Ausgabe 1, Band 5, November 2009
Hannah Arendt – Literatur, Urteilskraft und Politik
Maike Weißpflug
RWTH Aachen
Das Ziel meines im Oktober 2008 begonnenen Dissertationsprojekts ist eine Neubeschreibung, eine neue Perspektive auf die politische Theorie Hannah Arendts, die das Verhältnis von politischer Urteilskraft und der Rezeption „schöner“ Literatur als Quelle politischer Erfahrungen ins Zentrum setzt.
Die erste Frage, der sich ein Forschungsprojekt angesichts der Vielzahl an veröffentlichten Arbeiten über Hannah Arendt zu stellen hat, lautet wohl unumgänglicherweise: Warum eine weitere Arbeit über Hannah Arendt, warum der Versuch einer Neubeschreibung ihres politischen Denkens? Zwar bezeugt die anhaltende Rezeption ein ungebrochenes Interesse, lässt aber auch die Vermutung aufkommen, dass die relevanten Aspekte der politischen Theorie Arendts bekannt und beschrieben sind. Diese Vermutung setzt jedoch zwei möglichen Annahmen voraus, zwei ideengeschichtliche Unterstellungen aus: die eine könnte man mit Nietzsche eine antiquarische, die andere eine universalisierende nennen. Die erste Haltung ist historisierend: sie kann einer politischen Theorie zwar eine Relevanz zusprechen, platziert sie aber damit gleichsam in einer Vitrine; sie ist für uns dann nur noch von historischem Interesse. Die universalisierende Unterstellung hingegen geht davon aus, eine klassische politische Theorie wie die Hannah Arendts erhalte ihre Bedeutung für uns Heutige von ihrem Anteil an ewigen Wahrheiten, universell gültigen Sätzen über das menschliche Zusammenleben. Während die antiquarische ideengeschichtliche Auffassung einer Theorie nur innerhalb ihres spezifischen historischen Kontextes Bedeutung zumessen kann, muss die universalisierende gerade die Zeit- und Erfahrungsgebundenheit einer Theorie zurückweisen. Beide Haltungen sind problematisch. Die erste kann nicht erklären, warum auch klassische Theorien zu bestimmten Zeiten und in ganz neuen gesellschaftlichen Konstellationen erneut Bedeutung gewinnen können; ich erinnere hier an Axel Honneths durch Habermas inspirierte Aneignung von Hegels Kategorie der Anerkennung. Gegen die antiquarische Auffassung spricht also, dass politische Theorien, die zwar immer in einem bestimmten historischen Kontext entstanden sind, der sich von unserem heutigen unterscheidet, aber durchaus das Potential in sich tragen, aktualisierend gelesen zu werden. Gegen die zweite, universalisierende Auffassung lässt sich das genaue Gegenteil einwenden: dass die Probleme des Politischen immer einen Bezug zu den spezifischen gesellschaftlichen Gegebenheiten einer Zeit stehen; zudem könnte eine solche Auffassung gar nicht erklären, warum neue politische Phänomene und Probleme auftreten; sie müssten alle schon von Beginn an dagewesen sein. Ich gehe von einer anderen, dritten Auffassung politischer Ideengeschichte aus, nämlich davon, dass politische Theorien immer wieder neu gelesen werden müssen, dass sie ihre Relevanz immer wieder von neuem zeigen und sich um neue Bedeutungsschichten anreichern – und zwar im Bezug auf die Probleme unserer Gegenwart. Man kann eine solche Herangehensweise mit Walter Benjamin eine aktualisierende nennen.
Anknüpfend an diese Überlegungen im Umgang mit „klassischen“ Texten der politischen Theorie vertrete ich die Auffassung, dass wir beginnen müssen, die Theorien des 20. Jahrhunderts neu zu bewerten und uns zu fragen, was von ihnen bleibt. Die Frage nach der Aktualität beinhaltet natürlich auch diejenige nach der Rolle, die die politischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts im heutigen politischen Denken noch spielen sollen. Dies gilt in einem sehr starken Maße für die politische Theorie von Hannah Arendt – denn zusätzlich zu der eingangs skizzierten allgemeineren Problemlage stellt Hannah Arendts politisches Denken gewissermaßen einen ideengeschichtlichen Sonderfall dar: Sie stammt aus einem politischen Kontext, der immer noch dem Prozess der Historisierung unterliegt. Jan Assmann spricht angesichts dieses Wandels von einer Epochenschwelle: „wenn die lebendige Erinnerung vom Untergang bedroht und die Formen kultureller Erinnerung zum Problem werden.“ (Das kulturelle Gedächtnis, München 1997, S. 11) Und dieser Vorgang kann nach wie vor nicht als abgeschlossen gelten; der Umgang mit den Ereignissen, die das 20. Jahrhundert prägten und die Rolle, die diese im heutigen politischen Leben und Bewusstsein spielen sollen, sind nach wie vor umkämpft. Dies spiegelt sich auch in der Umstrittenheit von Begriffen, wie z.B. Hannah Arendts Begriff des Traditionsbruchs, wider oder zeichnet sich in der nach wie vor diskutierten Frage ab, ob die Shoa mit anderen Verbrechen verglichen werden darf oder ein singuläres Ereignis darstellt. Wenn man davon ausgeht, dass sich politische Theorien nicht unabhängig von den Fragen und Problemen der Gesellschaft, in der sie entstehen oder rezipiert werden, entwickeln, dann bedeutet dies auch, dass der Blick, den wir auf die Theorie von heute aus richten, sich ändert. Dies muss ganz besonders für ein politisches Denken gelten, dass in engster Tuchfühlung mit der Gewalterfahrung des 20. Jahrhunderts entstanden ist und würde erklären, warum Hannah Arendts politische Theorie in der aktuellen intellektuellen Landschaft eine derart paradoxe Stellung innehat: einerseits gilt sie, gerade auch in der öffentlichen Wahrnehmung, als Klassikerin politischen Denkens, andererseits ist die Aktualität ihrer politischen Theorie, hier vor allem innerhalb der humanwissenschaftlichen akademischen Disziplinen, äußert umstritten.
Ich möchte in meiner Dissertation der Frage nach der Aktualität von Hannah Arendts politischem Denken nachgehen. Die Annahme, die meiner Dissertation zugrunde liegt, ist, dass die Aktualität Hannah Arendts in erster Linie in ihrer Haltung, in dem Wie ihres politischen Denkens zu finden ist, und diese Annahme korrespondiert mit der Forderung nach der Erfahrungsgebundenheit politischer Theorie, oder, um das Vokabular der älteren kritischen Theorie zu sprechen: mit der Auffassung, die Wahrheit einer Gesellschaftstheorie habe immer einen Zeitkern. Dabei möchte ich den Fokus auf zwei wesentliche Aspekte dieses Wie richten: Erstens auf Hannah Arendts Konzeption der politischen Urteilskraft, die im Kern besagt, dass politisches Denken als Urteilen verstanden werden kann; ich möchte die Konzeption der Urteilskraft benutzen, um Arendts Auffassung und Praxis politischer Theorie (der Begriff Methode würde hier zu kurz greifen) zu beschreiben und zu reflektieren. Zweitens möchte ich die Rezeption, die Bedeutung von literarischen Texten, ihre Erschließung als Quelle politischer Erfahrungen untersuchen. Es geht mir jedoch nicht nur darum, eine kohärente Neubeschreibung des politischen Denkens Hannah Arendts vorzulegen, sondern vielmehr einen bestimmten Typus politischer Theorie zu beschreiben.
Philosophie, Literatur und Politik
„Nun stellt sich aber heraus, dass nicht Plato, der Philosoph, sondern auch Perikles, der Staatsmann […], es sich anlegen ließ, ‚Homer und seinesgleichen‘ in ihre Grenzen zu verweisen, und daß Perikles hierfür ganz andere Gründe zitiert. Er sagt ausdrücklich, daß es zur Größe Athens gehöre, nicht des Homers und der Dichter zu bedürfen, um das Getane und Gesprochene, also das eigentlich Politische, unsterblich zu machen.“ (Hannah Arendt, Kultur und Politik)
Die Frage, welche Rolle die Literatur innerhalb des politischen Denkens Hannah Arendts spielt, ist in jüngerer Zeit häufiger aufgeworfen worden. Ich möchte mit meiner Dissertation einen Beitrag dazu leisten, diese Diskussion systematisierend zu vertiefen und zugleich untersuchen, inwiefern diese neue Perspektive, die man auf Hannah Arendt werfen kann, nicht auch umgekehrt einen Beitrag zur Diskussion über die Möglichkeiten politischer Theorie darstellen kann. Hannah Arendt kritisiert die Tradition politischer Philosophie nicht nur dafür, den abstrakten Maßstab der theoria über das Politische zu stellen, sondern auch dafür, dass sie die Literatur als Quelle und Reflexionsinstanz politischer Erfahrung nicht anerkennt. Man kann mit Arendt von einem Urkonflikt zwischen Philosophie und Literatur sprechen, der in Platons Staat eine eindringliche Darstellung findet; er gründet in erster Linie auf einer politischen Auseinandersetzung – Sokrates empfiehlt, die Dichter aus der polis, aus dem Gemeinwesen zu verbannen. „Daß schon ein alter Streit zwischen Philosophie und Dichtung besteht“ (Platon, Der Staat), resultiert dabei möglicherweise aus zwei grundsätzlich unverträglichen Fassungen des Politischen. Strebt der Philosoph politische Souveränität, Selbstbestimmung, Sicherheit und Ordnung durch den Gebrauch der Vernunft an, stellen die Dichter, und allen voran die Tragödiendichter, gerade das notwendige Scheitern von Souveränität im (politischen) Handeln dar. Man könnte also sagen, dass wir es in der Beziehung von Philosophie, Politik und Literatur von Beginn an mit einem konfliktreichen Dreiecksverhältnis zu tun haben. Welche Konsequenz kann man für das politische Denken daraus ziehen? Vielleicht kann politische Theorie als der Ort verstanden werden, an dem über die Beziehung dieser drei Bereiche zueinander nachgedacht wird. Die Annahme, Literatur könne eine systematische Funktion für die politische Theorie haben, spricht ihr eine Erkenntnisfunktion zu: Durch Literatur und Dichtung werden neue Erfahrungen zu Sprache, werde Erfahrung erst kommunizierbar und für die abstrakten Kategorien politischer Theorie zugänglich. Anders gesagt: Dichtung besitzt semantisches Innovationspotential und welterschließenden Charakter. Hannah Arendts politische Interpretationen zeigen, dass Literatur nicht erst dann politisch zu nennen ist, wenn sie ausdrücklich Politisches thematisiert – Literatur kann immer schon einen politischen Kern, eine politische Bedeutung in sich tragen. Ein eindrückliches Beispiel für eine solche politische Lektüre literarischer Texte stellt ein Seminar in politischer Theorie dar, das Hannah Arendt unter dem Titel Political Experience in the Twentieth Century 1968 an der New School in New York gehalten hat. Die umfangreiche Leseliste für die Studierenden besteht, neben ganz wenigen theoretischen Texten, zum größten Teil aus schöner Literatur. Man findet dort Ernst Jünger, In Stahlgewittern und William Faulkner, A Fable; dann ausgewählte Gedichte von Bert Brecht und von William Yeats, Jean Paul Sartres La Nausée, Der Ekel; André Malraux, La Condition Humaine, George Orwells 1984, Hemingways For Whom the Bell Tolls, dazu Texte von Solschenitzyn, Joseph Heller und René Char. Arendt verstand ihre Seminare als „Übungen in Einbildungskraft“ und die Literatur, die Erzählung, scheint dafür, wenn man Arendt folgt, das vortreffliche Medium zu sein. Was hat das mit politischer Theorie zu tun? Auch hier findet man eine kurze Auskunft in Arendts Seminarnotizen: „Die Unterscheidung zwischen Theorie und Gedanken: über jedes Ereignis, das überhaupt erinnert wird, wird nachgedacht. Das Erzählen einer Geschichte ist der geeignete Weg, darüber nachzudenken. Daraus entsteht Theorie.“ Politische Theorie, deren Aufgabe es nach Hannah Arendt ist, das Neue, Ereignishafte politischen Handelns zu beschreiben, zu interpretieren und zu deuten, d.h. mit Sinn zu versehen, kann sich das Erkenntnispotential der Literatur erschließen, indem sie der begrifflich-analytischen Arbeit die Interpretation literarischer Texte an die Seite stellt und beide wechselseitig aufeinander bezieht. Hannah Arendts Praxis des storytellings möchte ich im Anschluss daran als den Versuch verstehen, die welterschließende Kraft des Erzählens mit dem Anspruch theoretischer Begriffsbildung zu verbinden. Ich möchte dieses Verfahren politischer Theorie als Kritik verstehen: als ständige Überprüfung der Begriffe auf ihren Erfahrungsgehalt hin; als Möglichkeit, neue politische Phänomene zu erkennen und zu beurteilen; schließlich als intervenierende und streitbare Form politischen Denkens.
Juli 2009
Maike Weißpflug, M.A.
c/o Institut für Politische Wissenschaft
RWTH Aachen
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52074 Aachen
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