Es gibt nur ein einziges Menschenrecht
Hannah Arendt
Vorbemerkung der Redaktion: Mit freundlicher Genehmigung des Hannah Arendt Bluecher Literary Trust veröffentlichen wir eine gescannte Fassung von Hannah Arendts Essay, „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“, erschienen in Die Wandlung, 4. Jg., Herbstheft 1949, Dezember 1949, S. 754-770. Wir haben den Zeilen- und Seitenumbruch des Originals übernommen und die Originalseitenzahlen am Ende der jeweiligen Seite eingefügt.
Die Menschenrechte, welche die Revolutionen des 18. Jahrhun-
derts feierlich zum Prinzip aller gesitteten Nationen prokla-
miert hatten, wurden erst nach dem ersten Weltkrieg eine An-
gelegenheit praktischer Politik. Das 19. Jahrhundert pflegte an sie
zu appellieren in allen den Fällen, in denen das Individuum von
der wachsenden Staatsmacht oder von der steigenden sozialen
Ungerechtigkeit im Zeitalter der industriellen Revolution allzu
offensichtlich bedroht war. Dadurch trat fast unmerklich die
Idee der Menschenrechte selbst in einen neuen Bedeutungszu-
sammenhang: sie wurden zu einer Art von zusätzlichem Gesetz,
zu einem Ausnahmerecht für die Unterdrückten, auf die sich
ihre Beschützer beriefen, als stellten sie ein Minimum an Recht
dar für die Entrechteten.
Damit hängt zusammen, daß der Begriff der Menschenrechte
im politischen Denken des 19. Jahrhunderts so gut wie keine
Rolle spielte, und daß selbst im 20. Jahrhundert, als zum ersten-
mal große Gruppen von Menschen auftauchten, die in eklatan-
ter Weise aller Rechte beraubt waren, sich keine liberale oder
radikale Partei bereit fand, eine neue Proklamation der Men-
schenrechte in ihr Programm aufzunehmen. Wenn die Men-
schenrechte wirklich den Grundstein der Verfassungen aller
zivilisierten Länder bildeten, dann mußten die variierenden
Gesetze der Staatsbürger der verschiedenen Länder das unab-
dingbare Recht des Menschen, das an sich als von Staatsbürger-
schaft und nationaler Zugehörigkeit unabhängig konzipiert wor-
den war, in sich verkörpern und konkretisieren. Da alle Men-
schen Staatsbürger irgendeines politischen Körpers waren,
konnte man erwarten, daß sie selbst es sich angelegen sein las-
sen würden, die Menschenrechte in jeweils verschiedenen lega-
len Formen zu verwirklichen; sollte aber eine Despotie sie ihrer
Menschenrechte beraubt haben, so waren sie im Sinne der poli-
tischen Philosophie des 18. Jahrhunderts verpflichtet, durch
revolutionäre Aktion ein neues Staatswesen zu gründen.
Weder das 18. noch das 19. Jahrhundert kannte Menschen, die,
obgleich sie in zivilisierten Ländern leben, in keinem dieser
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Länder Staatsbürgerrecht genießen und so in eine Situation
absoluter Gesetz- und Schutzlosigkeit gedrängt sind. Erst die
Hunderttausende von staatenlosen Flüchtlingen in den zwan-
ziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts, denen Mil-
lionen von displaced persons in den vierziger Jahren auf dem
Fuße gefolgt sind, haben die Frage der Menschenrechte wieder
auf die Tagesordnung der lebendigen Politik gebracht. Alle
politischen und sozialen Katastrophen unserer Zeit, Kriege oder
Revolutionen, haben in erschreckender Monotonie die Masse
der absolut Recht- und Heimatlosen vermehrt und das Problem
solcher Rechtlosigkeit in neue Länder und Kontinente ver-
schleppt. Kein anderes Problem kehrt mit gleicher Beharrlich-
keit und mit gleicher Aussichtslosigkeit auf befriedigende Lö-
sung auf allen internationalen Konferenzen der letzten zwanzig
Jahre wieder. Und kein Paradox zeitgenössischer Politik ist
von einer bittereren Ironie erfüllt als die Diskrepanz zwischen
den Bemühungen wohlmeinender Idealisten, welche beharrlich
Rechte als unabdingbare Menschenrechte hinstellen, deren sich
nur die Bürger der blühendsten und zivilisiertesten Länder er-
freuen, und der Situation der Entrechteten selbst, die sich eben-
so beharrlich verschlechtert hat, bis das Internierungslager, das
vor dem Kriege doch nur eine ausnahmsweise realisierte Dro-
hung für die Staatenlosen war, zur Routine-Lösung des Auf-
enthaltsproblems der displaced persons geworden ist.
Verschlechtert hat sich sogar die auf die Rechtlosen angewandte
Terminologie. Mit der Benennung »Staatenlose« war zuminde-
stens noch anerkannt, daß sie den Schutz ihrer Regierungen ver-
loren hatten und zur Sicherung ihres legalen Status internatio-
naler Vereinbarungen bedurften. Die Nachkriegsbezeichnung
»displaced persons« ist ausdrücklich erfunden worden, um diese
störende »Staatenlosigkeit« ein für allemal einfach durch Igno-
rieren aus der Welt zu schaffen. Nichanerkennung der Staaten-
losigkeit heißt immer Repatriierung, Rückverweisung in ein
»Heimatland«, das entweder den Repatriierten nicht haben
und als Staatsbürger nicht anerkennen will oder das umgekehrt
ihn nur allzu dringend zurück wünscht, nämlich zum Zwecke
des Strafvollzugs. In diesem Sinne drückt der Terminus dis-
placed persons die einzige de facto bestehende internationale
Übereinkunft aus. Keines der nicht-totalitären Länder hat bis-
her allerdings von der Möglichkeit erzwungener Repatriierung
Gebrauch gemacht und diese Tatsache zeigt, daß die Nichtan-
erkennung der Staatenlosigkeit und die Unfähigkeit, die Recht-
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losen unter das Dach einer irgendwie gearteten Legalität zu
bringen, nicht einfach schlechtem Willen zugeschrieben werden
kann.
Staatenlosigkeit in Massen-Dimensionen hat die Nationen der
Welt faktisch vor die unausweichliche und höchst verwirrende
Frage gestellt, ob es überhaupt unabdingbare »Menschenrechte«,
das heißt Rechte gibt, die unabhängig von jedem besonderen
politischen Status sind und einzig der bloßen Tatsache des
Menschseins entspringen. Wo immer Leute aufgetaucht sind, die
nicht mehr Staatsbürger eines souveränen Staates waren, und
ob das selbst in einem Lande geschah, dessen Konstitution aus-
drücklich auf die Menschenrechte gegründet ist, da haben sich
die angeblich unabdingbaren und unverlierbaren Menschen-
rechte als undurchführbar und unerzwingbar erwiesen. (Wenn
die Vereinigten Staaten staatenlose Einwanderer völlig gleich
anderen Ausländern behandelt haben, so nur deswegen, weil
dieses Einwanderungsland par excellence Neuankömmlinge,
ungeachtet ihrer früheren nationalen Zugehörigkeit, prinzipiell
als potentielle eigene Staatsbürger betrachtet.)
Theoretisch gesehen, haben die neuerlichen Versuche, eine neue
Charta der Menschenrechte aufzusetzen, bewiesen, daß niemand
mit einiger Sicherheit zu definieren weiß, was denn diese allge-
meinen Menschenrechte, im Unterschied von Staatsbürgerrech-
ten, eigentlich sind. Es mag darum nützlich sein, einmal die
legale Lage der Rechtlosen selbst zu analysieren, um zu sehen,
welcher Art von Rechten sie verlustig gingen, als sie ihre Men-
schenrechte verloren.
Zuerst einmal haben die Rechtlosen die Heimat verloren, und
das heißt die gesamte soziale Umwelt, in die sie hineingeboren
wurden und innerhalb derer sie sich ihren Platz in der Welt
geschaffen hatten. Solches Unglück ist in der Geschichte keines-
wegs neu; in weiter historischer Perspektive nehmen sich aus
politischen oder wirtschaftlichen Gründen erzwungene Wan-
derungen von Individuen oder ganzen Volksgruppen wie all-
tägliche Ereignisse aus. Beispiellos in der Geschichte ist nicht
der Verlust der Heimat, wohl aber die Unmöglichkeit, eine
neue zu finden. Jählings gab es auf der Erde keinen Platz mehr,
wohin Wanderer gehen konnten, ohne den schärfsten Ein-
schränkungen unterworfen zu sein, kein Land, das sie assimi-
lierte, kein Territorium, auf dem sie eine eigene Gemeinschaft
errichten konnten. Dabei hatte diese Unmöglichkeit keineswegs
ihren Grund in der Übervölkerung; menschenleere Länder be-
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nahmen sich nicht anders als übervölkerte; es war kein Raum-
problem, sondern eine Frage politischer Organisation. Nie-
mand hatte bemerkt, daß das Menschengeschlecht, das man sich
so lange unter dem Bilde einer Familie von Nationen vorge-
stellt hatte, ein Stadium erreicht hatte, wo jeder, der aus einer
dieser geschlossenen politischen Gemeinschaften ausgeschlossen
wurde, sich p1ötzlich aus der gesamten »Familie der Nationen«
ausgeschlossen fand.*
Zusammen mit ihrer Heimat verloren die Rechtlosen den Schutz
ihrer Regierung; und das brachte den Verlust eines legalen
Status nicht nur in ihrem eigenen, sondern in allen Ländern
mit sich. Gegenseitigkeitsverträge und internationale Abkom-
men haben ein Netz über die Erde gesponnen, das es dem Staats-
bürger jedes Landes ermöglicht, seinen legalen Status mit sich
zu tragen, wohin er immer gehen mag (was z.B. die Folge hatte,
daß unter dem Naziregime ein deutscher Staatsangehöriger auf
Grund der Nürnberger Gesetze auch im Auslande daran ver-
hindert werden konnte, eine ‚Mischehe‘ einzugehen). Wer aber
nicht mehr von diesem Netze mitumfaßt ist, der ist aus dem
Rahmen der Legalität überhaupt herausgeschleudert – so daß
zum Beispiel die Staatenlosen sich während des 1etzten Krieges
durchgängig in einer schlimmeren Position befanden als die
jeweiligen feindlichen Ausländer, die von ihren Regierungen
indirekt auf dem Wege internationaler Abkommen beschützt
werden konnten. Der Verlust des Regierungsschutzes ist in der
Geschichte so wenig unbekannt wie der Verlust der Heimat.
Zivilisierte Länder haben seit der Antike Flüchtlingen, die aus
politischen Gründen von ihren Regierungen verfolgt wurden,
Asylrecht geboten; und obgleich diese Praxis niemals offiziell
in irgendeiner Verfassung verankert war, hat sie doch das
ganze 19. Jahrhundert und sogar noch in unserem Jahrhundert
leidlich funktioniert. Die Schwierigkeiten begannen, als sich
herausstellte, daß die neuen Kategorien von Verfolgten bei
weitem zu zahlreich waren, als daß man sie durch eine Praxis,
die auf Ausnahmefälle berechnet war, hätte bewältigen kön-
* Die wenigen Möglichkeiten der Wiedereingliederung, die den Flücht-
lingen offenstanden, gründeten sich meistens auf deren Nationalität. Spa-
nische Flüchtlinge wurden bis zu einem gewissen Grade in Mexiko will-
kommen geheißen. Die Vereinigten Staaten führten Anfang der zwanziger
Jahre ein Quotensystem ein, das jeder im Lande bereits vertretenen Natio-
nalität sozusagen das Recht gab, proportional ihrem numerischen Anteil an
der Gesamtbevölkerung eine Anzahl ihrer früheren Landsleute ins Land
zu bringen.
/ 757 /
nen. Hinzu kam, daß die überwiegende Mehrheit der moder-
nen Flüchtlingsmassen ihren Anspruch auf Asylrecht kaum
nachweisen kann, da dieses Recht voraussetzt, daß der Verfolgte
politische oder religiöse Überzeugungen hat, welche im Asyl-
lande nicht außerhalb des Gesetzes stehen. Die neuen Flücht-
linge aber sind nicht verfolgt, weil sie dieses oder jenes getan
oder gedacht hätten, sondern auf Grund dessen, was sie unab-
änderlicherweise sind – hineingeboren in die falsche Rasse,
die falsche Klasse, oder von der unrichtigen Regierung zu den
Waffen geholt (wie im Falle der spanischen republikanischen
Armee).* Die Notwendigkeit einer neuen Proklamierung der
Menschenrechte hat mit dem Schicksal des echten politischen
Flüchtlings nur wenig zu tun. Die notwendigerweise stets wenig
zahlreichen politischen Flüchtlinge erfreuen sich noch in vielen
Ländern des Asylrechts, und dieses Recht wirkt sich, wenn auch
inoffiziell, faktisch als ein echter Ersatz des nationalen Rechts
aus.
Es gehört zu den Aporien moderner Erfahrung, daß es leichter
zu sein scheint, einen völlig Unschuldigen seiner Legalität zu
berauben als einen Mann, der eine politisch feindselige Hand-
lung verübt oder ein gewöhnliches Verbrechen begangen hat.
»Wenn man mich bezichtigt, die Türme von Notre Dame ge-
stohlen zu haben, so fliehe ich« – dieser berühmte Scherz von
Anatole France hat eine fürchterliche Realität angenommen.
Juristen, die daran gewöhnt sind, das Gesetz im Begriff der
Strafe zu formulieren, deren Vollzug ja immer gewisser Rechte
beraubt, werden es vielleicht noch schwerer verstehen als der
Laie, daß der Verlust des gesamten legalen Status, die kom-
plette Entrechtung, in keinerlei Zusammenhang mehr mit be-
stimmten Vergehen steht.
II
Diese Situation bringt die vielen Schwierigkeiten ans Licht, die
im Begriff der Menschenrechte enthalten sind. Wie immer sie
* Wie gefährlich es sein kann, „unschuldig“ im Sinne der verfolgenden
Regierung zu sein, stellte sich besonders klar heraus, als die amerikanische
Regierung während des letzten Krieges allen durch den Auslieferuugspara-
graphen des deutsch-französischen Waffenstillstandsabkommens bedrohten
deutschen Flüchtlingen Asylrecht bot. Der Zufluchtsuchende mußte natür-
lich beweisen, daß er etwas gegen die Naziherrschaft getan habe. Dieser Be-
dingung konnten nur sehr wenige deutsche Flüchtlinge entsprechen, und
diese waren kurioserweise gerade nicht diejenigen, welche am meisten ge-
fährdet waren.
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einst definiert wurden (als Recht auf Leben, Freiheit und Stre-
ben nach Glück in der amerikanischen, oder als Gleichheit vor
dem Gesetz, Freiheit, Schutz des Eigentums und nationale Sou-
veränität in der französischen Fassung) und wie man auch ver-
suche, eine zweideutige Formulierung wie »Streben nach Glück«
oder eine antiquierte wie das unqualifizierte »Recht auf Eigen-
tum« zu verbessern – die reale Situation derjenigen, die im
20. Jahrhundert aus dem Rahmen des Gesetzes überhaupt her-
ausgefallen sind, zeigt deutlich, daß der Verlust partikularer
Rechte niemals absolute Rechtlosigkeit nach sich zieht. Der Sol-
dat ist während des Krieges seines Rechtes auf Leben beraubt,
der Verbrecher geht seines Rechtes auf Freiheit verlustig, alle
Staatsbürger büßen in einer Notlage ihr Recht auf Streben
nach Glück ein: niemand aber wird behaupten, daß in irgend-
einem solchen Fall ein Verlust der Menschenrechte vorläge.
Und andererseits können diese Rechte selbst unter der Bedin-
gung fundamentaler Rechtlosigkeit weiter funktionieren.
Das Unglück der Rechtlosen liegt nicht darin, daß sie des Lebens,
der Freiheit, des Strebens nach Glück, der Gleichheit vor dem
Gesetz oder der Meinungsfreiheit beraubt sind; ihr Unglück ist
mit keiner der Formeln zu decken, die entworfen wurden, um
Probleme innerhalb gegebener Gemeinschaften zu lösen. Ihre
Rechtlosigkeit entspringt einzig der Tatsache, daß sie zu keiner
irgendwie gearteten Gemeinschaft mehr gehören. Ihr Zustand
ist nicht zu definieren mit Ungleichheit vor dem Gesetz, da es
für sie überhaupt kein Gesetz gibt; nicht daß sie unterdrückt
sind, kennzeichnet sie, sondern daß niemand sie auch nur zu
unterdrücken wünscht. Ihr Recht auf Leben wird erst im letzten
Stadium eines langwierigen Prozesses in Frage gestellt; nur
wenn sie völlig »überflüssig« bleiben, und sich niemand mehr
findet, der sie reklamiert, ist ihr Leben in Gefahr. Sogar die
Nazis haben die Juden, bevor sie mit der Ausrottung begannen,
erst einmal ihres legalen Status (damals des Status der Staats-
bürgerschaft zweiter Klasse) beraubt, haben sie in Ghettos und
Konzentrationslager gepfercht, sie von der Welt der Lebenden
abgeschnitten. So wurde – und das ist entscheidend – eine
Lage kompletter Rechtlosigkeit hergestellt, bevor das Recht
auf Leben in Frage gezogen wurde.
Das gleiche gilt in einem fast ironischen Sinne bezüglich des
Rechts auf Freiheit, das so oft als die eigentliche Essenz der
Menschenrechte betrachtet wird. Ohne Frage kann sich ein
»Rechtloser« größerer Bewegungsfreiheit erfreuen als ein recht-
/ 759 /
mäßig eingesperrter Verbrecher, und sicherlich genießt ein
Staatenloser in einem Internierungslager einer Demokratie
größere Meinungsfreiheit als die Bürger eines despotisch regier-
ten Landes – von totalitären Staaten ganz zu schweigen. Doch
weder Lebenssicherheit (die praktisch auf Ernährung durch
staatliche oder private Wohlfahrtsorganisationen hinausläuft)
noch Meinungsfreiheit können an der fundamentalen Situation
der Rechtlosigkeit das Geringste ändern. Die Erhaltung des
Lebens verdanken die Rechtlosen der Mildtätigkeit und nicht
einem Recht, denn es existiert kein Gesetz, das die Nationen
zwingen könnte, sie zu ernähren; Bewegungsfreiheit, soweit sie
sie noch haben, ist auf keinerlei Aufenthaltsrecht gegründet,
wie es sogar der eingesperrte Verbrecher selbstverständlicher-
weise noch besitzt; und ihre Meinungsfreiheit erweist sich als
eine Narrenfreiheit, weil das, was sie denken, für nichts und
niemand mehr von Belang ist.
Diese Tatsachen sind von ausschlaggebendem Gewicht. Zuerst
und vor allem findet der Raub der Menschenrechte dadurch
statt, daß einem Menschen der Standort in der Welt entzogen
wird, durch den allein seine Meinungen Gewicht haben und
seine Handlungen Wirksamkeit.*
Etwas viel Grundlegenderes als die Staatsbürgerrechte der
Freiheit und Gerechtigkeit steht also auf dem Spiel, wenn die
Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft, in die man hineingeboren
ist, nicht mehr selbstverständlich und die Nichtzugehörigkeit zu
ihr nicht mehr eine Sache der Wahl ist, oder wenn jemand in
eine Situation versetzt wird, wo – falls er nicht ein Verbrechen
begeht – seine Behandlung durch die andern gar nicht mehr
von dem abhängt, was er tut oder unterläßt.
Daß es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben (und das
heißt: in einem Beziehungssystem zu leben, wo man nach sei-
nen Handlungen und Meinungen beurteilt wird), oder ein
Recht, einer politisch organisierten Gemeinschaft zuzugehören
– das wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen auf-
tauchten, die solche Rechte verloren hatten und sie zufolge der
neuen globalen politischen Situation nicht wiedergewinnen
* Das trat sehr klar zutage, als die Nazis die Juden als Feinde zu behan-
deln begannen, ohne ihnen vorher die Gelegenheit gegeben zu haben, Mei-
nungen zu äußern oder Partei zu nehmen. Daraus ergab sich unmittelbar,
daß die Juden nie als vollwertige Feinde des Nazismus anerkannt wurden,
weil ihr Widerstand nicht klar genug aus Überzeugung und Aktion hervor-
gewachsen schien. Sie waren der Fähigkeit zu beidem beraubt worden.
/760/
konnten. Dieses Übel hatte weder etwas mit Rückständigkeit
noch mit bloßer Tyrannei zu tun; es erwies sich im Gegenteil
nur deswegen bisher als unheilbar, weil es sozusagen keinen
»unzivilisierten« Flecken Erde mehr gibt, weil wir, ob wir wol-
len oder nicht, bereits angefangen haben, in »Einer Welt« zu
leben. Nur bei vollständiger Organisiertheit des Menschenge-
schlechtes konnte der Verlust der Heimat und des politischen
Status identisch werden mit der Ausstoßung aus der Mensch-
heit überhaupt.
Bevor sich dergleichen ereignet hatte, wurde das, was wir heute
als ein »Menschenrecht« zu betrachten gelernt haben, eher als
ein allgemeines Kennzeichen des Menschseins angesehen, das
kein Tyrann rauben könne. Der Verlust des »Rechts auf Rechte«
zieht den Verlust der Relevanz und damit der Realität der
Sprache nach sich (und der Mensch ist seit Aristoteles als ein
Wesen definiert worden, das über die Macht der Sprache und
des Denkens verfügt), und diesem Verlust reiht sich der Verlust
aller menschlichen Beziehungen an (und man hat den Men-
schen, wiederum seit Aristoteles, das »politische Tier« genannt,
das heißt ein Wesen, das durch Gemeinschaft definiert ist) –
mit anderen Worten: hier treten Verluste ein, die einige der
wesentlichsten Eigenschaften menschlichen Lebens betreffen.*
Das Unheil, das eine stets wachsende Anzahl von Menschen
hier befällt, ist also nicht das Verlieren spezifischer Rechte, son-
dern der Verlust einer Gemeinschaft, die gewillt und fähig ist,
ülberhaupt Rechte – welcher Art auch immer – zu garantieren.
Es stellte sich heraus, daß der Mensch alle sogenannten Men-
schenrechte einbüßen kann, ohne seine wesentliche menschliche
Qualität, seine Menschenwürde zu verlieren. Einzig der Ver-
lust der politischen Gemeinschaft ist es, der den Menschen aus
der Menschheit herausschleudern kann.
* Es ist richtig, daß dies in gewissem Grade bereits auf Sklaven zutraf, die
darum von Aristoteles auch nicht unter die Menschen gerechnet wurden.
Doch kann man angesichts der neuesten Erfahrungen behaupten, daß Skla-
ven eher Glieder der menschlichen Gesellschaft waren als die »displaced
persons« eines Internierungslagers oder die Insassen eines Konzentrations-
lagers. Ihre Arbeit wurde gebraucht, genutzt und ausgebeutet, und dadurch
waren sie noch immer in den Rahmen der Menschheit einbezogen. Ein
Sklave sein hieß immerhin, einen bestimmten sozialen Charakter und einen
umschriebenen Platz in der menschlichen Gesellschaft haben.
/ 761 /
III
Diese Beobachtungen nehmen sich aus wie eine verspätete, bit-
tere und ironische Bestätigung der berühmten Argumente, die
Edmund Burke der »Erklärung der Menschenrechte« durch die
Französische Revolution entgegengehalten hat. Nun erst schei-
nen seine Thesen gestützt zu werden, daß es weiser sei, sich auf
eine »überkommene Erbschaft« von Rechten zu verlassen, die
man wie das Leben selbst an seine Kinder weitergibt, und daß
es klüger sei, seine Rechte als »Rechte des Engländers« zu be-
anspruchen denn als unabdingbare Menschenrechte. Die Rechte,
deren wir uns erfreuen, entspringen nach Burke »aus der Na-
tion« und brauchen weder die Gesetze der Natur, noch gött-
liches Gebot noch einen menschlichen Entwurf wie Robespierre’s
»Menschengeschlecht als Souverän der Erde« als Quelle ihrer
Gültigkeit.
Es scheint im Lichte unserer vielfältigen Erfahrungen außer
allem Zweifel, daß Burke’s Konzept pragmatisch richtig ist.
Der Verlust der nationalen Rechte hat nicht nur in allen Fällen
den Verlust der Menschenrechte mit sich gebracht, sondern die
Menschenrechte haben auch, wie das Exempel des Staates Israel
beweist, bisher nur durch Etablierung der nationalen Rechte
wiederhergestellt werden können. Der Begriff der Menschen-
rechte brach genau in dem Augenblicke zusammen, als seine
Bekenner zum ersten Male mit Leuten konfrontiert wurden,
die in der Tät alle anderen besonderen Qualitäten und besonde-
ren Beziehungen eingebüßt hatten, so daß von ihnen nichts
übrig geblieben war als eben Menschsein. Die Welt hat an der
abstrakten Nacktheit des Menschseins an sich nichts Ehrfurcht-
erregendes finden können. Und es ist angesichts der objektiven
politischen Situation auch schwer zu sagen, wie die Begriffe
vom Menschen, auf welche die Menschenrechte sich gründen –
daß er nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen sei (wie die ame-
rikanische Formel sagt) – oder daß er der Repräsentant des
Menschengeschlechts sei oder daß er in sich die heiligen Forde-
rungen des Naturrechts beherberge (wie die französische For-
mel sagt) – zu einer Lösung des Problems hätten verhelfen
können.
Die Überlebenden der Vernichtungslager, die Insassen der
Konzentrations- und Internierungslager, ja selbst die noch
verhältnismäßig glücklichen Staatenlosen bedurften keiner Bur-
ke‘schen Argumente, um einzusehen, daß die abstrakte Nackt-
/ 762 /
heit ihres Nichts-als-Mensch-Seins ihre größte Gefahr war. Die
zivilisierte Welt behandelte sie als unerwünschte Barbaren und
die Gesellschaften, die sich für sie einsetzten, ähnelten in Sprache
und Zusammensetzung nur zu oft Tierschutzvereinen. So be-
standen sie um so heftiger auf ihrer Nationalität, dem letzten
Zeichen ihrer früheren Staatszugehörigkeit, als auf dem letzten
verbliebenen und anerkannten Bande, das sie an die Mensch-
heit knüpfte, je rechtloser sie wurden. Ihr Mißtrauen gegen
Natur- und ihre Bevorzugung nationaler Rechte entspringt ge-
rade ihrer Einsicht, daß natürliche Rechte auch dem Wilden
zugesprochen werden. Schon Burke hatte befürchtet, daß »an-
geborene« Rechte lediglich das Recht des »nackten Wilden«
bestätigen und damit zivilisierte Nationen auf den Stand der
Barbarei herunterziehen würden. Weil der Wilde die einzige
Art Mensch ist, die auf nichts anderes zurückgreifen kann als
auf das nackte Minimum der Tatsache seines menschlichen Ur-
sprungs, gerade deswegen klammern sich Menschen um so ver-
zweifelter an ihre Nationalität, wenn sie die Rechte und den
Schutz verloren haben, die diese ihnen einst gewährte. Denn
einzig ihre Vergangenheit mit ihrer ȟberkommenen Erb-
schaft« scheint ihnen zu bestätigen, daß sie noch der zivilisier-
ten Welt zugehören.
Betrachten wir nochmals und genauer die allgemeinen mensch-
lichen Zustände derer, die aus aller politischen Gemeinschaft
herausgedrängt sind, so gewinnen Burke‘s Argumente noch
erhöhte Bedeutung. Welche Behandlung die Rechtlosen auch
immer erfahren mögen, und ganz unabhängig von Freiheit
oder Unterdrückung, Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit: sie
haben alle jene Bezüge zur WeIt und alle jene Bezirke mensch-
lichen Daseins eingebüßt, die das Ergebnis unserer gemein-
samen Arbeit sind und ausschließlich der von Menschen gebil-
deten Welt entstammen. Wenn die Tragödie wilder Völker-
stämme darin besteht, daß sie in einer unveränderten Natur
wohnen, die sie nicht beherrschen können und von deren Über-
fluß oder Kargheit ihr Lebensunterhalt abhängt, daß sie leben
und sterben, ohne Spuren zu hinterlassen und ohne einen
Beitrag zu unserer gemeinsamen Welt geleistet zu haben, dann
sind die modernen Staaten- und Rechtlosen in der Tat in eine
merkwürdige Art von Naturzustand zurückgeworfen worden.
Sie sind gewiß keine Barbaren, einige von ihnen gehören sogar
den höchst gebildeten Schichten ihrer Länder an – und den-
noch erscheinen sie, inmitten einer Welt, die den Zustand der
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Barbarei fast beseitigt hat, als die ersten Boten einer möglichen
Regression der Zivilisation.
Je höher entwickelt eine Zivilisation ist, je vollständiger die
von ihr geschaffene Welt zur menschlichen Heimat geworden
ist, je mehr die Menschen sich in diesem künstlichen Gebilde zu
Hause fühlen, desto empfindlicher werden sie gegenüber allem,
was sie nicht produziert haben, allem, was auf mysteriöse Weise
ihnen bloß gegeben ist. Ein normales Leben begreift die ganze
Sphäre des Privatlebens in sich, innerhalb derer wir uns durch
Freundschaft, Sympathie und Liebe mehr oder minder zuläng-
lich mit dem bloßen Geschenk menschlicher Existenz abfinden
können. Seit den Griechen ist uns bekannt, daß ein hochent-
wickeltes politisches Leben ein eingewurzeltes Mißtrauen gegen
diese ganze private Sphäre mit sich bringt, einen tiefen Groll
gegen das aufstörende Wunder der Tatsache, daß ein jeder
von uns gemacht ist wie er ist – einzig, einzigartig und unab-
änderlich. Dieser ganze Bereich des nur Gegebenen, der inner-
halb der zivilisierten Gesellschaft auf die Sphäre des Privat-
lebens verwiesen ist, stellt eine permanente Bedrohung der
öffentlichen Sphäre dar, denn die öffentliche Sphäre ist auf das
Gesetz der Gleichheit ebenso fest gegründet wie die private auf
das Gesetz der Verschiedenheit und Unterscheidung. Gleich-
heit ist uns nicht gegeben, sondern wird durch eine vom Prin-
zip der Gerechtigkeit geleitete menschliche Organisation pro-
duziert. Als Gleiche sind wir nicht geboren, Gleiche werden
wir als Mitglieder einer Gruppe erst kraft unserer Entschei-
dung, uns gegenseitig gleiche Rechte zu garantieren. Hochent-
wickelte politische Gemeinwesen wie die antiken Stadtstaaten
oder die modernen Nationen dringen deshalb so oft auf eth-
nische Gleichförmigkeit, weil sie hoffen, damit jene natürlichen
und stets gegenwärtigen Verschiedenartigkeiten und Unter-
scheidungen auszuschalten, die aus sich selbst dummen Haß,
Mißtrauen und Diskriminierung erzeugen. Diese Differenzen
bezeugen nur allzu klar eine Sphäre, wo der Mensch nicht han-
deln und nicht verändern kann, und zeigen damit die Grenzen
der menschlichen Macht an. Wo immer aber das öffentliche Le-
ben mit seinem Gesetz der Gleichheit zu einem absoluten Siege
gelangt, wo eine Zivilisation den dunklen Hintergrund der
Differenziertheit erfolgreich ausscheidet oder auf ein Minimum
reduziert, da wird sie in Versteinerung enden, gleichsam zur
Strafe dafür, daß sie vergessen hat, daß der Mensch lediglich
der Herr, nicht aber der Schöpfer der Welt ist.
/ 764 /
Wenn Menschen gezwungen werden, außerhalb der gemein-
samen Welt zu leben, so sind sie auf ihre natürlichen Gegeben-
heiten, auf ihre bloße Verschiedenartigkeit zurückgeschleudert.
Der große Gleichmacher aller Unterschiede fehlt ihnen, der
Status der Staatsbürgerschaft in einem Gemeinwesen; trotzdem
mögen sie, da ihnen keinerlei Teilhabe am menschlichen Ge-
bilde mehr verstattet ist, bald der Menschenrasse in derselben
Weise zugehören wie ein Tier einer bestimmten Tierart. Im
Verlust der Menschenrechte liegt das Paradox, daß der Mo-
ment ihres Verlustes zusammenfällt damit, daß ein Mensch so-
wohl zu einem abstrakten Menschenwesen überhaupt wird –
ohne Beruf, ohne Staatszugehörigkeit, ohne Meinung, ohne
Leistungen, durch die er sich identifizieren und spezifizieren
könnte – als auch zu einem abstrakten Unterschiedenen über-
haupt, der nicht mehr darstellt als seine eigene, absolut einzig-
artige Individualität, die aber jegliche Bedeutung verloren
hat, weil sie in keine gemeinsame Welt mehr hineinhandeln
oder sich in ihr zum Ausdruck bringen kann.
Die Existenz solch einer Kategorie von Menschen birgt eine
zweifache Gefahr. Erstens stellt offensichtlich ihre erzwungene
abstrakte Existenz, ihre Unverbundenheit mit der Außenwelt,
eine ständige Versuchung für Mörder dar und bedroht uns
obendrein mit einer Abstumpfung unseres Gewissens. Denn es
könnte geschehen, daß es uns – ähnlich jenem neuen Typ von
Mördern – gar nicht mehr recht ins Bewußtsein dringt, daß
überhaupt ein Mensch ermordet worden ist, wenn er praktisch
vorher bereits aufgehört hat zu existieren. Zweitens wird durch
das ständige Anwachsen der Zahl der Rechtlosen unser mensch-
liches Gebäude, unser politisches Leben, in sehr ähnlicher und
vielleicht noch erschreckenderer Weise bedroht, als einst die
Naturelemente die Städte der Menschen bedrohten. Es ist un-
wahrscheinlich geworden, daß der Zivilisation noch von außen
her eine tödliche Gefahr erwachsen könnte. Die Natur ist ge-
meistert, und keine Barbaren drohen, wie ehemals etwa die
Mongolen, alles das zu vernichten, was sie nicht verstehen.
Sogar das Heraufkommen totalitärer Regierungen ist nicht ein
Phänomen, das von außen an unsere Zivilisation herantritt,
sondern es wächst direkt aus ihr hervor. Es besteht aber die
Gefahr, daß eine globale, durchgängig untereinander verbun-
dene Zivilisation aus ihrer eigenen Mitte Barbaren fabriziert,
indem Millionen von Menschen in Lebensumstände versetzt
/ 765 /
werden, die, entgegen allem Anschein, die Lebensumstände
von Barbaren sind.
IV
Der Begriff der Menschenrechte kann aufs neue sinnvoll wer-
den, wenn er im Lichte gegenwärtiger Erfahrungen und Um-
stände formuliert wird. Gründlicher noch als Burke haben wir
erfahren müssen, daß alle Rechte sich nur innerhalb eines ge-
gebenen politischen Gemeinwesens realisieren, daß sie von
unseren Mitmenschen und von einer stillschweigenden Garan-
tie abhängen, die die Mitglieder eines Gemeinwesens einander
geben. Aber wir wissen auch, daß es noch ein anderes Recht
geben muß außer jenen sogenannten »unveränderlichen« Men-
schenrechten – die eigentlich doch nur Staatsbürgerrechte sind
und sich nach historischen und anderen Umständen ändern –
ein Recht, das nicht »aus der Nation« entspringt und das einer
anderen Garantie bedarf als der nationalen, nämlich das Recht
jedes Menschen auf Mitgliedschaft in einem politischen Ge-
meinwesen.
Man sollte sich hüten, dieses Recht, das unter den Menschen-
rechten niemals auch nur erwähnt wurde, weiterhin in den
Kategorien des 18. Jahrhunderts zu definieren. Nicht zuletzt
deshalb ist die ganze Frage der Menschenrechte in ihre heutige
Konfusion geraten, aus der sich philosophisch so absurde und
politisch so unrealisierbare Ansprüche ergeben wie der, daß
jeder Mensch mit dem unverlierbaren Recht auf Arbeitslosen-
unterstützung und Altersversicherung geboren sei. Rechte exi-
stieren nur auf Grund der Vielzahl der Menschen; Rechte
haben wir nur, weil wir die Erde zusammen mit anderen
Menschen bewohnen, während sowohl das göttliche Gebot, ge-
stützt darauf, daß der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen
sei, wie auch das Naturrecht, hergeleitet aus der menschlichen
»Natur«, auch dann wahr bleiben müßten, wenn es nur einen
einzigen Menschen auf der Welt gäbe.
Als die Menschenrechte zum ersten Male proklamiert wurden,
galten sie als unabhängig von der Geschichte und von den
Privilegien, die die Geschichte gewissen Schichten der Gesell-
schaft zugespielt hatte. Sie zeigten im Sinne des 18. Jahrhun-
derts an, daß der Mensch von der Geschichte, die ihn am Gän-
gelband der Tradition erzogen hatte, unabhängig geworden,
daß er ins Zeitalter seiner Mündigkeit eingetreten sei. Diese
neue Würde war von Anfang an recht fragwürdiger Art.
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Historische Rechte wurden durch natürliche Rechte ersetzt, »Na-
tur« an die Stelle der Geschichte geschoben. Dabei war still-
schweigend vorausgesetzt, daß die Natur dem Wesen des Men-
schen weniger fremd sei als die Geschichte. Schon die Termino-
logie der Declaration of Independence und der Déclaration
des Droits de l‘Homme (»unabdingbar«, »mit der Geburt ge-
geben«, »axiomatische Wahrheiten«) schließt den Glauben in
sich an eine Natur des Menschen, die den gleichen Wachstums-
gesetzen unterliege wie das Individuum, und von der des Men-
schen Rechte und Gesetze abgeleitet werden sollten. Niemand
konnte natürlich voraussehen, daß diese menschliche »Natur«,
die zweitausend Jahre lang von der Philosophie definiert und
interpretiert worden war, unbekannte und ungeahnte Mög-
lichkeiten enthalten könnte, oder daß der Mensch die Natur
eines Tages soweit in seine Gewalt bekommen würde, daß
eine Zerstörung der Erde durch menschliche Instrumente min-
destens möglich werden könnte, noch daß das Resultat eines
tieferen Wissens von der Natur gerade der Zweifel an der
Existenz von Naturgesetzen überhaupt sein würde.
Der Mensch des 20. Jahrhunderts ist von der Natur genau so
emanzipiert, wie der Mensch des 18. Jahrhunderts von der Ge-
schichte emanzipiert war. Geschichte wie Natur sind uns fremd
geworden, das Wesen des Menschen ist mit ihnen nicht mehr
zu erfassen. Weder Geschichte noch Natur bieten uns ein um-
fassendes Ganzes, in dem wir uns geistig zu Hause fühlen
könnten. Andererseits aber ist die Menschheit, die dem Men-
schen des 18. Jahrhunderts nicht mehr als ein Begriff und ein
Ideal war, für uns zu einer harten und unausweichlichen Tat-
sache geworden; die Völker sind nicht mehr durch Raum und
natürliche Hindernisse und die damit verknüpften unübersteig-
lichen geistigen Wälle von Geschichte und Kultur getrennt.
Diese neue Situation, in der ‚die Menschheit’ faktisch die Rolle
zu spielen beginnt, die früher der Natur oder der Geschichte
zugeschrieben war, hat zur unmittelbaren Folge, daß jene fak-
tische Mitverantwortlichkeit, die die Mitglieder jedes natio-
nalen Gemeinwesens für die in ihrem [sic] Namen begangenen Ta-
ten oder Untaten tragen, sich nun in die Sphäre des inter-
nationalen Lebens hinein zu erstrecken beginnt. Die Völker
der Welt haben ein undeutliches Vorgefühl dieser neuen
Bürde und fliehen vor ihr in einen Nationalismus, der um so
gewaltsamer ist, als seine Intentionen ständig vereitelt werden.
Die Völker fühlen, daß sie Gefahr laufen, für Sünden »be-
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straft« zu werden, die auf der anderen Seite des Globus be-
gangen worden sind, hatten aber noch nicht viel Gelegenheit
zu lernen, daß gleichermaßen jeder anderswo gemachte rich-
tige Schritt ihnen ebenfalls zugute kommen wird.
Das Heraufkommen der Menschheit als einer politischen Ein-
heit schafft eine Situation, in welcher der von Justice Jackson
in den Nürnberger Prozessen aufgestellte Begriff des »Ver-
brechens an der Menschheit« zur grundlegenden Idee des inter-
nationalen Rechts wird. Doch muß man begreifen, daß das in-
ternationale Recht mit diesem Gedanken seine gegenwärtige
Sphäre überschreitet, denn diese hat es nur mit Gesetzen und
Abkommen zu tun, welche in Frieden und Krieg den Verkehr
souveräner Nationen regeln, und in die Sphäre einer Gesetz-
lichkeit hinübertritt, die über den Nationen steht. Diese neue
Art von Gesetzgebung kann Vergehen wie Angriffskriege, kri-
minelle Kriegführung, Vertragsbrüche und Unterdrückung des
eigenen oder fremder Völker unter den gegenwärtigen Um-
ständen nicht zu ihrem Gegenstande machen. Allen derartigen
Überschreitungen wird man in Zukunft ebenso begegnen müs-
sen, wie es in der Vergangenheit geschah, nämlich durch ver-
einte Aktion der betroffenen Nationen; sie können im gegen-
wärtigen Rahmen politischer Organisation und unter der Vor-
aussetzung der staatlichen Souveränität schwerlich anders als
durch internationale oder gegenseitige Verträge und Bünd-
nisse für ungesetzlich erklärt werden. Diese Vergehen greifen
die Rechte von Staatsbürgern an, Staatsbürgerrechte des eige-
nen oder eines fremden Gemeinwesens, die wiederum von
Staatsbürgern, in Nationen oder Parteien organisierten Staats-
bürgern, verteidigt werden müssen; solche Vergehen richten
sich nicht eigentlich gegen die Menschenrechte. Denn der Mensch
hat rein als Mensch nur ein einziges Recht, das über alle seine
verschiedenartigen Rechte als Staatsbürger hinausgeht: das
Recht, niemals seiner Staatsbürgerschaft beraubt zu werden,
das Recht, niemals ausgeschlossen zu werden von den Rechten,
die sein Gemeinwesen garantiert. (Eine solche Ausschließung
liegt nicht vor, wenn er ins Gefängnis gesperrt, wohl aber,
wenn er ins Konzentrationslager gesteckt wird.) Nur die Aus-
schließung vom Gemeinwesen überhaupt stößt den Menschen
aus jenem gesamten Bereich der Legalität, worin Rechte aus
den gegenseitigen Garantien entspringen, die sie allein sichern
können.
Totalitäre Regierungen haben das ‚Verbrechen gegen die
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Menschheit‘ sozusagen zu ihrer Spezialität gemacht. Es wird
auf lange Sicht eher schaden als nützen, wenn wir diese oberste
und einzig dastehende Art von Verbrechen mit einer ganzen
Reihe von anderen Verbrechen zusammenbringen, die von to-
talitären Regierungen ebenfalls unterschiedslos begangen wer-
den, wie etwa Ungerechtigkeit und Ausbeutung, Raub der
Freiheit und politische Unterdrückung. Derartige Verbrechen
sind in allen Arten von Tyranneien und Despotien gebräuch-
lich und werden schwerlich je als genügend befunden werden,
um eine Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen
Landes zu rechtfertigen. Sowjetrußlands aggressive und im-
perialistische Außenpolitik hat sich Verbrechen gegen viele
Völker zuschulden kommen lassen, und das ist gewiß eine An-
gelegenheit, die die ganze Welt angeht; dennoch bleibt die
Sache Gegenstand gewöhnlicher Außenpolitik im internatio-
nalen Maßstabe und kann nicht zur Sorge der Menschheit als
solcher, nicht zum Gegenstand eines möglichen Rechts über den
Nationen werden. Die Konzentrationslager totalitärer Staaten
dagegen, in denen Millionen von Menschen sogar der zweifel-
haften Vorteile der Gesetze ihres eigenen Landes beraubt sind,
könnten und sollten zum Gegenstand einer Aktion werden,
die die Rechte und Regeln der Souveränität nicht mehr respek-
tiert.
Dem einen Verbrechen gegen die Menschheit steht das eine
Menschenrecht gegenüber. Um die Bill of Rights of the United
Nations* und ihrer [sic] auffälligen Mängel an Wirklichkeitssinn
zu verteidigen, hat man zuweilen damit argumentiert, daß die
bloße Aufzählung von Rechten dazu diene, die Gesetzgebung
reaktionärer Länder anzuspornen. Dieses Argument wäre von
noch größerer Gültigkeit, wenn die Bill of Rights nicht den
Anspruch erhöbe, der legale Ausdruck der Menschenrechte zu
sein. In der Tat könnten sich aus der Aufstellung und Aufzäh-
lung existierender Rechte große Vorteile ergeben, und diese
könnten recht wohl zu den Segnungen zählen, die sich aus der
wachsenden Verbundenheit der Nationen untereinander er-
geben werden. Doch ebenso klar ist die Gefahr des Anspruchs,
daß alle diese Rechte nicht mehr und nicht weniger seien als
die Verkörperung der Menschenrechte selbst: eines könnte uns
dieser Schmelztiegel von Rechten höchst heterogener Art und
Herkunft nur zu leicht übersehen und vernachlässigen lassen,
* Siehe Heft 4 des III. Jahrgangs dieser Zeitschrift, Seite 851 und folgende.
Übersetzung der Entwürfe der UN-Kommission.
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nämlich dieses eine Recht, ohne das keines von all den anderen
Rechten realisierbar ist, das Recht, einem politischen Gemein-
wesen zuzugehören.
Gleich allen anderen Rechten kann auch dieses eine Menschen-
recht nur durch gegenseitige Vereinbarung und Garantie sich
realisieren. Als Recht der Menschen auf Staatsbürgerschaft
transzendiert es aber die Rechte des Staatsbürgers und ist so-
mit das einzige Recht, das von einer Gemeinschaft der Natio-
nen, und nur von ihr, garantiert werden kann.
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