Ausgabe 1/2, Band 6– November 2011
Erzählweisen der Erinnerung
Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ und Steven Spielbergs „Schindlers Liste“
Wolfgang Heuer
Es
versteht sich von selbst, dass Ereignisse der Vergangenheit an Orte und
Handelnde gebunden sind, sie spielen eine entscheidende Rolle bei
Erinnerung und Geschichte. Sinn und Bedeutung von Orten und Handlungen
in der Vergangenheit hängen von den Zusammenhängen ab, in denen wie
stehen, und jede Veränderung der Kontexte verändert auch die Sinngehalte
der Ereignisse selber. Ich möchte einige Folgen einer solchen
Veränderung mit einem Vergleich von Hannah Arendts „Eichmann in
Jerusalem“ mit Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ exemplarisch
verdeutlichen, der eine Tatsachengeschichte von ihrem dem Kontext
ablöste und dadurch Orte und Handelnde veränderte.
Vorab
aber zunächst eine etwas ungewöhnliche Vorbemerkung zu der Bedeutung,
die Ort und Handelnde bei Erinnerung und Geschichte spielen. Es scheint
so, als ob die offizielle europäische Geschichte und Politik gerade von
deren Abwesenheit geprägt wird - der Abwesenheit von Orten und
Handelnden.
1. Ortlose Geschichte
In
Brüssel entsteht derzeit ein „Haus der Europäischen Geschichte “. Es
soll passend zum Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100
Jahren im Jahr 2014 eröffnet werden. Dieses Projekt wurde im Jahr 2007
von dem deutschen Präsidenten des Europaparlaments Hans-Gert Pöttering
mit den folgenden Worten angeregt: „Ich möchte einen Ort der Erinnerung
und der Zukunft anregen, an dem das Konzept der Idee Europas weiter
wachsen kann. Ich möchte den Aufbau eines ‘Hauses der Europäischen
Geschichte’ vorschlagen. Es soll [...] ein Ort sein, der unsere
Erinnerung an die europäische Geschichte und das europäische
Einigungswerk gemeinsam pflegt und zugleich offen ist für die weitere
Gestaltung der Identität Europas durch alle jetzigen und künftigen
Bürger der Europäischen Union.”
Ein Expertenteam von sieben Historikern und zwei Historikerinnen aus
neun Ländern hat die konzeptionellen Grundlagen in einem 28seitigen
Paper erstellt.
Die
Begriffe ‚locus’ und ’place’ sind irreführend. Es handelt sich
lediglich um das Haus der Geschichte und nicht um die Orte, an denen sie
stattfanden, und nicht um die Geschichten, die sich ereigneten. In
diesem Paper werden in 116 nummerierten Abschnitten thematische
Schwerpunkte aneinander gereiht, die von den „ Formen höherer, bereits
‘europäischer’ Kultur ... im Umkreis des Nils, des Euphrats und des
Tigris”
bis zum EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens 2007 reichen. Wie zu
befürchten, gehen diese Experten von einem Kultur- und
Fortschrittsverständnis aus, das Europa als
griechisch-römisch-humanistisch, christlich und der Wissenschaft
verpflichtet begreift. Nicht erwähnt wird die Rolle, die die arabische
Kultur für die Entwicklung der Renaissance spielte, nicht die
Vertreibung der Mauren aus Spanien, nicht die jüdische Geschichte,
nicht die Geschichte des Antisemitismus, nicht die französische
Revolution, nicht die Bedeutung der sozialen und politischen Bewegungen,
nicht die Verbrechen des Kolonialismus. Letzterer wird nur als
Angelegenheit politischer Rivalitäten abgehandelt.
Auch die Bürgerbewegungen in Osteuropa, mit Ausnahme von Solidarnosc,
werden nicht erwähnt, und schließlich auch nicht die gegenwärtigen
Migrationen.
Von den jeweiligen Orten, den
Regionen und kulturellen Räumen gesäubert erscheint diese Fiktion der
europäischen Geschichte in einem leeren Raum, und ohne die Akteure
erscheint sie wie von Geisterhand bewegt. Mit dieser Art von
Geschichtspolitik diskreditieren die beteiligten Historiker/innen nicht
nur ihren Ruf und den der Geschichtswissenschaft, sondern
widersprechen auch dem Geist der Pluralität und Diskussion innerhalb der
Gemeinschaft demokratischer und föderaler Gesellschaften in Europa.
Eine gemeinsame europäische Geschichte setzt die Wahrnehmung der ganzen
Vielfalt der unterschiedlichen Geschichten voraus, das Erzählen all
dieser Geschichten und das Einnehmen der Perspektiven der jeweils
Anderen.
Auf seltsame Weise entspricht diesem
ort- und menschenlosen Geschichtsverständnis die Ort- und
Menschenlosigkeit der Geldscheine des Euro. Brücken, die über nichts und
ins Nichts führen, Fenster und Fassaden ohne Häuser, Kolonnaden ohne
Straßen und Plätze und Türen zum Nichts. Sinnlose,
kommunikationsunfähige Orte, Nicht-Orte, Menschenleere.
Der
Filmemacher Wim Wenders hat darauf hingewiesen, dass Geschichten die
Tendenz haben, sich von ihren Orten zu entfernen. Amerikanische Filme
zeichnen sich durch eine Story aus, deren Orte meistens austauschbar
sind, während europäische Filme, so Wenders, stärker von einem
Orts-Sinn, von regionalen und lokalen Eigenarten geprägt sind. Wenders
hat diesem Orts-Sinn die Schlüsselrolle bei seiner filmischen Arbeit
zugewiesen. Für seine Filme sind Orte die stärksten Bildgeber, sie
schreiben die Geschichte, nicht der Drehbuchschreiber, für dessen Script
nur noch der passende Ort gesucht werden muss. Für Wenders waren die
überall in Berlin zu findenden Engel Inspirationsquelle für den Film
„Der Himmel über Berlin“ und die in Palermo zu findenden Totenschädel
für seinen Film „Palermo Shooting“. Neben den Orten sind für Wenders
zweitens die Charaktere genauso Geschichten bildend, erstaunliche
Figuren, Menschen und ihre Erfahrungen, die Geschichten schreiben und
nicht bloße Marionetten von Events sind.
Beides,
der Orts-Sinn und die Charaktere, sind ebenso für die Erzählung von
Geschichte von entscheidender Bedeutung. Geschichte findet immer als
menschliches Handeln an bestimmten, von Menschen geprägten Orten statt.
Die Entfernung von diesen Orten und die Erzählung der Geschichte ohne
ihre spezifische Zeit und ihren spezifischen Ort ändert zwangsläufig
ihren Gehalt.
Der Vergleich von Arendts
„Eichmann in Jerusalem“ mit Spielbergs “Schindlers Liste“ wird zeigen,
wie Arendt ein Narrativ des Sagens dessen, was ist, entwickelte, während
Spielberg die ortlose Story eines zeitlosen Holocaust erzählt.
2. „Eichmann in Jerusalem“ – Bilder einer Erzählung
„Sagen was ist“, ist für Arendt in Anlehnung an Herodot die Aufgabe des Historikers,
und sie verteidigte diese Aufgabe mit ihrem Essay „Wahrheit und
Politik“ als Antwort auf die andauernde Kontroverse um ihren Bericht vom
Prozess in Jerusalem. Zu der faktischen Wahrheit, die Arendt nicht
verschweigen wollte, gehörte eben auch die Tatsache, dass der Prozess
„den tiefsten Einblick in die Totalität des moralischen Zusammenbruchs
gewährt, den die Nazis in allen, vor allem auch den höheren Schichtender
Gesellschaft ganz Europas verursacht haben – nicht allein in
Deutschland, sondern in fast allen Ländern, nicht allein unter den
Verfolgern, sondern auch unter den Verfolgten“.
Diese sich während des Prozesses offenbarende Wahrheit war unbequem und
wurde, wie so oft in solchen Fällen, als bloße Meinung und in diesem
speziellen Fall als unangebrachte Polemik und fehlende Liebe Arendts zum
jüdischen Volk kritisiert.
Es ging in
diesem Prozess, wie Leora Bilsky in ihrem Aufsatz „Between Justice and
Politics. The Competition of Storytellers in the Eichmann Trial“
ausführte, um eine Bewertung der Geschehnisse, die sich
notwendigerweise in unterschiedlichen narrativen Formen niederschlug.
Während der Ankläger Hausner die Geschichte zweiteilte und nur die
klassische jüdische Geschichte erzählen wollte und auf die Erzählung der
Opfer setzte, um die Bedeutung des Staates Israel zu unterstreichen,
setzte Arendt auf eine Erzählung, die alle Fakten einschließen sollte,
um nicht Lücken im kollektiven Gedächtnis durch Verschweigen oder
Selbstbetrug entstehen zu lassen. Damit zielte sie auf eine umfassende
historische Bewertung, die sich vor allem auf die neue Art der
Verbrechen konzentrierte. Und sie ging über die partikularistische Sicht
der Verbrechen am jüdischen Volk hinaus zu der der Verbrechen an der
Menschheit, ohne eine ausschließlich universalistische Sicht
einzunehmen. Vielmehr, so Bilsky, wählte Arendt „a universalistic
approach while speaking within the particularity of the Jewish
experience.“
Darüberhinaus
ging es Arendt nicht um „a ‚final judgment’ that would master the
events once and for all. This could not have been further from Arendt's
intentions. In her view, judgment cannot be reduced to the court
decision with this title, nor is it the whole book where Arendt
struggles to render Eichmann's acts and deeds meaningful. Rather,
judgment is an act of narration that sets a process in motion; an act of
participation in the public realm, informed by a sense of individual
responsibility to the community. A sign of a good judgment is the way
that it binds together actors and spectators in a human community. Such
was indeed the effect of Arendt's book. It was not meant to produce
consensus but to set in motion a process of deliberation and public
debate.“
So
schrieb Arendt in den Worten Bilskys ein „counternarrative, the story
that was not told but should have been told in the courtroom.“
Arendt bezeichnet ihren Bericht als geschichtliche Monographie, in
deren Mittelpunkt der Angeklagte steht und bei dem es um einen
unbekannten Verbrechenstyp, den Verwaltungsmassenmord geht. Dabei
konzentriert sie sich auf drei thematische Schwerpunkte, die
moralischen, politischen und juristischen Aspekte des Prozesses, den
sie auf vier Ebenen schildert: erstens der Prozess als Theater mit
seiner Dynamik, zweitens die Person des Angeklagten, dessen
Urteilsfähigkeit und Gewissen und die Dekonstruktion des radikal Bösen,
drittens die Beschreibung des historischen Ablaufs der Vernichtung und
viertens die Unzulänglichkeit des Gerichts und das abschließende
Plädoyer für die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofs.
Ich will kurz auf die ersten drei Ebenen eingehen, die das Spezifische dieses Berichts deutlich machen:
Erstens der Prozess als Theater:
er findet nicht nur in einem ursprünglich als Theater errichteten
Gebäude statt, er nimmt auch zwangsläufig die Gestalt eines
Theaterstücks mit allen Handelnden an: dem Ankläger, dem Angeklagten,
den Richtern, den Zeugen und dem Publikum, die allesamt interagieren.
Das Stück, der Prozessverlauf, hat seine eigene Dramatik: Der Ankläger
will im Auftrag Ben Gurions, des „unsichtbaren Regisseurs“,
einen politischen Prozess. Der Angeklagte erweist sich weder als
herkömmlicher Massenmörder noch in seiner Klischeehaftigkeit und
Lächerlichkeit als unzurechnungsfähig. Er hat ein schlecht sitzendes
Gebiss und kurzsichtige Augen, „und streckt den ganzen Prozess hindurch
seinen dürren Hals zur Richterbank“ und bemüht sich „verzweifelt ...
Haltung zu bewahren“ trotz seines „nervösen Zuckens“.
Die Richter wiederum sind altmodisch und haben Mühe, Verbrecher und Tat
zu begreifen, in Arendts Worten: „Es ist vielleicht ein Beweis für die
‚Güte’ dieser drei Männer, für ihren ungebrochenen und ein wenig
altmodischen Glauben an die moralischen Grundlagen ihres Berufs, dass
sie Eichmann niemals ganz verstanden haben.“
Das Publikum schließlich besteht in dem oft halbleeren Saal aus
„’Überlebenden’, alten, bestenfalls älteren Menschen, Emigranten aus
Europa wie ich selbst, die längst auswendig wussten, was es da zu wissen
gab.“
Nichts
entspricht der üblichen Erwartung eines Prozesses und der Rolle, die
die Beteiligten darin üblicherweise spielen. Dieses Counternarrative
gipfelt dann in der Feststellung, dass es „gerade die Greuel (waren),
unter deren Gewicht der Schauspielcharakter des Prozesses
zusammenbrach.“
Nicht nur stand nicht mehr der Angeklagte allein im Mittelpunkt des
Prozesses, auch waren die „Lehren, die der Prozess erteilten sollte, ...
zum Teil überflüssig und zum Teil geradezu irreführend“.
Allenfalls der Zeuge K-Zetnik, der in seinen endlosen und
unaufhaltsamen Aussagen unterbrochen wurde und daraufhin in Ohnmacht
fiel, hatte noch theatralischen Charakter.
Die
Zeugen schließlich konnten kaum Neues zum Prozess beitragen, bei ihnen
war auch nicht „die Gabe, Geschehenes einfach wiederzugeben, ...die
Regel“.
„In den endlosen Sitzungen,“ so Arendt, „stellte sich heraus, wie
schwer es ist, eine Geschichte zu erzählen, dass es hierzu – jedenfalls
außerhalb jener Verwandlung, welch der Dichtung eignet - einer Reinheit
der Seele, einer ungespiegelten und unreflektierten Unschuld des
Herzens und Geistes bedarf, die nur die Gerechten besitzen.“
Zu den wenigen Ausnahmen gehörte der Bericht Abba Kovners über den
Retters Anton Schmidt, ein Bericht, der, so Arendts eindrückliches Bild,
„wie ein plötzlicher Lichtstrahl inmitten dichter, undurchdringlicher
Finsternis“ wirkte.
Zweitens die Person des Angeklagten:
Eichmann verkörpert als Hauptperson zugleich eine Anti-Person, die in
allen wichtigen Fragen nicht dem Bild eines monströsen Täters
entspricht. Dieser Mann entpuppt sich nicht als Ungeheuer, sondern als
„Hanswurst“.
Seine Hauptmängel sind Wichtigtuerei und “seine nahezu totale
Unfähigkeit, jemals eine Sache vom Gesichtpunkt des anderen her zu
sehen“.
Seine Sprache ist skurril, wobei das Grauenhafte in Arendts Ohren
komisch klingt und komisch auch sein „heldenhafter Kampf mit der
deutschen Sprache“
ist, bei dem er Metaphern verwechselt und Klischees aneinanderreiht.
Sein Gedächtnis erscheint wie „ein Speicher, vollgestopft mit
Privatgeschichten von der niedrigsten Sorte“.
„Je länger man ihm zuhörte, desto klarer wurde einem, dass diese
Unfähigkeit, sich auszudrücken, auf engste mit einer Unfähigkeit zu
denken verknüpft war.“ Er schwelgt in wechselnden Stimmungen, was alles zusammen seine „unbestreitbare Lächerlichkeit“
ausmacht. Alles, was Eichmann auf eigene Initiative unternommen hatte,
ging schief, „das ganze Leben war wie eine Kette von Pechsträhnen
gewesen.“
Drittens die Beschreibung des historischen Ablaufs der Vernichtung:
Die ausführliche Darstellung der Vernichtung lässt Arendt auf einen
moralischen Zusammenbruch schließen, der nicht nur die Täter betraf,
sondern weite Teil der Bevölkerung. Das, was man unter Gewissen
versteht, sah Arendt als so gut wie verloren an,
und Eichmanns Gewissen scheint vor allem immer wieder durch die
Tatsache beruhigt worden zu sein, „dass er weit und breit niemanden,
absolut niemanden entdecken konnte, der wirklich gegen die ‚Endlösung’
gewesen wäre.“ So hatte er „also reichlich Gelegenheit, sich wie Pontius Pilatus ‚bar jeder Schuld’ zu fühlen.“
Als in dem Prozess die Rede auf die Judenräte kam, handelte es sich
für Arendt um „die Rolle der jüdischen Führer bei der Zerstörung ihres
eigenen Volkes“, das „für Juden zweifellos ... dunkelste Kapitel in der
ganzen dunklen Geschichte.“ Es handelte sich wie erwähnt um den „tiefsten Einblick in die Totalität des moralischen Zusammenbruchs“,
der alle Kreise der Gesellschaft erfasst hatte. Daher bleibt die
Geschichte des einfachen Soldaten Anton Schmidt, der Juden vor der
Vernichtung rettete, so ungewöhnlich: Nicht nur, weil sein Handeln so
selten war und „die Belanglosigkeit bloßen Anstands“ besaß, sondern weil seine Tat auch verhinderte, dass mit den Opfern auch die Erinnerung vernichtet wurde.
3. „Schindlers Liste“
Spielbergs
Film unterscheidet sich in allen wesentlichen Fragen von Arendts
„sagen, was ist“ und ihrem Urteil über die „Totalität des moralischen
Zusammenbruchs“. In „Schindlers Liste“ stehen sich die Hauptperson,
Oskar Schindler, der Retter seiner jüdischen Zwangsarbeiter, und der
SS-Mann Amon Goeth, Kommandant eines Arbeitslagers gegenüber, umgeben
von weiteren Nazi-Funktionären und der Gruppe der jüdischen Opfer. Goeth
verkörpert im Unterschied zu Eichmann das sadistische Böse. Er lässt
seiner Mordlust freien Lauf und erschießt im Lauf der Zeit mehr als 500
Lagerinsassen. In ihrer historischen Studie “Erinnerung im globalen
Zeitalter: Der Holocaust“ über den Wandel der öffentlichen Diskussionen
über den Holocaust in Israel, Deutschland und den USA in den vergangenen
60 Jahren erwähnen die Autoren Daniel Levy und Natan Sznaider diesen
Unterschied. Arendt habe betont, dass Eichmann nicht Jago und nicht
Macbeth gewesen sei und nicht wie Richard III. beschlossen habe, ein
Bösewicht zu werden. „Mit dieser Bemerkung wollte sie das Böse
entpersonalisieren und im System des Totalitarismus ansiedeln. Spielberg
brachte es wieder auf die Ebene des Individuums zurück. Goeth war Jago
und beschloss, ein Bösewicht zu werden.“
Goeth war skrupellos, brutal, willkürlich und korrupt, er ließ sich von
Schindler bestechen. Alkohol, Frauen und Gewalt waren seine
Leidenschaften, denen er keine Grenzen setzte.
Eichmann
dagegen hatte keine sadistischen Neigungen und konnte Besuche in
Vernichtungslagern nur schwer ertragen; er war auch nicht bestechlich.
Auch wenn Goeth historisch richtig dargestellt wird, so ist er doch
nicht repräsentativ für die Angehörigen eines totalitären Systems, das
auf Ideologie und Parteidisziplin und deshalb eben auf Hintanstellung
individueller Vorlieben und Leidenschaften beruhte, auf Regeln und nicht
auf Regellosigkeit. Was der Film nicht erzählt, ist die Tatsache, dass
Goeth wegen Bestechlichkeit von der SS verhaftet wurde und vor Gericht
gestellt werden sollte, was das Kriegsende verhinderte. In einem
ähnlichen Fall wurde der ehemalige Lagerkommandant von Buchenwald, Karl
Koch, wegen Bestechlichkeit zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Während die SS keine individuellen Bereicherungen zuließ, erscheint das
Nazi-System in Spielbergs Film als ein System zügelloser
Individualisten.
Im Mittelpunkt des Films aber
steht die Figur Schindler. Ein geschickter, amoralischer Selfmademan,
Parteimitglied, Lebemann, der voller Selbstbewusstsein agiert. Seine
Stärke liegt in der Präsentation und Vermarktung seiner Produkte, in
der Korrumpierung einflussreicher Stellen, in Schwarzmarktgeschäften.
Nicht das Glück, sondern der Krieg ist das Mittel seines lang erhofften
Erfolges, erklärt er, und dieser Krieg bietet ihm die unerwartete
Gelegenheit zu einer preiswerten Fabrikübernahme und Ausbeutung
billiger, jüdischer Arbeitskräfte. Mit der SS gerät er in Konflikt,
weil sie seine rechte Hand, seinen Buchhalter, deportieren will. Erst
als seine Arbeiter in ein Arbeitslager deportiert werden und er sie nur
mit Schmiergeldern als Arbeitskräfte erhalten kann, wird ihm bewusst,
dass er helfen kann. Und als Hilfeersuchen an ihn gerichtet werden und
er als guter Mensch, als Retter bezeichnet wird, wird ihm bewusst, dass
es nicht nur um Arbeitskräfte, sondern um Menschen geht. Das ruft eine
starke Menschlichkeit wach, die tief in ihm schlummert. In einem
ergreifenden Gespräch tröstet er Helene, die jüdische Angestellte
Goeths, die unter der regellosen Willkür Goeths leidet. Und in einem
Gespräch mit Goeth macht ihm Schindler klar, dass wahre Macht nicht in
der Freiheit zu morden besteht, sondern darin, töten zu können, es aber
nicht zu tun, was Goeth auch für kurze Zeit zögern lässt, weiter zu
morden. Schindler versucht immer dort zu helfen, wo er ist. So lässt er
die Wagen eines Deportationszugs, der in der sengenden Sommersonne auf
dem Bahnhof steht, zur Abkühlung mit Wasser besprühen. Als das Lager
aufgelöst und die Insassen nach Auschwitz deportiert werden sollen,
rettet er erneut, diesmal 1.100 Menschen, die er auf der berühmt
gewordenen Liste aufführt und in eine Fabrik nach Tschechien bringt, in
der er Munition herstellen will. Und noch einmal rettet er mit
Bestechung, als die schon geretteten Frauen versehentlich nach Auschwitz
gefahren werden. In seiner Fabrik stellt er schließlich während der
letzten Monate bis Kriegsende kriegsuntaugliche Munition her.
Am
Ende der Geschichte ist Schindler pleite und bekennt in einer
ergreifenden Abschiedsrede vor seinen Arbeitern, dass er von
Sklavenarbeit gelebt und nun dafür gejagt werden würde und er es den
Wachmannschaften freistelle, die Arbeiter zu liquidieren oder einfach zu
gehen. Er gibt jedem Arbeiter Stoff, Wodka und Zigaretten und beklagt,
dass er nicht mehr Menschen retten konnte.
Schindler
wandelt sich aufgrund der Herausforderungen vom Egoisten zum
Altruisten, vom Ausbeuter zum Retter. „Was ich in dieser Zeit mehr als
alles andere gelernt habe,“ erklärt Spielberg nach den Filmarbeiten,
„ist die Erkenntnis, dass ein einzelner Mensch wirklich und wahrhaftig
Dinge verändern kann. Ein einzelner Mensch kann anderen Menschen - in
einem übertragenen Sinn - wieder Leben einhauchen. Oskar Schindler war
so ein Rechtschaffener.“
Er musste sich nur dazu entschließen, mehr war dazu nicht nötig, denn
er war ja ein moralisch intakter, zutiefst humaner Mensch. Größer als
die Anderen, schön und in hellen Anzügen, rhetorisch überlegen und
moralisch weise agierte er mit Superman-Pose. Er ist der Inbegriff des
amerikanischen Unternehmers, der anfangs auch selbstbewusst die Beine
auf den Schreibtisch legt. „Der Krieg bringt Schlimmes hervor,“ erklärt
er, und meint das bestialische Verhalten; die totalitäre Herrschaft,
die den Krieg hervorbrachte, bleibt unerwähnt.
Die
Opfer erscheinen als einheitliche, kulturelle und religiöse
Gemeinschaft, als unschuldig und kultiviert. Die Rolle der Kapos wird
nur kurz und milde berührt, die Judenräte bleiben unerwähnt. Am Schluss
wird eine Gruppe der überlebenden, so genannten Schindler-Juden gezeigt
und erklärt, dass in Polen nur 4.000 Juden überlebten, die Zahl der
Schindler-Juden mit ihren Nachkommen aber 50 Jahre später bereits auf
6.000 angewachsen sei.
4. Entkontextualisierung der Erzählung
Wir
haben es bei „Schindlers Liste“ mit dem Narrativ der jüdischen
Geschichte zu tun, wie es auch Hausner in dem Eichmann-Prozess
anstrebte, zugleich aber auch mit einer deutlichen Verschiebung der
Perspektive. Die Botschaft lautet nun nicht mehr: hier sehen wir die
Totalität des moralischen Zusammenbruchs der Gesellschaft, sondern: Ein
ausgeprägter Egoismus, der auch vor der Ausnutzung von Krieg und
Zwangsarbeit nicht Halt macht, steht nicht im Widerspruch zu einer
ausgeprägten Menschlichkeit, die im Notfall einsatzbereit ist. Die
Unterscheidung von richtig und falsch, gut und böse, funktioniert. „Man
kann retten, wenn man sich nur dazu entschließt!“
Der bedrohlichen These Arendts, es handele sich um einen moralischen
Zusammenbruch einer ganzen Gesellschaft, wird deutlich widersprochen.
Retter und Opfer sind davon unberührt. Ebenso wird der beunruhigenden
These Arendts von der Entpersönlichung, der Anti-Person Eichmanns
widersprochen. Arendts These von der Banalität des Bösen, die so oft als
verharmlosend missverstanden wurde, ist viel beunruhigender als das
radikal Böse Goeths. Dieses vermeintlich schrecklichere Böse des Amon
Goeth hätten die Jerusalemer Richter besser verstanden.
Das
Beunruhigende einer in moralischen und politischen Fragen
urteilsunfähigen Gesellschaft weicht einer beruhigenden
Gegenüberstellung der Guten und Bösen. Die Guten, die nicht in ihrer
Urteilsfähigkeit vom Totalitarismus beeinträchtigt sind, und die Bösen,
die ihren grenzenlosen Leidenschaft erliegen und von der Vernunft und
Menschlichkeit der Guten in ihre Schranken verwiesen werden können.
Spielberg
erzählt kein Counternarrative, sondern führt eine „counternarrative“
Wirklichkeit in die klassische Geschichte des Kampfs zwischen den
Protagonisten des Guten und des Bösen zurück, wie sie schon Aristoteles
als adäquates Erzählmodell in seiner Poetik niederlegte und allen
erfolgreichen Hollywoodfilmen zugrunde liegt.
Aus
all dem wird deutlich, dass, obwohl die Geschichte des Films auf
Tatsachen beruht, sie entkontextualisiert und damit von ihrem
historischen Ort entfernt. Damit verändert Spielberg auch zugleich die
Charakteren. Retter und Opfer entsprechen heutigen
Durchschnittsmenschen in liberalen Demokratien, die sich mit einer
intakten moralischen Urteilsfähigkeit einer wild gewordenen
tyrannischen Herrschaft ausgesetzt sehen. Damit wird der Film
überraschend aktuell. „Spielberg hat immer wieder behauptet,“ so Levy
und Sznaider, „der Film handele von Bosniern in Serbien oder von
schwarzen Amerikanern.“ Als sich schwarze Jugendliche in Oakland über
die Verfolgungsszenen in „Schindlers Liste“ lustig machten, eilte
Spielberg hin und „rief einen neuen Kurs in der dortigen Schule ins
Leben: ‚The Human Holocaust: The Afro-American Experience’.“
Diese Entkontextualisierung hat einen dreifachen Perspektivwechsel zur Folge:
erstens die Entwicklung der Zeugenperspektive,
mit der sich das heutige Deutschland der Nachkriegsgenerationen voll
und ganz identifizieren kann. Daher der einhellige Erfolg des Films in
Deutschland. Levy und Sznaider drücken das so aus: „Schindler sind alle,
die retten wollen. Goeth sind alle, die töten wollen, und die Juden
sind die Opfer überall.“
Damit ist zweitens eine Universalisierung des Holocaust
möglich. Das Holocaust Memorial Museum in Washington drückt diese
Universalisierung aus. Das Museum steht nicht nur an prominentem Ort der
Museumsmeile der amerikanischen Geschichte und vermittelt den Eindruck,
der Holocaust sei Teil der amerikanischen Geschichte, sondern die
Ausstellung beginnt auch bezeichnenderweise mit der Befreiung von
Lagerhäftlingen durch amerikanische Soldaten.
Der
Holocaust ist darüber hinaus nicht nur ein Ereignis der Vergangenheit,
sondern eine ständige Bedrohung, eine Warnung zur ständigen Wachsamkeit
gegenüber seiner möglichen Wiederholung. Die Ernsthaftigkeit des
Versprechens „Nie wieder Auschwitz“ wurde am Fall Bosnien, Kosovo und
Ruanda auf den Prüfstand gestellt und seit der Stockholmer
Holocaust-Konferenz 2000 zur Verpflichtung aller europäischen Staaten.
Drittens schließlich entspricht die Entkontextualisierung dem Ende der Erinnerung.
Die Generation der Beteiligten lebt praktisch nicht mehr, niemand mehr
verfügt über ihre Erfahrungen. Dieser Verlust ist nicht belanglos und
nicht einfach durch Informationen und Wissen ersetzbar. Denn Erfahrungen
sind mehr als bloße Erlebnisse und tiefer im Bewusstsein verankert als
rationales Wissen. Sie sind Teil eigener Orientierungen und
Wissensbestände, die wiederum von einer intersubjektiven Alltagspraxis,
einem „konjunktiven Erfahrungsraum“
geprägt sind. Dieser konjunktive Erfahrungsraum ist nun auch, so der
Wissenssoziologe Karl Mannheim, die Grundlage des Verstehens. Die
Aneignung von Geschichte im Sinn des Verstehens vollzieht sich auf der
Grundlage gemeinsam geteilter impliziter Wissensbestände. Dieses
Verstehen unterscheidet sich von Interpretieren, Reflexion und
Wissenschaft, die eine Explikation dieser Wissensbestände erfordert.
So
hat eine nicht selbst erfahrene Vergangenheit Folgen für das Verstehen
die Art ihrer Aneignung. Die Gegenwart des eigenen konjunktiven
Erfahrungsraums ist viel stärker, prägt das Bild von die Vergangenheit
und entkontextualisiert sie. Darum lag die Versuchung für Spielberg
nahe, die vermeintliche Aktualität der Story herauszuarbeiten und sie
damit zugleich zu entorten und die Charakteren zu verändern. Er
transponiert sie an unseren Ort und in unsere Welt. Wir sehen uns darin
selber, nicht die Anderen, wir verstehen unsere Welt, nicht die Welt
des Totalitarismus. Arendts konjunktiver Erfahrungsraum ist der
Totalitarismus, Spielbergs konjunktiver Erfahrungsraum die liberale
Demokratie.
5. Mediale Erzählungen
Hinzu
kommt die besondere Rolle, die die Medien bei der Bildproduktion
spielen, nicht nur der Pictures, sondern vor allem auch der Images. Bei
der Darstellung von Geschichte sind in den vergangenen Jahrzehnten die
Medien weit einflussreicher als die Historiker gewesen.
Geschichtswissenschaft versteht sich immer noch als Textwissenschaft und
hat es bislang versäumt, zu erkennen, dass Spielfilme auch kollektive
Geschichtsbilder konstruieren.
Und dort, wo Historiker bei dokumentarischen Fernsehproduktionen zum
Nationalsozialismus und entsprechenden TV-Sendungen mitwirken, erliegen
sie leicht der Versuchung des „Hitler sells“, was Einschaltquoten
erhöht, aber zugleich die ganze Problematik des Totalitarismus auf die
Herrschaft des Führers reduziert.
Dass
man erfolgreiche historische Spielfilme auch anders, nämlich als
Counternarratives, drehen kann, zeigen die beiden Filme von Clint
Eastwood, „The Flags of our Fathers“ und „Letters from Iwo Jima“, beide
2006 gedreht. Die Filme zeigen die Schlacht um die gleichnamige
japanische Insel während des Zweiten Weltkriegs jeweils aus der Sicht
der amerikanischen und der japanischen Truppen. „The Flags of our
Fathers“ demontiert den amerikanischen Mythos von Helden und
heldenhaftem Krieg. Das berühmte Photo der Flaggenhissung auf dem
umkämpften Berg der Insel, Vorbild der Skulptur des U.S. Marine Corps War Memorial inU.S. Marine Corps War Memorial Arlington
National Cementery, war bloß gestellt, und die Helden, die angeblich
die Flagge gehisst hatten, wurden durch die USA gekarrt, um die
kriegsmüde Bevölkerung zur Zeichnung weiterer Kriegsanleihen zu bewegen.
Die Story folgt keinem Hollywood-Aristotelismus, sondern springt in der
Rekonstruktion der Geschichte vor und zurück, was Eastwood als
dramaturgische Schwäche angekreidet wurde.
Um
ein Beispiel für das Counternarrative zu nennen: Drucilla Cornell weist
in ihrem Buch über Eastwoods Filme auf eine Szene zu Beginn des Film
hin, die gegen Spielbergs „Saving Private Ryan“ (1998) gerichtet ist. In
Spielbergs Film wird eine Eliteeinheit in das gerade besetzte
Frankreich losgeschickt, um den Soldaten Ryan heil in die USA
zurückzubringen, weil all seine Brüder bereits umgekommen sind. Dass
der Kriegsalltag anders aussah und sich weder Staat noch Armee um das
Private eines Soldaten kümmerten, zeigt Eastwood in einer Szene von „The
Flags or our Fathers“, als während der Fahrt eines Konvois von
Kriegsschiffen auf Iwo Jima ein Mann über Bord geht. Ein Soldat wirft
einen Rettungsring hinterher, aber er geht verloren. „Oh they’ll pick
him up,“ sagt ein anderer, aber der Konvoi mit dutzenden Schiffen und
tausenden von Soldaten hält nicht wegen eines einzelnen Soldaten. „So
much for ‚no man left behind’“ kommentiert die Hauptperson einen hohlen,
ständig gebrauchten Slogan. Das Schicksal eines einzelnen, private
Soldier interessiert nicht.
Der
zweite Film, „Letters from Iwo Jima“ nimmt die andere Perspektive auf
dasselbe Geschehen ein und zeigt die individuellen Gesichter des
japanischen Feindes: den Kommandanten Lieutenant General Kuribayashi,
der in den USA studiert hatte und sich in seiner Persönlichkeit in
seinen bewegenden Briefen an seine Familie offenbar, und den
Springreiter Baron Takeichi Nishi, der bei den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles eine Goldmedaille gewonnen hatte.
Die
Filme von Eastwood versuchten, für die nicht erfahrene Vergangenheit
eine möglichst nahe Erzählweise zu finden. Sie führen eine andere Art
des Erzählens vor, des Sagens was ist. Und außerdem unternehmen sie
auch eine andere Art der Entkontextualisierung: nicht eine
Entkontextualisierung, die entortet, die Handelnden verändert und das
Verstehen von Erfahrung und Erinnerung unmöglich macht, sondern eine
Entkontextualisierung, die die nationalen Beschränkungen, Interessen
und nationalen Geschichtsschreibungen überschreitet. Sie überschreitet
die Ausschließlichkeit des Partikularen, ohne in den Fehler eines
entkontextualisierten Universalismus zu verfallen.
Anmerkungen