Ausgabe 1/2, Band 6 – November 2011
In den Untiefen des Allzumenschlichen
Hilberg vs. Arendt
Hilbergs Vorwürfen ist bisher kein Arendt- oder Hilberg-Forscher im einzelnen nachgegangen, obwohl die Manuskripte zu Arendts Bericht in ihrem Nachlass erhalten und zugänglich sind. Bei einer entsprechenden Prüfung wäre auch zu diskutieren, auf was sich Arendt eingelassen hat, als sie Eichmann in Jerusalem nicht als wissenschaftliches Werk verfasste, sondern sich dem journalistischen Format des New Yorker anpasste. Auf Fuß- oder Endnoten, wie sie Hilberg einfordert, und einen entsprechenden Apparat hat sie damit bewußt verzichtet. Gleichermaßen ist ihr bekannt gewesen, dass die Redaktion des Magazins üblicherweise Texte gründlich lektoriert und viel Wert auf die Vermittlung von Wissen im Sinne von Tatsachen legt, die sie mit ihrem »Checking Department« (Mary McCarthy im Brief an Arendt, 17. 8. 1959) überprüft. Arendt hatte ihr Manuskript im Sommer 1962 fertiggestellt, im Oktober wurde es, wie aus einem Brief an McCarthy hervorgeht (30. Oktober 1962), vom New Yorker angenommen. Welche Veränderungen (von wem) in der dreimonatigen Herstellungszeit vorgenommen wurden und an welchen Punkten sich die Artikel in The New Yorker von der am 15. März veröffentlichten Buchausgabe unterscheiden, ist bisher nicht systematisch erforscht worden. So fehlen wichtige Grundlagen, um über Hilbergs »items« zu urteilen.
Anmerkungen
1Ich danke Ingeborg Nordmann und Thomas Wild, die eine erste Fassung des Manuskriptes lasen, für ihre wertvollen Kommentare und Anregungen.
2Gary Smith, »Einsicht aus falscher Distanz«, in: Ders., Hrsg., Hannah Arendt Revisited: »Eichmann in Jerusalem« und die Folgen, Frankfurt am Main (edition suhrkamp 2135), 2000, S. 7-13, S. 7.
3Anlass hierzu sind auch neuerliche Veröffentlichungen nach Hilbergs Tod (2007): Nathaniel Popper, »A Conscious Pariah: On Raul Hilberg«, in: The Nation, April 19, 2010 (Internet-Version, 31-03-2010, pages 1-11), und Jonathan A. Bush, »Raul Hilberg (1926-2007) in Memoriam«, in: Jewish Quarterly Review 10, Heft 4, Fall 2010, S. 661-688 (auch im Internet einsehbar). Während Poppers Artikel sich voll auf das Thema Hilberg-Arendt konzentriert und eine ausgleichende Darstellung versucht, nimmt Bush eine umfassende (apologetische) Würdigung Hilbergs vor, in der er sich, was Arendt betrifft, auf Popper bezieht und teilweise kritisch mit dessen Auffassungen auseinandersetzt.
4Neumann starb 1954, bevor Hilberg seine Dissertation beendet hatte. – Über Raul Hilbergs akademische Lehrer und seine Karriere informiert Christopher R. Browning ausführlich in seinem Nachruf »Raul Hilberg«, in: Yad Vashem Studies 35 (2), 2007, S. 7-20, S. 7f.
5Raul Hilberg, The Destruction of the European Jews, revised and definitive edition, 3 Bde., New York-London: Homes & Meier, 1985, Bd. I, S. IX. Die erste amerikanische Ausgabe des Werkes erschien 1961, die erste deutsche Übersetzung unter dem Titel Die Vernichtung der europäischen Juden 1982. Hier schreibt Hilberg im Vorwort (datiert 15. Mai 1982): »Die deutsche Übersetzung stellt [...] eine erweiterte Ausgabe der ursprünglichen amerikanischen Fassung dar [...].« Das Vorwort zur deutschen Ausgabe entspricht nicht dem hier zitierten der englischen »definitive edition«.
6Hannah Arendt und Kurt Blumenfeld, »… in keinem Besitz verwurzelt«: Die Korrespondenz, hrsg. von Ingeborg Nordmann und Iris Pilling, Hamburg: Rotbuch, 1995, S. 43.
7Dt. in: Über den Totalitarismus: Texte Hannah Arendts aus den Jahren 1951 und 1953, aus dem Englischen übertragen von Ursula Ludz, Kommentar von Ingeborg Nordmann, Berichte und Studien Nr. 17 des Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden 1998, S. 12f.
8Vorwort von 1966, übersetzt von Michael Schröter, zu Teil III (Totale Herrschaft) von Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, ungekürzte Ausgabe, München: Zürich (Serie Piper 645), 1986, S. 473-494, S. 474.
9Von Hilberg wissen wir es genauer, er schreibt in seinen Erinnerungen: »Weder lernte ich sie kennen, noch schrieben wir einander, und ich hörte sie bloß zweimal in öffentlichen Vorträgen – wovon mir nur ihre entschiedene und eindringliche Art zu sprechen in Erinnerung blieb.« Raul Hilberg, Unerbetene Erinnerung: Der Weg eines Holocaust-Forschers, aus dem Amerikanischen von Hans Günter Holl, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1994, S. 128. Die amerikanische Ausgabe des Buches unter dem Titel The Politics of Memory: The Journey of a Holocaust Historian, erschien erst zwei Jahre nach der autorisierten deutschen Übersetzung.
10Hilberg, Unerbetene Erinnerung, S. 132.
11Hilberg, Unerbetene Erinnerung, S. 135.
12Gordon Hubel an Hannah Arendt, 8. April 1959, siehe Hannah Arendt Papers, Library of Congress, Folder »Princeton University Press«.
13Hilberg, Unerbetene Erinnerung, S. 135. Hilberg hat offenbar übersehen, dass Arendt, auch wenn sie einen Scheck des Verlages erhielt, nur beratend vom eigentlichen Gutachter hinzugezogen worden war. Er irrt auch insofern, als er von einem Brief Arendts an den Verlag schreibt. – Den langen »Weg der Publikation« seines Werkes bis zur Erstveröffentlichung im Jahr 1961 durch den Verlag Quadrangle Books schildert Hilberg ausführlich a.a.O., S. 92-103. In der Rückschau beschreibt Christopher R. Browning («Raul Hilberg«, S. 18) das Schicksal des Buches wie folgt: »At first ignored and then attacked, Hilberg’s work only gradually attained the recognition that it deserved, and it did so solely by ist own merits, without any publicity hype.«
14Die Erklärung ist wiederabgedruckt in Hannah Arendt und Joachim Fest, Eichmann war von empörender Dummheit: Gespräche und Briefe, hrsg. von Ursula Ludz und Thomas Wild, München-Zürich: Piper, 2011, S. 109-112, Zitat dort auf S. 109.
15Siegfried Moses (aus New York) an Hannah Arendt, 7. März 1963, als Faksimile aus dem Bestand der Hannah Arendt Papers in der Library of Congress abgedruckt von Klaus Naumann in seinem Artikel, »Sympathy for the Devil? Die Kontroverse um Hannah Arendts Prozeßbericht >Eichmann in Jerusalem<«, in: Mittelweg 36, Februar/März 1994, S. 72. Vgl. auch Hannah Arendt, »>The Formidable Dr. Robinson<: A Reply [to Walter Laqueur]«, siehe Anm. 25, wieder abgedruckt in Hannah Arendt, The Jewish Writings, hrsg. von Jerome Kohn und Ron H. Feldman, New York: Schocken, 2007, S. 496-511, S. 507 (der Brief ist hier offenbar fälschlicherweise auf den 3. März datiert).
16Hannah Arendt an Siegfried Moses, 12. März 1963, hier zitiert nach Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt: Leben, Werk und Zeit, aus dem Amerikanischen von Hans Günter Holl, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1986, S. 477 und 695 (Anm. 62).
17Der Psychoanalytiker und Psychologe Bruno Bettelheim (1903-1990) war mit seinem Buch The Informed Heart: Autonomy in a Mass Age, das 1960 erschien, aus ähnlichen Gründen wie Arendt und Hilberg massiven öffentlichen Angriffen ausgesetzt. Er gehörte zu den wenigen, die Arendts Eichmann in Jerusalem gleich nach Erscheinen positiv würdigten, in The New Republic, 20. Juli 1963.
18Young-Bruehl, Hannah Arendt, S. 494f. Young-Bruehl stützt sich hier auf einen nicht veröffentlichten Bericht über die Versammlung, den »ein junger Jude«, Harris Dienstfrey, Arendt übersandt hatte, siehe auch S. 697, Anm. 102. Zur Veranstaltung vgl. ferner Irving Howe, A Margin of Hope: An Intellectual Autobiography, San Diego etc.: Harcourt Brace Jovanovich, 1982, S. 274.
19Hilberg, Unerbetene Erinnerung, S. 133.
20Hannah Arendt und Karl Jaspers, Briefwechsel 1926-1969, hrsg. von Lotte Köhler und Hans Saner, München-Zürich, Neuausgabe 1993 (Serie Piper, 1757), S. 585f.; wörtlich zitiert bei Hilberg, Unerbetene Erinnerung, S. 134, dort (S. 135) auch ein Zitat aus einem Brief Arendts an Klaus Piper (22. Januar 1963), in dem sie sich ähnlich äußert. – Arendts Einschätzung der Einleitung, die Hilberg seinem Buch voranstellt, erhält eine zusätzliche Bestätigung in dem Artikel »German Motivations for the Destruction of the Jews« (Midstream 9, June 1965, 23-40), den Hilberg im Zusammenhang mit Eichmannprozess und Eichmannkontroverse veröffentlichte, übrigens ohne einen Hinweis auf Arendt. Der letzte Absatz (S. 37-38) lautet: »The destruction of the Jews was a tour de force. An alignment of all the motivation theories against the available facts yields that conclusion as a residue. We are thus left with a crude contour of the hypothetical German mind. It is the image of a German who walked with fleeting fantasms. Frustrations nurtured and reinforced them. In a technological bureaucracy he found an impersonal medium for their realization. Obscure memories of a medieval heritage shrouded him with protective symbols. Propaganda supplied him with rationalizations. Ambitions spurred him on. And below, a helpless victim, twitching in pain, was ready for the fatal blow.«
21Hilberg, Unerbetene Erinnerung, S. 135; Ders., The Politics of Memory (siehe Anm. 8), S. 157: »She, the thinker, and I, the laborer who wrote only a simple report, albeit one which was indispensable once she had exploited it: that was the natural order of her universe.«
22Im folgenden beziehe ich mich nur auf die deutsche Ausgabe, die im Text unverändert 2011 in einer Neuauflage erschien: Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen, mit einem einleitenden Essay und einem Nachwort zur aktuellen Ausgabe von Hans Mommsen, München-Zürich: Piper (Erweiterte Taschenbuchausgabe 6478), 2011. Die folgenden wörtlichen Zitate dort auf den Seiten 51, 153, 209.
23Hilberg, Unerbetene Erinnerung, S. 129. In dieser Auffassung bestätigt ihn Hugh Trevor-Roper in seiner Besprechung von Eichmann in Jerusalem (The Sunday Times, 13. Oktober 1963), siehe die bei N. Popper (»A Conscious Pariah«, Internet-Version S. 6) mitgeteilten Zitate.
24Popper, »A Conscious Pariah«, Internet-Version S. 2.
25Ibid..
26Wörtlich bei Hilberg: »The Jewish >Führer< in Berlin, as one of Eichmann’s people called Rabbi Leo Baeck, was picked up in his home …«, The Destruction of the European Jews, Bd. 1, S. 448. Bei Arendt heißt es in der Ausgabe des New Yorker und der ersten englischen Auflage in einem Nebensatz über Leo Baeck: »who in the eyes of both Jews and Gentiles was the >Jewish Fuehrer<«. Diesen Nebensatz hat Arendt aufgrund der vielen privaten und öffentlichen Proteste in späteren Fassungen von Eichmann in Jerusalem gestrichen. – Die Behauptung, dass Arendt die Formulierung »the Jewish Führer« von Hilberg übernommen hat, ist wahrscheinlich durch Jacob Robinson in die Öffentlichkeit gelangt. Sie ist oft wiederholt worden, siehe Popper, »A Conscious Pariah«, Internet-Version S. 7; vgl. auch Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt, S. 498f. – Robinson zeichnet verantwortlich für ein Buch, in dem Arendts Eichmann in Jerusalem aus offizieller israelischer Perspektive minutiös kritisiert und kommentiert wird: And the Crooked Shall Be Made Straight: The Eichmann Trial, the Jewish Catastrophe, and Hannah Arendt's Narrative (New York: Macmillan, 1965), der Hinweis auf die Hilberganleihe bezüglich »Jewish Führer« dort auf S. 173. Auf eine freundlich gesinnte Besprechung des Robinson-Buches durch Walter Laqueur antwortete Arendt unter der Überschrift »The Formidable Dr. Robinson«, siehe The New York Review of Books, 11. November 1965 (Laqueur), 20. Januar 1966 (Arendt), 3. Februar 1966 (Laqueur). In diesen und weiteren Nummern der NYRB auch zahlreiche Leserbriefe zum Thema.
27Hannah Arendt an Rabbi Herman E. Schaalman, 27. März 1963 (aus Basel), The Hannah Arendt Papers at the Library of Congress; Correspondence – Organizations – Jewish – B-F – 1963-1965 (Series Adolf Eichmann File, 1938-1968, n.d.), Image 22, die Anfrage Schaalmans dort als »image 21«.
28Hannah Arendt, »Jüdische Politik«, deutschsprachiges Manuskript im Arendt-Nachlass in der Library of Congress (online nicht einsehbar), wahrscheinlich geschrieben 1942 für die Zeitschrift Idea Sionista, aber nicht veröffentlicht; bisher nur in englischer Sprache, übersetzt von John E. Woods, in Arendt, The Jewish Writings, S. 241-243, das Zitat dort auf S. 243.
29Raul Hilberg und Alfons Söllner, »Das Schweigen zum Sprechen bringen: Über Kontinuität und Diskontinuität in der Holocaustforschung«, in: Merkur 42, Juli 1988, S. 535-551, S. 548. Vgl. auch Hilberg später (1994), Unerbetene Erinnerung, S. 128.
30Eine gekürzte Version seiner Laudatio erschien in der Süddeutschen Zeitung vom 3. Dezember 2002.
31Browning, »Raul Hilberg«, S. 7.
32In einer Sendung des Deutschlandfunks, siehe SPIEGEL-Online, 6. August 2007.