – und ich würde auch die Agambens dazurech­nen – setzten stillschweigend voraus, „daß Menschen das Urteilen überhaupt nur da zu­gemutet werden könne, wo sie Maßstäbe besitzen, daß die Urteilskraft also nicht mehr sei als die Fähigkeit, das Einzelne richtig und angemessen dem ihm zugehörenden Allgemei­nen, über das man einig ist, zuzuordnen.“23 Dies jedoch ist nach Arendt selbst ein Vorur­teil – ein Vorurteil über die Urteilskraft selbst und über die Sprache –, und es ist dieses Vorurteil, gegen das sie sich in aller Entschiedenheit wendet. Wo Agambens Gegenwarts­diagnose letztlich in einem Lob der Ununterscheidbarkeit endet, insofern sich darin eine messianische (oder quasi-messianische) Suspension von Staat und Recht, Sprache und Gesetz angeblich ankündigt, klagt Arendt die Bereitschaft gerade auch der Intellektuellen ein, der modernen Krise des Unterscheidens mit sozusagen ‚entschlossener’ Urteilskraft zu begegnen; aber nicht, um einen „wirklichen Ausnahmezustand“ herbeizuführen, an den sie nicht glaubt und der bei ihr allenfalls unter Ideologieverdacht stehen könnte, son­dern um einen zivilisierten Zustand der Welt wiederherzustellen. „Das menschlich Wahre kann niemals in der Ausnahme liegen“, schreibt sie in einem ihrer beiden Essays über Kafka, „nicht einmal in der Ausnahme des Verfolgten, sondern nur in dem, was die Regel ist oder die Regel sein sollte.“24 Ein Urteil über das, was die Regel sein sollte, sei aber den Menschen zumutbar, selbst da, wo, wie in der Welt Kafkas, „die Normalität offenbar zu einer Ausnahme geworden ist.“25 „Denken ohne Geländer“ („thinking without bannister“)26 nennt Arendt jenes „ursprüngliche Urteilen“, das eine solche Situation erfordert, deren Modernität „durch keine Rückkehr zum guten Alten und keine willkürliche Aufstellung neuer Werte und Maßstäbe rückgängig gemacht werden kann“27, und sie gleicht dieses maßstablose Unterscheiden, wie gesagt, dem Kantschen Modell des ästhetischen Urteils und vor allem dem in ihm sich bewährenden sensus communis an. Dieser ästhetische Gemeinsinn, wie Kant ihn versteht, gleicht das Fehlen verbindlicher Allgemeinbegriffe durch etwas aus, das man in Anlehnung an Arendt am ehesten als „soziale Einbildungskraft“ bezeichnen könnte (also als das, was Adolf Eichmann und seinesgleichen in so erschreckender Weise gefehlt hat28): Es handelt sich um ein „Beurteilungsvermögen“, schreibt Kant,
welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (...) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten. (...) Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urteil an anderer, nicht so­wohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man (...) von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beur­teilung zufälliger Weise anhängen, abstrahiert.29
Arendt besteht darauf, daß der so verstandene sensus communis nicht mit dem verwech­selt werden dürfe, was man üblicherweise unter Gemeinsinn oder common sense verstehe (die Differenzierung sei bereits bei Kant selbst durch den Wechsel vom Deutschen ins La­teinische angezeigt30). Es handelt sich gerade nicht um ein Reservoir allgemein akzeptier­ter Mehrheitsmeinungen oder kollektiver Vor-Urteile, an denen das eigene Urteil gemes­sen wird; eher als von einem Sinn der Gemeinschaft müßte man vielleicht von einem Sinn für die Gemeinschaft sprechen, von einem „Sondersinn, der uns in die Gemeinschaft ein­fügt (…), weil die Kommunikation, d. h. die Sprache, von ihm abhängt.“31 Er urteilt nicht subsumierend, sondern reflektierend, nämlich so, daß er mitbedenkt, wie sich der zu be­urteilende Gegenstand oder Sachverhalt aus der Sicht eines oder mehrerer anderer dar­stellen könnte. „Hier ist nicht die Rede vom Vermögen des Erkenntnisses“, so auch Kant,
sondern von der Denkungsart, einen zweckmäßigen Gebrauch davon zu machen: welche, so klein auch der Umfang und der Grad sei, wohin die Naturgabe des Men­schen reicht, dennoch einen Mann von erweiterter Denkungsart anzeigt, wenn er sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils, wozwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetzen, und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er da­durch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert.“32
Einem auf diesem Wege der „erweiterten Denkungsart“ Geurteilten eignet nach Hannah Arendt „niemals Zwangscharakter“; es kann „niemals den Anderen im Sinne eines logisch unausweichlichen Schlusses zur Beistimmung zwingen, sondern nur überzeugen“33 – oder auch nicht. Daß aber dem Urteilen überhaupt etwas Zwingendes eigne, ist ihr zufolge selbst ein Vorurteil.

Diese Parallele zwischen ästhetischer und politischer Urteilskraft, mit der Hannah Arendt auf die moderne Krise des Unterscheidens antwortet und die in neuerer Zeit auch Jean-François Lyotard (in seinen Kant-Studien) gezogen hat, zeugt von einem Denken des Politischen, das die moderne „Maßstabslosigkeit“ des Urteilens als Chance zu gerech­terem Urteilen begreift. Material dazu findet sich vor allem in Arendts Aufzeichnungen zu ihrer 1970 in New York gehaltenen Vorlesung „Über Kants politische Philosophie“. Es läuft darauf hinaus (so läßt sich vielleicht zusammenfassen), die eingangs namhaft ge­machte Utopie des Unterscheidens ihrer theologischen Dimension zu entkleiden und sie in eine politische Praxis des Unterscheidens, eine Praxis unter freiem Himmel, zu über­setzen.

Anmerkungen

1Zuerst erschienen in: Eva Geulen, Kai Kauffmann, Georg Mein (Hg.): Hannah Arendt und Giorgio Agamben. Parallelen, Perspektiven, Kontroversen, München 2008, S. 27-40

2Adorno, Theodor W., Zu Subjekt und Objekt, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 10.2, Frankfurt a. M. 1977, S. 743.

3Nietzsche, Friedrich, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, in: Ders., Werke III, hg. v. Karl Schlechta, München 1969, S. 313-314.

4Benjamin, Walter, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.1 (werkausgabe edition suhrkamp Bd. 4), Frankfurt a. M. 1977, S. 144. Der „gegenwärtige“ Begriff von Kommunikation, so auch Adorno, sei deswe­gen „so schmählich, weil er das Beste, das Potential eines Einverständnisses von Menschen und Dingen, an die Mitteilung zwischen Subjekten nach den Erfordernissen subjektiver Vernunft verrät“ (Adorno, Theodor W., Zu Subjekt und Objekt, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 10.2, Frankfurt a. M. 1977, S. 743).

5Benjamin, Walter, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.1 (werkausgabe edition suhrkamp Bd. 4), Frankfurt a. M. 1977, S. 152-153.

6Ebd., S. 154.

7Aristoteles, Politik, 1253a, 10-18.

8Agamben, Giorgio, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002, S. 18.

9Ebd., S. 132.

10Ebd., S. 180 u. 190.

11Ebd., S. 19.

12Agamben, Girogio, Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg / Berlin 2001, S. 129.

13Agamben, Giorgio, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002, S. 65-66.

14Agamben, Giorgio, Idee der Prosa, Frankfurt a. M. 2003, S. 121

15Liska, Vivian: „Der Messias in der Schriftmaschine. Gesetz und Schrift in Giorgio Agambens Lektüre von Kafkas In der Strafkolonie”, in: Martin A. Hainz (Hg.), Heilige versus Unheilige Schrift, Wien 2010, S. 173-183. Zitiert wird Ingeborg Bachmann, „Malina“, in: Dies., Werke, hg. v. Christine Koschel, Inge v. Weiden­baum u. Clemens Münster, Dritter Band: Todesarten: Malina und unvollendete Romane, München/Zürich 1982, S. 97.

16Arendt, Hannah, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München Zürich 2005, S. 114.

17Arendt, Hannah, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hg. v. Ursula Ludz, München Zürich 2005, S. 19.

18Ebd., S. 20-21.

19Ebd., S. 17.

20Ebd., S. 18.

21ristoteles, Politik, 1253a, 10-18. Vgl. Oben FN 5.

22Arendt, Hannah, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hg. v. Ursula Ludz, München Zürich 2005, S. 21.

23Ebd., S. 22.

24rendt, Hannah, Franz Kafka: Der Mensch mit dem guten Willen, in: Dies., Die verborgene Tradition. Essays, Frankfurt a. M. 1976, S. 68-78, hier S. 77.

25Ebd., S. 75.

26Arendt, Hannah, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München Zürich 2005, S. 113.

27Arendt, Hannah, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hg. v. Ursula Ludz, München Zürich 2005, S. 23.

28Arendt sieht das „Böse“ des Totalitarismus geradezu „in der Weigerung zu urteilen, d. h. Fehlen der Einbil­dungskraft, d. h. nicht die anderen, die man repräsentieren muß, vor den eigenen Augen präsent haben und berücksichtigen.“ (Arendt, Hannah, Lecture Course at the University of Chicago: “Basic Moral Propositions”, Hannah Arendt Papers, Library of Congress, Container 41, Siebzehnte Stunde, S. 024560.)

29Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft, (Werkausgabe, Bd. 10, hg. v. Wilhelm Weischedel), Frankfurt a. M. 1997, S. 225 (§ 40).

30Arendt, Hannah, Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, München 1985, S. 94.

31Ebd.

32Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft, (Werkausgabe, Bd. 10, hg. v. Wilhelm Weischedel), Frankfurt a. M. 1997, S. 225 (§ 40).

33Arendt, Hannah, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hg. v. Ursula Ludz, München Zürich 2005, S. 22.